Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz
doi.org/10.36950/edv-mem-2023.1
Niklaus Ingold

Künstliche Hüftgelenke, vernetzte Orthopäden und die Entstehung der Medizintechnikindustrie

Zum Gegenstand der Interviews

Ein künstliches Hüftgelenk ist idealerweise ein stummer Vermittler von Kräften, der anstelle beschädigter Knochen zum schmerzfreien Funktionieren des menschlichen Bewegungsapparats beiträgt. Erfüllt ein Gelenkersatz diese Aufgabe zuverlässig, gerät seine Anwesenheit vielleicht in Vergessenheit, sicher aber bleibt der ganze Aufwand unbemerkt, der in einem solchen Stück Medizintechnik steckt. Die Wissenschaftsforschung spricht in diesem Fall von Blackboxing: Der Erfolg macht die Entwicklungsarbeit, die den Gelenkersatz hervorgebracht hat, unsichtbar.1

Ganz anders, wenn die Endoprothese die Erwartungen nicht erfüllt, wenn Schmerzfreiheit und Beweglichkeit ausbleiben. Dann geht die Fehlersuche los und all die Probleme, die gerade noch als gelöst gegolten haben, kommen wieder auf den Tisch: Stimmt die Platzierung der Komponenten im Körper? Haben sie sich gelockert? Ist der Prothesenschaft gebrochen? Ist es zu einer Infektion gekommen? Bereitet der verwendete Zement Probleme? Lassen sich Verschmutzungen feststellen? Zerstört starke Reibung das Kunstgelenk? Oder schadet das Prothesenmaterial dem Körper?

Wer die Fehlersuche beobachtet, sieht sich einer wachsenden Komplexität gegenüber. Menschen treten auf, die Ziele teilen, Wissen und Fähigkeiten austauschen und verschiedenste Techniken einsetzen, um künstliche Gelenke zu Imitatoren von Gewebefunktionen zu machen. Ins Blickfeld geraten der Operateur, das medizinische Personal im Operationssaal und dessen technische Ausstattung, die Materialwissenschaftler und die Reibungsingenieure, welche robuste und für den Körper ungefährliche Metalllegierungen entwickeln und den Abrieb zwischen den Gelenkkomponenten zu minimieren versuchen, die Produktionsleiter und Manager, die Serienproduktionen ermöglichen und Marktanteile gewinnen wollen, sowie die Prothesenerfinder, also Ärzte, die überhaupt an die Machbarkeit und die medizinische Zweckmässigkeit eines künstlichen Gelenkersatzes glauben.

In der Geschichte künstlicher Hüftgelenke traten Krisen, die zur Fehlersuche aufboten, immer wieder auf. Akteure sprachen von einer «trial-and-error culture».2 Die Erzeugnisse dieser Kultur hatten es jedoch von Beginn an in sich. Frühe Endoprothesenmodelle aus den 1960er-Jahren funktionierten bei sorgfältig ausgewählten Hüftkranken ausreichend zuverlässig, um zwischen dem Leben mit einem verschleissten Hüftgelenk, einer Arthrose, und dem Leben mit einer Prothese einen grossen Unterschied zu machen.3 Dieser Erfolg richtete das medizinische Fachgebiet der Prothesenerfinder, die Orthopädie, völlig neu aus. Die Historikerin Mariama Kaba schreibt zu dessen Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: «Jusqu’alors principalement orientée vers le traitement des difformités congénitales ou des séquelles d’accidents, elle se spécialise de plus en plus dans le remplacement total des articulations.»4

Implantierten Ärzte in den 1960er- und 1970er-Jahren künstliche Hüftgelenke nur bei älteren Menschen im Ruhestand, senkten sie in den 1980er-Jahren die Altersgrenze. Gegenwärtig implantieren orthopädische Chirurgen und – seltener – Chirurginnen5 in der Schweiz pro Jahr durchschnittlich 20 100 neue Hüftgelenke hauptsächlich bei Menschen im Alter zwischen 55 und 84 Jahren. Zudem ersetzen sie im Hüftbereich pro Jahr durchschnittlich rund 1100 Kunstgelenke, die weniger als zehn Jahre alt sind, und 1500 Prothesen, die älter als zehn Jahre sind.6

Die Entstehung dieser Medizin des Gelenkersatzes ging einher mit dem Aufbau eines Industriezweigs, den es bis in die 1970er-Jahre so nicht gegeben hatte. Erst jetzt wurden Entwicklung, Produktion und Verkauf medizinischer und zahnmedizinischer Instrumente, Geräte und Implantate auf eine Art und Weise organisiert, dass von einer eigenen Branche – der Medizintechnikindustrie – die Rede sein kann.7 Ein Milliardenmarkt entstand. In der Schweiz ist die Orthopädie für die Entwicklung der Medizintechnikbranche von besonderer Bedeutung. Nicht nur formierte sich um orthopädische Produkte herum ein leistungsfähiges Schweizer Medizintechniknetzwerk, auch gehören orthopädische Implantate und Instrumente in der Gegenwart zu den wichtigsten Exportgütern der Schweizer Medizintechnikindustrie.

Dieses Buch eröffnet über die Transkripte von Zeitzeugenbefragungen einen Zugang zur Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen Medizin und Wirtschaft in jenen dreissig Jahren zwischen 1960 und 1990, in denen das Einsetzen künstlicher Gelenke zu einem Routineeingriff und das Geschäft mit Medizintechnik zu einer Industrie wurde. Wie hat man sich im Detail das Zusammenführen des Know-hows unterschiedlicher Experten, von Medizinern, Materialwissenschaftlern, Konstrukteuren und Produktionsleitern, vorzustellen? Wie machten die Endoprothesenpioniere Behandlungsversuche zu Routinen? Wie fanden sie Kolleginnen und Kollegen, die ihre Methoden aufgriffen? Wie bildeten sie Ärztinnen und Ärzte in der neuen Behandlungsmöglichkeit aus? Wie wurde mit Misserfolgen umgegangen? Wie entwickelten sich die Firmen, mit denen die Prothesenerfinder zusammenarbeiteten?

Indem das Buch Personen zu Wort kommen lässt, die in unterschiedlichen Funktionen an der Etablierung der Hüftgelenkprothetik mitwirkten, liefert es eine Vielfalt an Perspektiven für das Funktionieren jenes Netzwerks, das künstliche Hüftgelenke zu einer weitverbreiteten Behandlungsmethode machte, aber in den Objekten gleichsam verschwindet. Als Kriterium zur Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner hat der Kontakt zu einem von drei Schweizer Pionieren des Hüftgelenkersatzes gedient: Maurice E. Müller (1918–2009), auch bekannt unter der Abkürzung «MEM».

Müller implantierte im Februar 1961 zum ersten Mal auf dem europäischen Festland einer Patientin eine Hüftgelenkendoprothese aus Metall und Kunststoff. Schauplatz war das Kantonsspital St. Gallen, wo Müller die Orthopädisch-traumatologische Abteilung der Chirurgischen Klinik leitete, bevor er 1963 Professor in Bern und Klinikdirektor am Inselspital wurde. Dort galt er als der «bekannteste europäische Orthopäde».8 Seine im Jahr 1967 gegründete Protek AG – das Akronym steht für «Prothesen-Technik» – stieg zu einer der marktbeherrschenden Firmen im Hüftsegment auf. Gemäss einem internen Bericht hielt die Protek AG im Jahr 1986 einen Anteil von knapp dreissig Prozent am Weltmarkt für Hüftgelenkendoprothesen.9

Konkurrenz hatte die Protek AG unter anderem durch die Allo Pro AG, zu deren Gesellschaftern die beiden anderen Schweizer Pioniere des Hüftgelenkersatzes gehörten: Arnold Huggler (1927–1999), von 1967 bis 1992 leitender Arzt der Orthopädischen Abteilung am Rhätischen Kantons- und Regionalspital Chur (heute: Kantonsspital Graubünden), und Bernhard G. Weber (1927–2002), langjähriger Oberarzt von Müller und Nachfolger in St. Gallen. Zu den Zulieferern beider Vertriebsgesellschaften zählte die Gebrüder Sulzer AG aus Winterthur. Dieses Unternehmen kaufte Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre die Allo Pro AG und die Protek AG und baute durch weitere Akquisitionen die zeitweise grösste Orthopädiefirma Europas auf: Sulzer Medica.10

Nachfolgende Ausführungen stellen anhand der bestehenden medizinhistorischen Forschungsliteratur die wichtigsten Akteure vor, die in den Transkripten der Zeitzeugenbefragungen erwähnt sind, und ordnen ihre Aktivitäten in die Entwicklung der Schweizer Medizintechnikindustrie ein. Sie schlagen den Bogen von der Vorgeschichte des Einstiegs der Schweizer Orthopädie in die Endoprothetik bis zur Reorganisation der Orthopädiefirmen um das Jahr 1990 herum und bis zum damit einhergehenden Rückgang der ärztlichen Kontrolle über das Geschäft mit Endoprothesen. Die Funktionen einzelner Auskunftspersonen werden angesprochen. Ausführliche biografische Angaben enthält der Anhang.11

Durchbruch in Grossbritannien

Die medizinhistorische Forschung betrachtet die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in Abhängigkeit des medizinischen Wandels, der während des Zweiten Weltkriegs einsetzte. Antibiotika, die routinierte Anwendung von Bluttransfusionen, eine verbesserte Anästhesie und bisher unbekannte Möglichkeiten zur Behandlung von Schockzuständen schufen neue Rahmenbedingungen für die medizinische Praxis.12 Chirurgen wagten ehrgeizige Eingriffe. Gleichzeitig änderten sich die Probleme, denen die Medizin in Westeuropa und Nordamerika gegenüberstand. Die Häufigkeit von Infektionskrankheiten nahm ab, Armut verlor als Krankheitsursache an Bedeutung und die verschiedenen Erscheinungsformen der Tuberkulose, deren Behandlung bis dahin viele Ressourcen gebunden hatte, liessen sich neuerdings mit wirksamen Medikamenten therapieren. Unter diesen Bedingungen fiel die Behandlung von Gelenk- und Knochentuberkulose aus dem Zuständigkeitsbereich orthopädischer Chirurgen heraus. Die Neuausrichtung des Fachgebiets setzte ein.

Abb. 1. Das erste Hüftgelenkimplantat mit einer grösseren Verbreitung war die Gelenkkappe von Marius Smith-Petersen, auf dem Bild in einer Metallausführung aus dem Jahr 1951. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 14802

Bekanntermassen versuchten Ärzte bereits im 19. Jahrhundert, schmerzende Hüftgelenke mit Implantaten zu behandeln. Noch entstanden jedoch keine Routineoperationen. Ohne wirksame Antibiotika bargen chirurgische Eingriffe und das Einsetzen von Fremdkörpern in den menschlichen Organismus eine hohe Infektionsgefahr. Operierten Chirurgen bei sehr schmerzhaften Arthrosen dennoch, bezweckte der Eingriff die künstliche Versteifung des Hüftgelenks, eine sogenannte Arthrodese, oder das Entfernen des Oberschenkelkopfes, um den Stumpf – noch ohne Implantat – zur Gelenkkomponente zu machen. Auf diese Weise blieb der kranken Person bestenfalls ein gewisses Mass an Beweglichkeit erhalten.

Das erste Implantat mit grösserer Verbreitung war eine Entwicklung der 1920er- und 1930er-Jahre, eine Gelenkkappe, die der Chirurg Marius Smith-Petersen (1886–1953), Professor an der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts, zuerst aus Glas, später aus einer Kobalt-Chrom-Legierung herstellen liess. Er setzte sie als Zwischenstück zwischen Oberschenkelkopf und Hüftknochen ein – ohne Knochensubstanz zu entfernen. Die 1940er- und 1950er-Jahre waren dann geprägt durch das Experimentieren mit neuen Werkstoffen und Designs für Oberschenkelprothesen. Bekannte Implantate entwickelten Austin Moore (1899–1963) in South Carolina zusammen mit Harold Bohlman (1893–1979) in Baltimore sowie Frederick Thompson (1907–1983) in New York und die Brüder Robert (1909–1980) und Jean (1905–1995) Judet in Paris.

Abb. 2. Ersatz für den Hüftkopf am Oberschenkelknochen ging der Entwicklung vollständiger Kunstgelenke voraus: Halbprothese von Austin Moore und Harold Bohlman aus dem Jahr 1951. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 14801
Abb. 3. Der pilzförmige Halbersatz der Brüder Judet in einer Ausführung aus dem Jahr 1946. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 14799

Aus den Arbeiten von Moore, Bohlman und Thompson gingen Oberschenkelprothesen hervor, die in die Markhöhle des Oberschenkelknochens einzusetzen waren und den Winkel des Oberschenkelhalses imitierten. Orthopädinnen und Orthopäden implantieren die nach Moore und Thompson benannten Teilprothesen auch sechzig Jahre nach ihrer Entwicklung noch, wenn sie bei intakten Gelenkpfannen nur die Oberschenkelkomponente des Hüftgelenks ersetzen wollen. Überholt ist hingegen die Prothese der Gebrüder Judet. Die Franzosen propagierten ein pilzförmiges Design, bei dem der Stiel durch den Oberschenkelhals geführt wurde.

Die Entwicklung von kompletten Hüftgelenken mit Gelenkpfannen und Oberschenkelprothesen forcierten britische Mediziner vor allem ab den 1950er-Jahren. In Grossbritannien kam nach dem Zweiten Weltkrieg zum medizinischen Wandel die politische Reorganisation des Gesundheitswesens durch die Labour-Regierung hinzu. Die Einführung des National Health Service (NHS) im Jahr 1948 verschaffte der gesamten Bevölkerung Zugang zu kostenlosen medizinischen Dienstleistungen und eröffnete vom Staat entlohnten Spitalärztinnen und -ärzten Spielräume, um neue Behandlungen zu entwickeln. Mehrere orthopädische Chirurgen begannen in diesem Umfeld, mit Prothesen für beide Teile des Hüftgelenks zu experimentieren.

In Norwich schloss Kenneth McKee (1906–1991) an die Arbeiten seines Lehrers Philip Wiles (1899–1966) an. Dieser hatte im Jahr 1938 am Londoner Middlesex Hospital zum ersten Mal ein Hüftgelenk komplett durch Komponenten aus Metall ersetzt, der Zweite Weltkrieg hatte jedoch die weitere Erprobung seines Ansatzes unterbrochen. Ebenfalls an einer Metall-Metall-Kombination tüftelte Peter Ring (1922–2018) in Redhill im County Surrey. Am erfolgreichsten und für die Entwicklung der Endoprothetik in der Schweiz am wichtigsten war jedoch John Charnley (1911–1982).

Abb. 4. Die Originalprothese von John Charnley, gefertigt aus rostfreiem Stahl mit einem Gelenkkopf von 22 Millimetern im Durchmesser und einer Gelenkpfanne aus dem Kunststoff Polyethylen. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 14794
Abb. 5. John Charnley machte das Wrightington Hospital im Nordwesten Englands Ende der 1950er-Jahre zum bedeutenden Endoprothesenlabor. Im Jahr 1970 zeigte er einer Delegation aus der Schweiz seinen Operationssaal. Foto: M. K. Semlitsch

Charnley arbeitete im Nordwesten Englands. Er hatte in Manchester Medizin studiert und sich während des Zweiten Weltkriegs als Militärarzt für orthopädische Probleme zu interessieren begonnen. Nach dem Krieg befasste er sich in Manchester mit der Behandlung von Knochenbrüchen und mit Operationen zur Versteifung des Hüftgelenks. Zur Entwicklung von Hüftgelenkendoprothesen kam er über Reibungsprobleme bei den älteren Halbprothesen der Judet-Brüder. 1956 begann Charnley die Suche nach einer geeigneten Metall-Kunststoff-Kombination, um den Kopf des Oberschenkelknochens und die Gelenkpfanne im Hüftknochen zu ersetzen.

Mit der Unterstützung seines Chefs in Manchester startete Charnley am nahen Wrightington Hospital ein Hüftgelenkprogramm. Zwischen Manchester und Liverpool gelegen, war das Wrightington Hospital über Jahrzehnte ein Zentrum für die chirurgische Behandlung von Knochen- und Gelenktuberkulose gewesen. Charnley machte es zum Endoprothesenlabor. Nebst einem ersten zuverlässigen Hüftgelenksystem entwickelte er mit seinem Team auch Einrichtungen für den Operationssaal, die durch die Kontrolle der Luftströme die Infektionsgefahr senkten. Prototyp war das sogenannte «greenhouse», ein Zelt mit Luftzufuhr, das über dem Operationstisch aufgeschlagen wurde.

Charnleys Durchbruch in der Endoprothetik kam jedoch erst nach einem grossen Fehlschlag. In Wrightington setzte er bis 1960 dreihundert künstliche Hüftgelenke mit einer Oberschenkelprothese aus rostfreiem Stahl im Stil von Moore und einer Gelenkpfanne aus Teflon ein. Um die Kraftübertragung der Prothese auf den Oberschenkelknochen zu optimieren, zementierte er den Prothesenstiel in der Markhöhle mit einem in der Zahnmedizin gebräuchlichen Kitt ein. Die meisten dieser Prothesen, 95 Prozent, musste Charnley wieder herausnehmen, weil die Reibung zwischen den Komponenten die Teflonpfanne zerstörte.

Abb. 6. John Charnley und Maurice E. Müller – beide im Vordergrund mit «Helm» – implantierten im Jahr 1970 in Wrightington gemeinsam ein künstliches Hüftgelenk. Als Operateure befanden sie sich im Greenhouse, einer luftdurchströmten Kabine, während die Gäste die Operation durch die durchsichtige Wand mitverfolgten. Foto: M. K. Semlitsch

Die Lösung für dieses Problem fand sein technischer Assistent, der Mechaniker Harry Craven (1928–2007), Anfang 1961, nachdem ihm ein Verkäufer Proben eines neuen Plastiks, Polyethylen hoher Dichte, angeboten hatte. In seiner Versuchsanordnung – Craven benutzte unter anderem die Kipphebelwelle seines Autos als Testgerät – nutzte der Edelstahlkopf der Prothese Pfannen aus Polyethylen nur um einen Bruchteil eines Inch ab, während am Prothesenkopf selbst gar kein Abrieb feststellbar war. Mit dieser Materialkombination, rostfreiem Stahl und Polyethylen, erreichte Charnley sein Ziel einer «low friction arthroplasty». Zur Serienproduktion wandte er sich an die Firma Chas F. Thackray and Sons. Der kleine Betrieb in Leeds, Yorkshire, fertigte bereits Instrumente für ihn.

Wissens- und Technologietransfers

Wie kam diese neue Medizintechnik in die Schweiz? Objekte wie künstliche Hüftgelenke wandern nicht aufgrund einer einmal erklärten Nützlichkeit durch Raum und Zeit. Es braucht Menschen, die sie aufgreifen und für eigene Ziele verwenden.13 Im Fall der künstlichen Hüftgelenke wurde solches Weitergeben durch eine Vorsichtsmassnahme Charnleys behindert.

Charnley versuchte anfänglich, den Kreis der Personen, die seine neue Technik einsetzten, klein zu halten. Produzent Thackray durfte die Hüftgelenkendoprothesen nur an Mediziner verkaufen, die in Wrightington in der Operation geschult worden waren.14 Denn Charnley sah den Erfolg seiner Endoprothese genauso in Abhängigkeit von der Operationstechnik wie von den verwendeten Materialien, dem Design und der Auswahl der Hüftkranken – er implantierte seine Endoprothesen nur Personen über 65 Jahre, die weniger aktiv waren als jüngere Menschen und ihre neuen Hüften entsprechend weniger belasteten. Indem Charnley eine zunächst zweiwöchige, später zweitägige Schulung zur Voraussetzung des Verkaufs machte, wollte er verhindern, dass Operateure beim Einsetzen einer Wrightingtoner Endoprothese anders vorgingen als er.

Dass die Reputation einer Behandlung von ihrer kompetenten Anwendung abhing, war eine Lektion, die orthopädische Chirurgen noch vor dem Ersten Weltkrieg bei der Knochenbruchbehandlung gelernt hatten.15 Charnleys Beharren auf einer persönlichen Einführung passte aber auch zur älteren Auffassung, dass die Vermittlung von chirurgischem Können nicht allein durch Sprache gelingen könne. Schon im 19. Jahrhundert massen Vertreter der akademischen Chirurgie implizitem, nicht verbalisierbarem Wissen eine hohe Bedeutung für ihr Fach zu. Um eine neue Fertigkeit oder Operation zu erlernen, galt das Beobachten eines Lehrers als unabdingbar.

Der Historiker Thomas Schlich hat aufgezeigt, wie diese Komponente in der Vermittlung chirurgischer Fähigkeiten vor dem Ersten Weltkrieg eine Reisekultur hervorbrachte, in der Chirurgen einzeln oder in Gruppen die neuen Eisenbahn- und Dampfschifflinien nutzten, um Kollegen in der Ferne zu besuchen, ihnen auf die Hände zu schauen und ihre Werkzeuge zu besichtigen.16 Grenzüberschreitende Netzwerke entstanden, welche die Chirurgen in Form von Fachgesellschaften wie der im Jahr 1902 in Brüssel gegründeten International Society of Surgery verstetigten. In den Netzwerken gewannen auch neue Spezialfächer an Kontur, so die Orthopädie in Abgrenzung zur allgemeinen Chirurgie.17 Gerade als die orthopädischen Chirurgen eine eigene transnationale Fachgesellschaft zu gründen planten, beendete der Erste Weltkrieg jedoch den Globalisierungsschub des Fin de Siècle. Anstatt 1914 erfolgte die Gründung der Société internationale de chirurgie orthopédique erst 1929. Im Jahr 1936 wurde sie zur nach wie vor bestehenden Société internationale de chirurgie orthopédique et traumatologie (SICOT).

Abb. 7. Arnold Huggler (links), hier auf einem Foto aus dem Jahr 1989, war der erste Schweizer Orthopäde, dem John Charnley im Jahr 1960 seine Endoprothese gezeigt hat. Damit begann der Technologietransfer in die Schweiz. Huggler leitete später die Orthopädische Abteilung des Rhätischen Kantons- und Regionalspitals Chur. Sein Nachfolger war Heinz Bereiter (rechts). Foto: P. de Jong

Charnleys Schulungsauflage bedeutete für Schweizer Orthopäden, dass sie nicht ohne Weiteres bei Thackray oder einer Vertriebsgesellschaft Wrightingtoner Hüftgelenkendoprothesen bestellen konnten. Das Aufgreifen von Charnleys Ansatz in der Schweiz beruhte vielmehr auf persönlichen Kontakten und Modifizierungen seiner Endoprothesentechnik. Der Ökonom Jürgen Kuttruff hat die Transferarbeit auf der Grundlage von Zeitzeugeninterviews detailreich nachvollzogen.18 In seiner Darstellung kam Charnleys Endoprothetik im Jahr 1960 aus Grossbritannien in die Schweiz, als Arnold Huggler, damals Assistenzarzt an der Orthopädischen Universitätsklinik Balgrist, und Bernhard G. Weber, ausgebildeter Orthopäde mit Jobangebot aus den USA, unabhängig voneinander Wrightington besuchten.

Huggler – es handelt sich um den Sohn des bekannten Bildhauers – trat die Reise zu Charnley eigentlich nicht wegen der Hüftgelenkendoprothesen an, sondern um dessen Operation zur Versteifung des Hüftgelenks zu studieren. Die Arthrodese war das Thema seiner Dissertation.19 Während Charnley von guten Ergebnissen durch die Versteifung berichtete, bereitete der Eingriff an der Klinik Balgrist Schwierigkeiten. Direktor Max René Francillon (1899–1983) schickte Huggler nach Grossbritannien, um Unterschiede im Vorgehen zu entdecken. In Wrightington fand Huggler heraus, woran die Zürcher Operation scheiterte, und sah darüber hinaus Charnleys künstliche Hüften. Zurück in der Schweiz, erlaubte ihm Francillon, ein eigenes Prothesenprogramm zu starten.

Huggler entwickelte mit verschiedenen Firmen Prototypen, ab Oktober 1961 auch mit der Präzisionsgiesserei der Gebrüder Sulzer AG. Kaufmännischer und technischer Leiter dieser Abteilung war Hermann Straehl, ein ausgebildeter Stahlgiesser und Maschineningenieur mit einem Abschluss der Handelshochschule St. Gallen. Prothesen waren für ihn keine völlig neuen Produkte. Straehl hatte 1959 zum ersten Mal versucht, Oberschenkelprothesen nach Moore für den St. Galler Instrumentenhersteller Hausmann zu fertigen. Die Präzisionsgiesserei erreichte jedoch die Qualität des bisherigen Lieferanten, des US-Unternehmens DePuy, nicht. Erst mit Huggler gelang der Einstieg in die Herstellung von Medizintechnik. Im Jahr 1962 implantierte dieser an der Universitätsklinik Balgrist das erste Sulzer-Gelenk.20

Abb. 8. Bernhard G. Weber – hier im Jahr 1988 – besuchte John Charnley kurz nach Huggler. Foto: U. Keller, Medizinsammlung Inselspital Bern

Anders als Huggler begab sich Weber ausschliesslich wegen der künstlichen Hüfte zu Charnley. Er hatte dessen erste Publikation zur Hüftgelenkendoprothetik im «British Medical Journal» gelesen und wollte die Operation kennenlernen, während er auf die Aufenthaltsbewilligung für seine Emigration in die Vereinigten Staaten wartete.21 Weber hatte in Basel studiert, 1953 das Staatsexamen gemacht und sich zwischen 1956 und 1960 an der Universitätsklinik Balgrist zum Orthopäden weitergebildet. Dazwischen hatte er in Landarztpraxen und als Hochseeschiffsarzt auf einem Frachter gearbeitet. Seine Auswanderungspläne gab er im Herbst 1960 auf, als ihm Maurice E. Müller als designierter Chef der neuen Orthopädisch-traumatologischen Abteilung der Chirurgischen Klinik am Kantonsspital St. Gallen eine Oberarztstelle anbot. Die beiden kannten sich aus einer gemeinsamen Zeit an der Klinik Balgrist.

Weber brachte Fotos und Skizzen von Charnleys Endoprothesen in die Schweiz und zeigte sie seinem künftigen Chef. Wie Müller gegenüber Kuttruff erklärte, wusste er von Charnleys Prothesenprojekt zu diesem Zeitpunkt bereits durch Wilhelm Martin Zinn (1916–2000), einem über die Landesgrenzen hinweg gut vernetzten Rheumatologen und Rehabilitationsspezialisten, der sich mit der Nachbehandlung von Hüftgelenkoperationen befasste.22 Seit 1957 war Zinn Chefarzt der Thermalbäder und Grand Hotels Bad Ragaz AG. Müller begann die Entwicklung seiner ersten eigenen Hüftgelenkendoprothese aber erst, nachdem ihm Weber im Oktober 1960 von Charnleys Arbeit berichtet hatte. Ein erstes Exemplar setzte er am 9. oder 13. Februar 1961 einer St. Galler Patientin ein – noch bevor Huggler am Balgrist seine Prothesenmodelle an Hüftkranken getestet hat.23

Müller hatte schon vor dieser Operation den Ruf eines hervorragenden Hüftchirurgen.24 In Biel aufgewachsen, hatte er ab 1936 in Neuchâtel, Bern und Lausanne Medizin studiert und nach dem Staatsexamen 1944 als Assistenzarzt an die Universitätsklinik Balgrist in Zürich gewechselt.25 Nach der Promotion zum Doktor der Medizin Anfang 1946 beteiligte er sich achtzehn Monate an einer ärztlichen Mission in der Stadt Jimma im damaligen Abessinien. Seine Verlobte, Martha Lüthi (1924–2007), folgte ihm nach – sie heirateten in der Hauptstadt Addis Abeba, um unter einem Dach leben zu dürfen.

Zurück in der Schweiz, bildete sich Müller auf Oberarztstellen am Kantonsspital Liestal, am Hôpital des Bourgeois in Fribourg und wiederum an der Klinik Balgrist zum Facharzt in Orthopädie und in Chirurgie weiter. Zudem besuchte er europäische Koryphäen der Orthopädie in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Frankreich. In dieser Zeit verfasste er eine Arbeit zur Gelenkkappe von Smith-Petersen sowie zur Pilzprothese der Gebrüder Judet und setzte zum ersten Mal selbst eine Halbprothese ein.26 Nach seiner Habilitation27 im Jahr 1957 arbeitete Müller ohne feste Anstellung und operierte an Spitälern in der ganzen Schweiz, bis ihn der St. Galler Regierungsrat per Anfang November 1960 zum Chefarzt der Orthopädisch-traumatologischen Abteilung am Kantonsspital wählte. 1963 nahm er dann die Professur in Bern an, behandelte jedoch noch bis 1967 hauptsächlich in St. Gallen, weil am Berner Inselspital gerade gebaut wurde.

Wichtig für Müllers wachsende Reputation Anfang der 1960er-Jahre war neben seinem chirurgischen Können die Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO), deren Gründung er nach seiner Habilitation angestossen hatte. Diese Gruppe aus Schweizer Orthopäden und Chirurgen leitete eine Revolution im Umgang mit Knochenbrüchen ein, indem sie bestehende Schwierigkeiten in der operativen Frakturbehandlung beseitigte. Die Werkzeuge, Platten, Schrauben und Nägel der AO ermöglichten rasche Wiederbelastung und damit eine funktionelle Nachbehandlung anstelle des üblichen Ruhigstellens. Das verminderte die Langzeitfolgen von Frakturen, also Fehlstellungen und Invalidität.

Für diese Leistung erhielt Müller im November 1988 zusammen mit zwei weiteren AO-Gründern, Martin Allgöwer (1917–2007) und Hans R. Willenegger (1910–1998), den Marcel-Benoist-Preis, den wichtigsten Wissenschaftspreis der Schweiz.28 Im Dezember 1960, rund zwei Monate bevor Müller in St. Gallen seine erste Hüftgelenkendoprothese einer Patientin eingesetzt hat, arbeitete die AO an der Verbreitung der neuen Behandlungstechnik und führte in Davos einen ersten Ausbildungskurs durch.29 46 Chirurgen aus der Schweiz und dreizehn aus dem Ausland übten unter den Augen von Journalisten und Versicherungsvertretern an Leichenknochen die Anwendung der AO-Technik. Hersteller der dazu verwendeten Frakturbehandlungssets war der Apparatebauer Robert Mathys (1921–2000) in Bettlach.30 Mit ihm begann Müller am Jahresende die Entwicklung eigener Hüftgelenkendoprothesen.

Müller kopierte mit Mathys Charnley und kombinierte ebenfalls Oberschenkelprothesen aus Edelstahl mit Gelenkpfannen aus Teflon. Auf die erste Operation vom Februar 1961 folgten 67 weitere, bis Müller jenen Stand erreichte, den Charnley am Jahreswechsel 1960/61 hatte verzweifeln lassen: Teflon verschleisst.31 Im Jahresbericht des St. Galler Kantonsspitals schrieb Müller dazu: «Die im Jahr 1961 zusammen mit John Charnley, Manchester, entwickelte Totalprothese konnte die in sie gesetzten Hoffnungen nicht ganz erfüllen, sodass vorläufig nur über 65-jährige Patienten oder hoffnungslose Fälle damit versorgt werden. Die Methode hat jedoch Zukunftsaussichten, und schon jetzt sind erhebliche Verbesserungen erfolgt. Die Totalprothese befindet sich jedoch immer noch im Experimentalstadium, sodass diese Behandlungsmethode noch nicht allgemein verbreitet werden kann.»32

Müllers Formulierung einer gemeinsamen Prothesenentwicklung mit Charnley ist irreführend. Eine Zusammenarbeit zwischen ihm und Charnley gab es im Jahr 1961 nicht. Müller und Charnley begegneten sich erstmals am zweiten AO-Ausbildungskurs vom Dezember 1961 in Davos.33 Charnley war als Ehrengast zum Kurs eingeladen. Denn seine Arbeiten zur Bruchbehandlung gehörten zu den Grundlagen, auf denen die AO aufbaute. Müller scheint aber der Besuch seines späteren Oberarztes Weber im Oktober 1960 ausgereicht zu haben, um von einer Zusammenarbeit zu sprechen. In einem in der Zeitschrift «Langenbecks Archiv für klinische Chirurgie» im Jahr 1963 veröffentlichten Aufsatz schrieb er ebenfalls von einem frühen Kontakt zu Charnley. Darin nannte er Weber und eine weitere Person, «Schneider», als Operationspartner. Bei Letzterem handelt es sich wahrscheinlich um den Chirurgen, AO-Mitbegründer und späteren Protek-Aktionär Robert Schneider (1912–1990). Müller schrieb: «Nach etlichen Vorarbeiten und Besuchen bei Charnley setzten wir im Jahr 1961, zusammen mit unseren Freunden Schneider und Weber, 52 Totalprothesen ein.»34 Bis Februar 1966 implantierte Müller insgesamt etwas mehr als zweihundert dieser Prothesen am Kantonsspital St. Gallen und am Inselspital Bern. Hinzu kamen 24 Prothesen nach McKee. Die dabei gemachten Erfahrungen flossen in eine Sulzer-Endoprothese ein, die er Anfang September 1966 am zehnten Kongress der SICOT in Paris vorstellte.35 Am gleichen Anlass sprachen auch Charnley und McKee über ihre künstlichen Hüften.

Während Weber bis 1967 unter Müller arbeitete und dann von ihm in St. Gallen die Leitung der Orthopädisch-traumatologischen Abteilung der Chirurgischen Klinik übernahm, tauschten sich Müller und Huggler zum ersten Mal im Jahr 1964 über künstliche Hüftgelenke aus, nachdem Huggler von der Klinik Balgrist an die Chirurgische Klinik des Kantonsspitals Graubünden gewechselt hatte.36 Chef dieser Klinik war AO-Gründungsmitglied Martin Allgöwer. Er forderte Huggler auf, seine Prothesen Müller zu zeigen. Huggler war inzwischen dazu übergegangen, nicht nur die Oberschenkelprothese, sondern auch die Gelenkpfanne aus Metall fertigen zu lassen. Müller besuchte Huggler in Chur. Zusammen setzten sie eine Metall-Metall-Prothese ein.

Diese Operation war für die industrielle Fertigung und Kommerzialisierung von Hüftgelenkprothesen in der Schweiz entscheidend. Denn Huggler stellte Müller nun seine Ansprechpersonen bei der Gebrüder Sulzer AG vor. Dieser Kontakt verband das Winterthurer Unternehmen mit dem Medizintechniknetzwerk, dessen Bildung Müller über die AO eingeleitet hatte. In den Jahren 1967 und 1968 kamen mit den Gründungen der Protek AG und der Allo Pro AG zwei weitere Orthopädiefirmen hinzu. Diese beiden Unternehmen regelten die Geschäftsbeziehungen zwischen den tüftelnden Orthopäden und Sulzer.

Abb. 9. Maurice E. Müller (links) kam 1964 über Huggler mit der Gebrüder Sulzer AG in Winterthur zusammen, bei der Hermann Straehl (rechts) die Präzisionsgiesserei leitete. Das Bild entstand auf der Geschäftsreise nach Wrightington im Jahr 1970. Foto: M. K. Semlitsch

Die Medizintechnikindustrie und die Orthopädie

Dass Ärzte wie Huggler, Müller und Weber in Kontakt zu Handwerks- und Industriebetrieben traten, um Werkzeuge, Implantate und weitere technische Dinge nach ihren Vorstellungen herstellen zu lassen, war in den 1960er-Jahren nichts Neues. Solche Kooperationen gehörten zur entstehenden wissenschaftlichen Medizin.37 In der Regel gingen aus solchen Kontakten kleine, hoch spezialisierte Betriebe hervor, die in national begrenzten Märkten tätig blieben. Wie der Historiker Pierre-Yves Donzé schreibt, konkurrierten sich einzig im Bereich der bildgebenden Verfahren und verwandter Strahlentechnik schon am Anfang des 20. Jahrhunderts multinationale Unternehmen wie Siemens und General Electric.38 Diagnostische und therapeutische Röntgenapparate waren für diese Firmen jedoch ein Geschäftsfeld unter vielen. Sie gehörten zur allgemeinen Elektroindustrie und pflegten kein diversifiziertes Angebot an Medizintechnik. Das gilt auch für das Schweizer Unternehmen, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Herstellung von Bestrahlungstechnik begann. Ab 1951 bis 1986 belieferte Brown, Boveri & Cie. (BBC) Schweizer Universitätsspitäler mit ersten Elektronenbeschleunigern, die das Unternehmen in Baden zur Zerstörung von Tumorzellen entwickelt hat.39

Als in der Schweiz Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre Firmen die Herstellung und den Verkauf von Instrumenten und Implantaten für die orthopädische Chirurgie aufnahmen, gab es hier also noch keine grossen Medizintechnikbetriebe. Dass dem heute anders ist, hängt zum Teil mit Investitionen der grossen Basler Pharmafirmen zusammen. Beispielsweise stärkte Hoffmann-La Roche durch Akquisitionen seine Diagnostiksparte. An der Orthopädie hatte das Unternehmen jedoch kein Interesse: Im Jahr 1998 durch den Kauf der Corange-Holding mit dem deutschen Pharmaunternehmen Boehringer Mannheim in den Besitz einer Mehrheitsbeteiligung an der Orthopädiefirma DePuy gekommen, reichte Roche diese Firma sogleich weiter an den US-amerikanischen Pharmakonzern Johnson & Johnson.40

Zu diesem Zeitpunkt, Ende der 1990er-Jahre, stellte die Orthopädie, gemessen am Wert der exportierten Waren, das wichtigste Marktsegment der Schweizer Medizintechnikindustrie dar. Schon 1991 hatte der Anteil orthopädischer Produkte am Export von Medizintechnik aus der Schweiz bei rund 45 Prozent gelegen. Er stieg in den folgenden Jahren bis auf ein Allzeithoch von 70,3 Prozent im Jahr 2009. Seither liegt er im Durchschnitt bei rund 63 Prozent.41

Diese grosse Bedeutung orthopädischer Geräte und Implantate für den Medizintechnikstandort Schweiz führt der Historiker Donzé auf ein paar wenige Firmen zurück, deren Ausrichtung und deren Vernetzung mit dem Wirken von Maurice E. Müller zusammenhingen: auf die Synthes AG Chur, die Apparatebau-Firma Mathys in Bettlach und auf das Institut Dr. Ing. R. Straumann in Waldenburg sowie auf die Protek AG.42 Die Synthes AG Chur (heute: AO Technology) hatten Müller und andere AO-Gründungsmitglieder im Jahr 1960 zur Regelung der Geschäftsbeziehungen mit den Produzenten der AO-Frakturbehandlungssets, Mathys und Straumann, geschaffen. Beide Produzenten waren wegen der AO in die Herstellung von Medizintechnik eingestiegen. Während Mathys die Instrumente und Implantate nach Müllers Vorgaben zu fertigen vermochte, brachte Straumann materialwissenschaftliche Expertise aus der Uhrenindustrie ein. Die Protek AG war über Müller und die Firma Mathys mit der AO-Organisation verbunden und profitierte teilweise von deren Vertriebskanälen.

Der grenzüberschreitende Markt für Medizintechnik, den diese Firmen mitaufbauten, erreichte im Jahr 1986 ein Volumen von 2,4 Milliarden Franken. Der Anteil der Synthes AG Chur lag bei sechs Prozent, derjenige der Protek AG bei rund zwei Prozent.43 Die wichtigsten Konkurrenten waren damals Zimmer mit einem Marktanteil von 21 Prozent, Howmedica mit vierzehn Prozent und DePuy mit sieben Prozent.

Diese Bestandsaufnahme stammt aus einer Konsolidierungsphase der Medizintechnikindustrie. Alle genannten Konkurrenten der Schweizer Orthopädiefirmen waren in den 1970er-Jahren von Pharmakonzernen gekauft worden: Zimmer gehörte zu Bristol-Myers (ab 1989: Bristol-Myers Squibb, BMS), Howmedica zu Pfizer und DePuy über die Corange-Holding zu Boehringer Mannheim. Thackray, Charnleys einstiges Produktionsunternehmen, wird 1990 ebenfalls von Boehringer Mannheim gekauft werden. Kunstgelenke und andere Medizintechnik waren nun «Big Business».44 Auch in der Schweiz wirkte sich diese Kommerzialisierung auf die Geschäftsbeziehungen zwischen den Produktionsbetrieben und den Orthopäden aus.

Auffälliges Merkmal der Konsolidierung der Medizintechnikindustrie ist der Rückgang des Einflusses durch die Ärzte auf die Firmen.45 Sehr deutlich wird das bei der Synthes AG Chur. 1989 zog sich Müller aus einem Schlüsselgremium der AO zurück, weil er die bisher in der Organisation gepflegte Priorität medizinischer Erwägungen gegenüber geschäftlichen Interessen in Gefahr sah. Zwischen 1961 und 1984 hatte ein Expertengremium, die Technische Kommission, über die Marktfreigabe der AO-Produkte entscheiden. Von Müller präsidiert, gehörten der Kommission anfänglich zwei weitere AO-Gründer, ferner die Produzenten Mathys und Straumann sowie Müllers Schwester Violette Bangerter-Moraz (1921–2019, auch Violette Moraz-Müller genannt) an. Letztere war in den Anfangsjahren für den Vertrieb der AO-Produkte zuständig gewesen.46

1984 gab sich die AO eine neue Struktur, um ihrer Entwicklung zum grenzüberschreitenden Netzwerk Rechnung zu tragen. Die nach wie vor tonangebenden Schweizer AO-Gründer schufen die AO Foundation und übertrugen ihre Anteilscheine an der Synthes AG Chur an diese Stiftung. Zu deren wichtigen Gremien gehörte ein Business Council (später Board of Directors), dem neben AO-Exponenten wie Müller auch die Zulieferbetriebe, also Mathys, Straumann sowie die 1974 für das Nordamerikageschäft gegründete und vom Manager Hansjörg Wyss geführte Synthes USA, angehörten. Zusammen besassen die Produzenten das Recht, Mehrheitsentscheide umzustossen. Müller haderte mit dieser Veränderung. 1989 trat er aus dem Board of Directors aus. Derweil entstand auf Produzentenseite durch Abspaltungen und Übernahmen bis 2004 ein neues Medizintechnikunternehmen, die Synthes, Inc. Sie kaufte der AO Foundation im Jahr 2006 deren rund 3500 Patente für eine Milliarde Schweizer Franken ab. Dadurch war jene «Medtech-Perle»47 geformt, die der Pharmakonzern Johnson & Johnson im Jahr 2011 für über 21 Milliarden Dollar erwarb.

Auch die Gebrüder Sulzer AG erlangte Ende der 1980er-Jahre die Kontrolle über die beiden, einst für Orthopäden gegründeten Vertriebsgesellschaften, für die sie Hüftgelenke produzierte. Nach einer internen Reorganisation hatte die Konzernleitung am Anfang des Jahrzehnts die Mittel für den Produktbereich Medizintechnik erhöht.48 Die Sulzer-Manager strebten nun Akquisitionen an, um insbesondere im US-amerikanischen Markt eine stärkere Position zu erreichen.

Das USA-Geschäft war für die Schweizer Orthopädiefirmen immer schwierig gewesen. Die AO vermochte ihre Produkte in den Vereinigten Staaten erst zu verkaufen, nachdem mit Hansjörg Wyss ein Manager mit Erfahrung in diesem Markt eingestiegen war. Die Protek AG hatte die Vertriebsrechte für das Nordamerikageschäft 1968 oder 1975 an DePuy vergeben, Müller löste diesen Vertrag jedoch 1981 auf.49 1988 ging Sulzer selbst in die Offensive und erwarb die US-Firma Intermedics, Produzentin von Herzschrittmachern, künstlichen Herzklappen sowie von orthopädischen und zahnmedizinischen Implantaten. Im gleichen Jahr akquirierte Sulzer auch die Allo Pro AG. 1989 verkaufte Müller eine Mehrheitsbeteiligung an der Protek AG an Sulzer, 1991 kaufte die Winterthurer Aktiengesellschaft das Unternehmen vollständig. Die bis dahin von Müller selbst präsidierte Technische Kommission der Protek AG – sie war eine Kopie des AO-Gremiums – wurde durch eine Beratungskommission und eine Maurice-E.-Müller-Produktekommission ersetzt. Letztere war ausschliesslich für die von Müller entwickelten Prothesen und Instrumente zuständig.50 Die unternehmerische Gestaltungsmacht lag jetzt beim Sulzer-Management.

Die Sulzer-Konzernleitung schloss im Laufe der 1990er-Jahre die Allo Pro AG und die Protek AG unter dem Dach von Sulzer Medica zusammen.51 1997 wandelte sie Sulzer Medica in eine Aktiengesellschaft um. Die komplette Abspaltung wurde 2001 vollzogen, nachdem Sulzer Medica eine grosse Rückrufaktion überstanden hatte. Das Unternehmen musste 3300 implantierte Hüftpfannen auswechseln lassen, weil sie wegen Verschmutzungen mit Maschinenöl nicht einheilten, und eine Milliarde US-Dollar Schadenersatz zahlen. Die Sulzer Medica AG änderte in der Folge den Namen in Centerpulse. 2003 unterbreitete der Konkurrent Zimmer (heute: Zimmer Biomet Holdings), der inzwischen von BMS wieder unabhängig geworden war, dem Aktionariat ein Übernahmeangebot in der Höhe von 4,1 Milliarden Schweizer Franken. Zimmer stach damit das britische Konkurrenzunternehmen Smith & Nephew aus.52

Die 1996 abgeschlossene Fusion der Protek AG mit der Allo Pro AG unter dem Dach von Sulzer und die Veränderungen unter den ehemaligen Synthes-Produzenten bewirkten bei der Mathys AG in Bettlach die Verselbstständigung des eigenen Prothesenbereichs zum neuen Firmenstandbein. 2021 verkauften die Aktionäre ihre Anteile an das US-Unternehmen Colfax Corporation, das Mathys mit einer ihrer Tochtergesellschaften, DJO, zusammenzulegen plante.53 Von den ersten, einmal eng vernetzten Schweizer Orthopädiefirmen blieb nur Straumann unabhängig. Das Unternehmen hatte in den 1970er-Jahren mit Zahnärzten, unter anderem aus den Zahnmedizinischen Kliniken der Universität Bern, die Entwicklung von Zahnimplantaten aufgenommen und stieg in diesem Bereich nach der Jahrtausendwende zum Weltmarktführer auf.54

Wenn die erwähnten Übernahmen im Orthopädiebereich den Eindruck eines Verkaufs der Schweizer Unternehmen ins Ausland entstehen lassen, präsentiert der Historiker Donzé ausgewogenere Zahlen: «Between 1988 and 2017, a total of 199 other enterprises or company divisions have been acquired by Swiss medtech firms (Swiss firms as buyers), and 144 enterprises or company divisions in the Swiss medtech industry have been purchased by other firms (Swiss firms as targets).»55 In seiner Analyse stärkte die Globalisierung der Schweizer Medizintechnikindustrie nach der Jahrtausendwende ihre Wettbewerbsfähigkeit.

Mit der Konsolidierung der Medizintechnikindustrie ging die Initiative zur Entwicklung neuer Endoprothesen von den Orthopäden an die Firmen über. Diese versuchten, die Implantate weiter zu verbessern, und brachten eine Vielzahl neuer Modelle auf den Markt. Gleichzeitig stiegen die Ansprüche der Hüftkranken. Sie waren zu einem guten Teil nicht nur jünger als in den Anfangsjahren, sondern hegten auch andere Vorstellungen vom Alter und von den Aktivitäten, die zum Lebensstil Sechzig- und Siebzigjähriger gehörten.56 Anfang der 1990er-Jahre stellten kritische Beobachter jedoch infrage, ob die neuen Endoprothesenmodelle tatsächlich besser waren als altbewährte Designs aus den 1960er-Jahren. Sie machten die kommerziellen Interessen der Herstellerfirmen dafür verantwortlich, dass Ärzte modifizierte Ersatzgelenke zu schnell einer grösseren Zahl von Hüftkranken implantierten, ohne dass Langzeitergebnisse vorlagen.57

Etwa zur gleichen Zeit setzten in der Schweizer Öffentlichkeit mit der Revision der Krankenversicherungsgesetzgebung neue Debatten zu den Gesundheitskosten ein. Die Öffentlichkeit begann die Endoprothetik als Gebiet wahrzunehmen, in dem die medizinische Überversorgung unnötige Kosten verursachen konnte, wenn zu viele Spezialisten einander konkurrierten und in dieser Wettbewerbssituation teure Kunstgelenke ohne genügende medizinische Rechtfertigung implantierten.58

Abb. 10. Hüftgelenkprothesen aus den 1960er-Jahren. Obere Reihe: Original-Charnley-Prothese, Metall-Metall-Prothese von McKee, Moore-Prothese mit Gelenkpfanne nach Peter Ring und modifizierte Charnley-Prothesen von Müller mit unterschiedlichen Halslängen. Untere Reihe: modifizierte McKee-Prothesen von Müller mit «Gleitlagern» aus Kunststoff in den Metallpfannen. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 15519

Heute gilt als guter Prothesentyp, wenn 95 Prozent der implantierten Stücke fünfzehn Jahre oder länger keiner Revision bedürfen.59 Als Korrektiv der Marktlogik, die im Namen der «Innovation» nach ständigen Neuerfindungen verlangt, werden Register geführt, in denen alle in einem Land eingesetzten Endoprothesen und deren Revisionen erfasst werden. In der Schweiz besteht ein solches Register seit 2012. Es gab jedoch Vorläufer: Zum Ansatz der AO gehörte die Dokumentation der mit ihrem Equipment bewerkstelligten Frakturbehandlungen und deren Ergebnisse. Diese Erfassungsarbeit dehnte Maurice E. Müller auf die Endoprothetik aus. Das dabei angehäufte Know-how über Dokumentationstechniken floss über die Universität Bern ab 2007 in den Aufbau des nationalen Endoprothesenregisters SIRIS ein.60

Ein Netzwerk in Aktion

Im Jahr 1995 blickten orthopädische Chirurgen und Sulzer-Mitarbeiter auf die Entwicklung der Endoprothetik in der Schweiz zurück. Das Buch widmeten sie Otto Frey (1925–1992). Er war der Produktionsleiter der Sulzer Präzisionsgiesserei, der ab 1965 die Serienproduktion von künstlichen Hüftgelenken aufbaute. 1968 wurde er Gesellschafter der Allo Pro AG, 1986 Vizedirektor der Gebrüder Sulzer AG. Aufgrund seiner Beiträge zur industriellen Fertigung der Endoprothesen apostrophierten ihn Zeitgenossen als «Vater der Sulzer-Gelenke».61 Auch wenn Frey zweifellos wichtig war für die Entwicklung von Hüftgelenkprothesen in der Schweiz, so verschleiern solche Zuschreibungen doch mehr, als dass sie zum Verständnis der historischen Vorgänge beitragen. Antrieb der Entwicklungsarbeit war nicht das Handlungsvermögen eines Einzelnen, sondern der Austausch von Handlungspotenzialen zwischen Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Techniken.

Hüftgelenkendoprothesen wurden nicht auf einmal erfunden, sie stellen das Ergebnis fortlaufender Veränderung dar. Huggler und Müller sahen Gründe, um von Charnleys Design abzuweichen und zum Beispiel grössere Gelenkköpfe zu wählen. Müller setzte ab Sommer 1965 auf modifizierte Charnley-Prothesen mit einem Kopfdurchmesser von 32 Millimetern. In der Fachliteratur erhielt dieses Modell die Bezeichnung Charnley-Müller-Prothese.62 Auch entwickelte Müller eine eigene Operationstechnik, die möglichst ohne Abmeisseln des grossen Trochanters, eines Fortsatzes am oberen Ende des Oberschenkelknochens, auskam.63 Huggler war 1961 auf der Suche nach einem Betrieb, der Prothesen nach exakten Formvorgaben und ohne Abweichungen zu produzieren vermochte.64 Die Präzisionsgiesserei der Gebrüder Sulzer AG setzte dann nicht einfach Hugglers Ideen um. Stattdessen brachte sie eigenes Know-how ein. So verwendete die Giesserei nicht mehr rostfreien Stahl für die Oberschenkelschäfte, sondern eine eigene Legierung. Während Frey nach 1965 die Serienproduktion anging, baute der Sulzer-Mitarbeiter Manfred K. Semlitsch, ein promovierter Chemiker aus Österreich, die materialwissenschaftliche Expertise immer weiter aus. In solche Anpassungen und Veränderungen geben die nachfolgenden Transkripte von Zeitzeugenbefragungen Einblicke.

Um möglichst viele Perspektiven auf die Geschichte der Hüftgelenkprothetik in der Schweiz zu erhalten, wurde im November 2021 ein Zeitzeugenseminar veranstaltet.65 Schüler von Müller (Hans Ulrich Albrecht, Reinhold Ganz, Roland Jakob, Hans Riesen) beleuchteten die klinische Seite. Sie sprachen über das Erlernen der Operation zum Einsetzen von Endoprothesen und über sich wandelnde Erwartungen der Patientinnen und Patienten. Ehemalige Protek-Angestellte (Willi Frick, Dora Kaufmann, Hermann Taaks) äusserten sich zur Firmenkultur, zur Arbeitsteilung mit Sulzer und zur Schulung von Medizinern in der korrekten Anwendung der Protek-Erzeugnisse. Ebenfalls anwesend waren Robert Mathys junior, der Sohn von Müllers Geschäftspartner, die Fotografin Lotti Schwendener, die über Jahrzehnte zu Müllers engstem Angestelltenkreis zählte, sowie der Orthopäde Peter E. Ochsner, den Müller 1989 in die Technische Kommission der Protek AG eingeladen hatte. Hinzu kamen weitere Personen, die in jene Unternehmungen eingebunden waren, die Müller mit den Einnahmen aus dem Prothesengeschäft finanziert hatte.

Noch vor der Gründung der Protek AG im Jahr 1967 hatte Müller 1965 die Fondation Protek geschaffen. Sie war das ursprüngliche Vehikel zum Vertrieb seiner Hüftgelenkprothesen. Einziges Mitglied des Stiftungsrates war seine Schwester Violette Bangerter-Moraz.66 Die Fondation Protek bestand nach der Gründung der Protek AG weiter und erhielt Beiträge aus den Gewinnen der Firma. Im Jahr 1974 ging aus ihr die Fondation Maurice E. Müller hervor. Müller finanzierte über sie die Schulung von Orthopäden in der Verwendung seiner Endoprothesen – die sogenannten Berner Hüftkurse – sowie Forschungs- und Dokumentationseinrichtungen. Zu diesen Einrichtungen gehörten das im Winter 1981/82 gegründete M. E. Müller-Institut für Biomechanik an der Universität Bern (heute: ARTORG Center for Biomedical Engineering Research), das 1986 gegründete M. E. Müller-Institut für hochauflösende Elektronenmikroskopie (ab 1996: M. E. Müller-Institut für Mikroskopie, später M. E. Müller-Institut für Strukturbiologie) am Biozentrum der Universität Basel und das 1989 gegründete Institut für evaluative Forschung in der Orthopädie (IEFO, ab 2000 Institut für evaluative Forschung in der Medizin, IEFM, später Teil des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin, ISPM), dessen Erhebungstechnik für den Aufbau des nationalen Endoprothesenregisters wichtig wurde. Am Zeitzeugenseminar haben Erich Schneider, von 1982 bis 1990 stellvertretender Direktor des Instituts für Biomechanik, dann Ueli Aebi, Schwiegersohn von Maurice E. Müller und zwischen 1986 und 2011 Direktor des Instituts für Strukturbiologie am Basler Biozentrum, sowie Edith Röösli, langjährige Mitarbeiterin im Dokumentationsbereich, von den Tätigkeiten dieser Einrichtungen berichtet.

Abb. 11. An regelmässig durchgeführten Hüftkursen demonstrierte Maurice E. Müller Ärztinnen und Ärzten das Einsetzen der Endoprothesen. Praktische Übungen waren zentrale Bestandteile der mehrtägigen Ausbildungsveranstaltung. Quelle: Archiv des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern, N Müller MEM 11.4_2

Vor und nach dem Zeitzeugenseminar wurden auch Einzelinterviews gemacht. Ein erstes separates Gespräch fand mit Manfred K. Semlitsch und Claude B. Rieker statt. Während Semlitsch ab 1966 bis 1996 als Materialwissenschaftler für die Gebrüder Sulzer AG in Winterthur arbeitete, war Rieker im Jahr 1990 als Entwicklungsingenieur in die Protek AG eingetreten. Heute arbeitet er für Zimmer Biomet. Dieses Gespräch vermittelt insbesondere eine Vorstellung von der Arbeit an geeigneten Prothesenwerkstoffen bei Sulzer und von der Suche nach Lösungen zur Optimierung des Zusammenspiels der Gelenkkomponenten.

Das zweite separate Interview handelt von den Jahren, in denen Müller seine Abteilung am Kantonsspital St. Gallen zu einem Zentrum der europäischen Orthopädie machte. Zu den Ärzten, die dort den Einstieg in die Hüftgelenkendoprothetik miterlebten, zählt Hans Christoph Meuli. Er trat mit Müller im November 1960 in das Kantonsspital St. Gallen ein und begleitete ihn später nach Bern. In den 1970er-Jahren entwickelte er am Inselspital und am Lindenhofspital, einem von der Rotkreuzstiftung für Krankenpflege (heute: Stiftung Lindenhof Bern) geführten Privatspital, ein künstliches Handgelenk. Er hat Fragen zur Pionierzeit in St. Gallen und zur Bedeutung des Hüftgelenknetzwerkes für die Umsetzung seiner eigenen Prothesenideen beantwortet.

Wenn Chirurgen am Fine de Siècle um die Welt reisten, um sich jenes implizite Wissen zu Operationen anzueignen, das sie den Medizinbüchern nicht entnehmen konnten, brauchte es auch bei der Herstellung von Werkzeugen und Implantaten Menschen, die fähig waren, Unaussprechliches zu sehen und in die Konstruktion einfliessen zu lassen. An der Seite von Maurice E. Müller übernahm zuerst Robert Mathys senior und dann, ab 1967, Jürg Küffer diese Aufgabe. Im Interview hat er geschildert, wie er Operationen beiwohnte und sah, wo ein Operationsschritt stockte, weil das richtige Hilfsmittel fehlte oder ein Instrument nicht gut in der Hand lag. In einer Werkstatt, die der Protek AG angeschlossen war, baute Küffer für Müller und weitere Insel-Ärzte Prototypen. Später gründete er sein eigenes Unternehmen.

Die Gründung der Protek AG geschah 1967 auf Drängen der neuen Geschäftspartner bei der Gebrüder Sulzer AG. Erster Geschäftsführer und Buchhalter wurde Marcel Madl.67 Das Unternehmen wirtschaftete über zehn Jahre ohne Organigramm und klare Abläufe. 1983 holte Müller Rolf Soiron, den Ehemann der jüngsten Schwester seiner Frau, in die Protek AG und machte ihn zum Generaldirektor. Der promovierte Historiker hatte bis dahin für das Basler Pharmaunternehmen Sandoz gearbeitet. Soiron führte die Protek AG dann vier Jahre, bis im Juli 1987, das heisst genau in jener Zeit, in der die Konzernleitung der Gebrüder Sulzer AG die Medizinaltechnik als wichtigen Wachstumsmarkt für das Unternehmen definiert hatte und weltweit tätige Pharmafirmen bei den Konkurrenten der Protek AG eingestiegen waren. Wie wollte Soiron die Protek AG in diesem Umfeld positionieren?

Ein letztes Einzelinterview wurde mit Giorgio Curradini gemacht, der die Protek AG ab 1988 zuerst als Direktor und dann als Delegierter des Verwaltungsrats geleitet hat. Er kam nicht von aussen in das Unternehmen hinein, sondern hatte 1976 als Buchhalter für die Protek AG zu arbeiten begonnen. Das Gespräch hat die Geschäftspraktiken im wachsenden Prothesenmarkt zum Thema. Wie gingen die Protek-Leute konkret vor, um ein Verkaufsnetz aufzubauen? Weshalb war es wirtschaftlich interessant, nebst Müller weitere Orthopäden als Prothesenerfinder zu gewinnen? Wie hat Müller auf solche Vorschläge reagiert?

Die Transkripte dieser Gespräche enthalten Schilderungen von Sachverhalten, Erinnerungen, Meinungen und Einschätzungen. Wie alle Zeitzeugnisse sind sie Informationsträger, die einer kritischen Auseinandersetzung bedürfen, um Erkenntnisse über die Vergangenheit zu erzeugen. Diese Einleitung endet deshalb mit kurzen Angaben zu ihrer Entstehung, zur Planung der Interviews und zu ihrer Verschriftlichung.

Zum Vorgehen

Bei den Interviews handelt es sich um Aufzeichnungen, welche die Gesprächsleiter aktiv mitgestaltet haben.68 Den Ausgangspunkt bildete eine Liste möglicher Auskunftspersonen, die Peter E. Ochsner anhand seines Wissens über das Umfeld und die Geschäftsbeziehungen von Maurice E. Müller zusammengestellt hatte. Unter Einbezug der bestehenden Literatur und im Gespräch mit Ochsner hat der schreibende Historiker die Stossrichtung der Interviews konkretisiert. Ochsner ordnete darauf die Auskunftspersonen nach den angedachten Fragekomplexen.

In telefonischen Vorgesprächen verlangten die meisten Auskunftspersonen nach genauen Angaben zu den Fragen, die an sie gerichtet werden würden, bevor sie sich zu einem Interview on record bereit erklärten. Die Stossrichtung des geplanten Interviews wurde deshalb vorgängig offengelegt. Konkrete Fragen – nicht aber der ganze Fragenkatalog – wurden nur an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Zeitzeugenseminars im Vorfeld herausgegeben. Die Idee war, dass Auskunftspersonen durch vorbereitete Ausführungen zu einem bestimmten Aspekt die Diskussion selbst in Gang bringen würden.69

Die Transkripte geben den Wortlaut der Gespräche in bearbeiteter Form wieder – die Originalaufnahmen und früheren Fassungen sind im Archiv des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern hinterlegt. Um aus dem gesprochenen Wort einen lesbaren Text zu machen, wurden unvollständige und abgebrochene Sätze oft weggelassen. Die Auskunftspersonen durften eigene Formulierungen ändern und auch Streichungen vornehmen. Die Überarbeitung zielte aber nicht darauf, Stil und Duktus der gesprochenen Sprache gänzlich zu entfernen. Umfassende Ergänzungen oder Zuspitzungen, die den Gesprächsverlauf möglicherweise verändert hätten, wurden nicht in den Text redigiert, sondern als Anmerkungen hinzugefügt. Zur Publikation wurden die Interviews nach ihren zeitlichen Schwerpunkten geordnet. Das Zeitzeugenseminar und das Gespräch mit Manfred K. Semlitsch und Claude B. Rieker decken die ganze Zeitspanne zwischen den 1960er- und den 1990er-Jahren mit Bezügen bis in die Gegenwart ab. Danach folgen die Interviews mit Hans Christoph Meuli (1960er- und 1970er-Jahre), Jürg Küffer (1970er- und 1980er-Jahre), Rolf Soiron (1980er-Jahre) und Giorgio Curradini (1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre).

Derart aufbereitet enthalten die Transkripte Informationen zu Ausbildungssituationen, Forschungspraktiken, Inspirationsquellen, Motiven, Interessen und Konflikten, welche die Medizin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitgeformt und die Entstehung der Medizintechnikindustrie beeinflusst haben. Der Gegenstand der Gespräche, die Geschichte der Entwicklung von künstlichen Hüftgelenken in der Schweiz, liefert Anschauungsmaterial für die Bedeutung des Zusammenkommens sehr unterschiedlicher Leistungen und Bedingungen in Innovationsprozessen. Die verschiedenen Sichtweisen der Auskunftspersonen vermögen – so ist zu hoffen – zu neuen Fragen anzuregen, bei der Orientierung in der schriftlichen Überlieferung zu helfen und zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem Geschehen beizutragen.

Notes

5Im Jahr 2021 lag der Frauenanteil unter den berufstätigen Personen mit dem Facharzttitel Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates bei 12 Prozent. Vgl. Schweizerische Ärzteverbindung FMH: Ärztestatistik. ↩︎
6Berechnung anhand der Angaben im nationalen Hüftgelenkregister für die Jahre 2017 bis 2021. Vgl. SIRIS, Foundation for Quality Assurance in Implant Surgery: Hip and knee joint registry, 2022, S. 22–23. Die durchschnittliche Anzahl Reoperationen bei Totalprothesen, die jünger als zehn Jahre sind, wurde aus der Kategorie «Linked Rev./Reop. of THA» errechnet. Die Zahlen zur Berechnung der durchschnittlichen Revisionen bei älteren Prothesen stammen aus der Kategorie «Unlinked Rev./Reop. can be of THA & HA». Diese Kategorie schliesst auch Halbprothesen ein. ↩︎
11Die Auskunftspersonen haben die Lebensläufe durchgesehen und Korrekturen angebracht. ↩︎
23Müller machte unterschiedliche Angaben zum Operationsdatum. Vgl. Kuttruff: Anwender, 1996, S. 208–209; Schatzker: Müller, 2018, S. 107. ↩︎
30 Zu Robert Mathys senior und zur Geschichte der Mathys AG siehe Moser: Chirurgen, 2021, S. 35–47. ↩︎
31Kuttruff: Anwender, 1996, S. 80–81. Wie sich Craven im Jahr 2001 erinnert hat, soll sich Charnley Anfang 1961 während der entscheidenden Tests mit Polyethylen in Zürich aufgehalten haben, um sich mit Maurice E. Müller über seine Probleme mit den Hüftendoprothesen auszutauschen. Vgl. Anderson; Neary; Pickstone: Surgeons, 2007, S. 32. Die hier verwendeten Quellen widersprechen dieser Darstellung. ↩︎
34Müller: Hüftkopf- und Totalprothesen, 1963, S. 49. Schneider war von 1951 bis 1970 chirurgischer Chefarzt am Spital Grosshöchstetten und gab sich danach ganz der Hüftchirurgie hin. Vgl. Heim: Phänomen, 2001, S. 48–49; Schlich: Surgery, 2002. ↩︎
42Donzé: Medtech, 2022, S. 164. Donzé nennt das Jahr 1960 als Gründungsdatum der Protek AG. Das ist falsch. Vgl. Protek AG: Protek AG, 1967, S. 2617. Zur Vernetzung der Synthes AG Chur mit Mathys und Straumann vgl. Moser: Chirurgen, 2021, S. 25–30. ↩︎
50Protokolle dieser Kommissionen enthält der Nachlass von Maurice E. Müller. Vgl. Archiv des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern, N Müller MEM 5.1–5.2. Zur Übernahme der Protek AG durch die Gebrüder Sulzer AG vgl. Bálint: Sulzer, 2015, S. 360. ↩︎
51 Für nachfolgende Ausführungen vgl. Bálint: Sulzer, 2015, S. 365–369, 372. ↩︎
60 Vgl. Transkript der Ausführungen von Edith Röösli am Zeitzeugenseminar. Die Gründung der AO fällt in die Zeit, in der laut dem Historiker Harry Marks die «statistische Ära der klinischen Medizin» begann. Vgl. Schlich: Surgery, 2002, S. 111–137. ↩︎
65Als Vorbild dienten Zeitzeugenseminare der vom Wellcome Trust finanzierten History of Twentieth Century Medicine Group. Vgl. Tansey: Witnesses, 2006; Reynolds; Tansey (Hg.): Development, 2006. ↩︎
68Für eine konzise Auseinandersetzung mit Stärken und Schwächen des Oral-History-Ansatzes vgl. Hoddeson: Conflict, 2006. ↩︎