Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz
doi.org/10.36950/edv-mem-2023.2
Niklaus Ingold

Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz

Transkript des Zeitzeugenseminars

Bern, 18.11.2021

Anwesend: Ueli Aebi, Hans Ulrich Albrecht, Willi Frick, Reinhold Ganz, Niklaus Ingold (Gesprächsführung, Aufnahme, Transkript), Ercan Isik (Aufnahme), Roland Jakob, Dora Kaufmann, Robert Mathys, Peter E. Ochsner, Hans Riesen, Edith Röösli, Erich Schneider, Lotti Schwendener, Hubert Steinke (Direktor des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern), Hermann Taaks, Aathithjah Thanabalan (Aufnahme)

Teil 1

Ingold: Ich möchte einen chronologischen Ablauf versuchen, wir müssen uns aber nicht strikt an mein Drehbuch halten. Ich möchte bei Ihnen, Herr Mathys, beginnen. Am 31. Dezember 1960 fragte Maurice E. Müller Ihren Vater1 schriftlich an, ob die Firma Mathys mit ihm künstliche Hüftgelenke entwickeln würde. Am 9. Februar 1961, also nur etwas mehr als einen Monat später, setzte Müller in St. Gallen einer Patientin die erste selbst entworfene Endoprothese aus rostfreiem Stahl und einer Kunststoffpfanne ein. Weshalb war Ihr Vater Ihrer Einschätzung nach in der Lage, innerhalb eines Monats Maurice E. Müller mit einer ersten Endoprothese für die Hüfte zu beliefern?

Mathys: Ich möchte die Rahmenbedingungen etwas erläutern. Es ist ja so, dass Herr Doktor Müller im April 1958 bei uns zu Hause war und meinen Vater gebeten hatte, mit ihm zusammen ein Instrumentarium für die Knochenbruchbehandlung zu entwickeln. Das ist dann erfolgt. Die vier Kassetten mit den Grundinstrumentarien wurden bis im November 1958 entwickelt. Wesentlich dabei war die Entwicklung der Knochenschrauben und der sogenannten Platten zur Überbrückung der Frakturen. Im November, als die AO-Gruppe gegründet worden ist, hat das Instrumentarium also bereits bestanden. Dann ist es bei den AO-Mitgliedern in Erprobung gegangen. Ungefähr 1960 ist dann auch klar geworden, wie man sich organisieren will. Im November 1960 wurde die Synthes AG in Chur gegründet. Zu diesem Zeitpunkt hat Müller sein Know-how oder sein Intellectual Property, wie man neudeutsch sagt, für den Traumabereich an Synthes übertragen. Er hat sich aber vorbehalten, die Technologie für die Prothetik, für den Gelenkersatz, für sich einzubehalten. Deshalb ist Herr Müller dann, Ende 1960, schriftlich an unseren Vater herangetreten – offenbar aufgrund der gemachten Erfahrung, der speditiven Abwicklung einer Entwicklung. Das basiert natürlich dann über die Zeit auf Vertrauen. Müller war offenbar davon überzeugt, dass unser Vater das konnte.

Die Technologie ist, glaube ich, auch wesentlich in diesem Zusammenhang, weil die Herstellung aus rostfreiem Stahl im Vergleich zu Kobalt-Chrom-Legierungen natürlich einfacher ist. Damals hatte die Prothetik im Wesentlichen aus Gussprothesen bestanden, aus Kobalt-Chrom-Gussmaterialien. Die sind relativ schwierig zu bearbeiten. Sie wurden gegossen, das heisst, man musste die ganze Giessform und die Technologie dazu eigentlich vorweg entwickelt haben. Wie der geschichtliche Ablauf dann bei Sulzer erfolgt ist, kann man in der Dissertation von Kuttruff nachlesen.2

Nun, die Herstellung aus rostfreiem Stahl ist relativ einfach. Sie können eine Stange Material nehmen, können behelfsmässig einen Kopf andrehen, können das Stück wenden und einen konischen Schaft andrehen. Dieses Ergebnis sieht genau aus wie ein Setzholz. Dann erfolgt die Fräsung der Schaftgeometrie, das heisst, anterior und posterior wurden Flächen angefräst. Der Schaft wurde thermisch erwärmt und gebogen. Zuletzt erfolgte die Schlussbearbeitung am Kopf, das Polieren. Ich meine, dass das für die Einzelstückherstellung ein Zwei-, Dreitageswerk war, wogegen Gussrohlinge zu fabrizieren, natürlich eine längere Geschichte darstellte. Deshalb war das relativ schnell gemacht, und man war sehr flexibel auch in der Gestaltung. Während der Entwicklungsphase variierten die Formgebungen ja relativ stark. Also das war eigentlich kein grosses technologisches Problem diesbezüglich.

Abb. 1. Robert Mathys senior, circa 1980. Mit Maurice E. Müller in die Herstellung von Hüftgelenkendoprothesen eingestiegen, konstruierte er später auch eigene Modelle wie die hier abgebildete isoelastische Kunststoffprothese. Quelle: Privatarchiv Familie Mathys

Ingold: Einer meiner Auskunftspersonen wurde zugetragen, dass die Herstellung von Spiegelsystemen für Autos Ihrem Vater bei der Entwicklung von Prothesen geholfen habe, und zwar aufgrund der ähnlichen Artikulation zwischen Spiegel und Halterung sowie Gelenkschaft und -pfanne.3 Sie haben mir aber schon mitgeteilt, dass Sie das …

Mathys: Ich habe Jahrgang 1944, war also nicht dabei. Ich habe bei Google nachgeschaut, wo eigentlich die Kugeldreherei herkommt, und habe gesehen: Kugeldrehapparate waren natürlich längstens bekannt, insbesondere aus der Drechslerei. Diese Kugeldrehapparate gab es natürlich auch für die Bearbeitung metallischer Körper. Es war etwas schwieriger bei rostfreiem Stahl.

Das mit dem Spiegel kann ich nicht nachvollziehen. Die Geschichte mit dem Spiegel ist einfach so: Mein Vater hatte damals ein direkt aus England importiertes Auto, also einen rechts gesteuerten Wagen. Bei Rechtsverkehr ist es relativ schwierig, wenn man einmal überholen will, man sieht nämlich nicht am Vorderwagen vorbei. Dieser Spiegel, das war nämlich kein Rückspiegel, sondern ein Vorwärtsspiegel. Er wurde am Fensterpfosten auf der linken Seite montiert. Das war ein Doppelspiegelsystem. Der Fahrer konnte in einen Spiegel schauen, und der andere Spiegelstrahl ist dann nach vorn gegangen. So konnte man an dem Auto vor sich vorbeischauen. Natürlich bedingt das eine gewisse Adaption in Bezug auf die Statur des Menschen, der das Auto fährt und in den Spiegel blicken muss. Aber das konnte nicht massgebend sein für die Technologie der Kugelkopfbearbeitung.

Ingold: Der Spiegel musste fest sitzen, beim Hüftgelenk …

Mathys: Eigentlich möchte man bei einem Hüftgelenk eine gute Gängigkeit, also keine Friktion.

Ingold: 1966 schloss Müller, über die 1965 gegründete Protek-Stiftung, mit der damaligen Gebrüder Sulzer AG einen Vertrag zur Prothesenproduktion ab. Die Firma Mathys blieb aber im Prothesengeschäft mit Müller verbunden. Sie fertigte bis 1996 Stahlprothesen für die Protek AG, die 1967 gegründet worden war, und sie stellte auch das Instrumentarium her, das chirurgische Orthopäden bei der Operation benötigten. Zudem übernahm die Firma Mathys den Vertrieb der Protek-Produkte in Ländern, wo sie die AO-Instrumente verkaufte und Protek selbst kein Vertriebsnetz hatte. Stimmt das so?

Mathys: Das stimmt so. Es hat natürlich einen Dialog gegeben, als Maurice Müller bei Sulzer eingestiegen ist und angefragt hat, die Prothesen aus Kobalt-Chrom-Gusslegierungen zu machen. Der Deal war dann, so wie ich das mitbekommen habe aus der Korrespondenz, dass man das einfach zur Kenntnis genommen hat. Mathys war ja alleiniger Produzent und Entwickler der Instrumentarien. Ich meine, grundsätzlich sind die Instrumentarien ebenfalls wesentlicher Bestandteil der ganzen Hüftchirurgie, also Prothesenchirurgie. Diese haben teilweise aus der vorgängigen Entwicklung mit der AO bestanden. Aber die speziellen Hebel und Meissel wurden natürlich speziell gemacht. Das Instrumentarium wurde immer bei Mathys hergestellt. Für Mathys ist stets eine gewisse Auslastung in Bezug auf Instrumentarien da gewesen. Gegen 1970 oder so ist der Markt wirklich gross geworden, und das Volumen wesentlich grösser. Mathys sind immer die Stahlprothesen als Billigvariante zu den teuren, gegossenen oder später auch geschmiedeten Kobalt-Chrom-Prothesen respektive Titanlegierungen geblieben.

Ingold: Ich möchte Sie später nach der Bedeutung dieses Prothesengeschäfts für die Entwicklung der Firma Mathys fragen. Jetzt möchte ich aber weitere Personen in das Gespräch einbinden. Unter den Anwesenden sind – das vermute ich jetzt einmal – Lotti Schwendener und Hans Riesen die Ersten, die dann künstliche Hüftgelenke in den Händen hielten. Frau Schwendener, Sie begannen noch in St. Gallen, für Maurice Müller zu arbeiten. Erinnern Sie sich, ob Sie da bei Hüftgelenkersatzoperationen dabei waren?

Schwendener: Nein. Damals habe ich die Dokumentation gemacht.

Ingold: Dokumentation heisst?

Schwendener: Röntgenbilder aufnehmen, kleben, so diese Arbeit.

Ingold: Herr Riesen, Ende der 1960er-Jahre waren Sie in Interlaken bei Bandi4 und Sie haben da in Interlaken das Setzen von Hüftgelenkprothesen gelernt.

Riesen: Ja, stimmt. Es war eine Art Lehre wie bei einem Handwerker. Der Lehrling muss zuschauen und muss dann mit der Zeit die einzelnen Schritte begreifen. So konnte ich Schritt für Schritt die Prothesen implantieren, als einziger Assistent, weil Bandi nur solche Leute einführen wollte, die auch dann später orthopädische Chirurgen wurden. Ich hatte mich bei Maurice Müller schon Jahre vorher gemeldet für eine Assistentenstelle. Er hat mir gesagt: «Sie können zu mir kommen, wenn Sie den FMH-Titel für allgemeine Chirurgie haben.» Das heisst, ich musste zwei Jahre Pathologie, fünf Jahre Chirurgie inklusive dreier Monate Anästhesie machen, bis ich dann zu Professor Müller gehen konnte. Also habe ich bei Professor Bandi die wichtigsten Handgriffe schon gelernt – und musste dann im Inselspital wieder zweihundertmal zuschauen, bevor ich selbst etwas machen durfte.

Ingold: War Bandi jemand, der sehr früh selbst begann, künstliche Hüftgelenke einzusetzen? Oder war Ende der 1960er-Jahre dieser Eingriff bereits etabliert und wurde an verschiedensten Spitälern gemacht?

Riesen: Soviel ich weiss, wurden an verschiedenen Spitälern routinemässig Prothesen eingesetzt. Bandi war einfach ein begabter Traumatologe. Er hatte, als ich 1969 bei ihm war, schon circa 500 Prothesen selbst gemacht, ohne Infekt, bei offenem Fenster und ohne Reinraumkultur wie heute.

Ingold: Gibt es dazu, ab wann Hüftgelenkendoprothesen als etablierter Eingriff zählen können, Kommentare, Herr Jakob?

Jakob: Ich kam im Herbst 1970 als junger Assistent zu Professor Müller, nachdem ich am Berner Inselspital bereits einen Teil meiner obligatorischen Chirurgiejahre absolviert hatte. Die Chirurgische Klinik war damals auch gleichzeitig für den Notfall und das Trauma des Bewegungsapparates zuständig. In der Orthopädie war es die Periode, wo neben der Hüftprothetik den Osteotomien, also der konservativen, gelenkserhaltenden Chirurgie, grosses Interesse geschenkt wurde. Für uns junge Assistenten bedeutete das, dass wir auf dem Operationsprogramm vorerst dafür aufgeschrieben wurden, aus den Hüften von jugendlichen Patienten, die zuvor eine derotierende und varisierende intertrochantäre Umstellungsosteotomie erhalten hatten, unter Assistenz das Metall zu entfernen, wobei man uns grundlegende Schritte im Ablauf der Operation beibrachte. Diese Patienten, Kinder und Jugendliche, waren operiert worden, weil sie infolge eines wachstumsbedingten «Drehfehlers» einen Einwärtsgang hatten. Das war eine Indikationspraxis, die sich lange Zeit aufrechterhielt, bis man dann Jahre später zur Erkenntnis kam, dass diese Operation eigentlich nur selten nötig war, weil dieser sogenannte Drehfehler im Erwachsenenalter nicht zur postulierten Arthrose geführt hatte, der man mittels einer Osteotomie hätte zuvorkommen wollen. Es brauchte eine Langzeitstudie.

Generell waren die Hüftosteotomien beim Erwachsenen hoch im Kurs, vor allem dank der Person von Professor Müller, der ja Jahre zuvor seine Habilitationsschrift über die zehn hüftnahen Osteotomien abgefasst hatte.5 Er war ohne Zweifel der Kenner dieser Materie. Aber daneben sind auch bekannte Autoren und Chirurgen aus Deutschland, Frankreich, England und aus Norditalien zu erwähnen, etwa Renato Bombelli6, die selbst über eine grosse Erfahrung mit Hüftosteotomien verfügten und häufig in die Klinik von Maurice Müller zu Besuch kamen. Die diesbezüglichen Erkenntnisse und Erfahrungen waren für uns gleichermassen neu, spannend und von einer biomechanischen Logik wie die Hüftprothetik selbst, welche neben der konservativen Chirurgie den Schwerpunkt bildete.

Unter den Oberärzten war Hans Riesen der Hüftprothetiker, später auch Reinhold Ganz und andere. Und natürlich die stellvertretenden Chefärzte, die aus St. Gallen kamen, zuerst Meuli und Weber und dann Boitzy.7 Unter all diesen Leitern wurden sowohl die konservative Hüftchirurgie als auch die Prothetik gepflogen, was das Hauptgebiet der universitären Klinik festigte.

Später wurden die Hüftkurse eingeführt, wo neben der Prothetik immer auch die hüfterhaltenden Techniken instruiert wurden. Es handelte sich primär um Veranstaltungen, an denen die gültigen Lehrmeinungen und Techniken vermittelt wurden, wo aber auch Raum für Experimentelles freigehalten wurde. Diese Kurse wurden auch durch die Industrie unterstützt und kamen ihr zugute. Später, unter der Klinikleitung von Reinhold Ganz, wurde dann im Vergleich zur Prothetik wieder der hüfterhaltende, also prothesenfreie Trend noch stärker in den Vordergrund gestellt. Aber die Hüftprothese hat ihren Platz als ausgezeichnete Methode zur Behandlung der vorgerückten, invalidisierenden Hüftarthrose erhalten und leider, muss man zugeben, ist sie manchmal auch bei jüngeren Patienten mit schweren Arthrosen notwendig.8

Ingold: Gibt es dazu Kommentare, Herr Ganz?

Ganz: Als ich am 1. Januar 1970 anfing in Bern, hatte ich keine Ahnung von Chirurgie. Ich hatte keine Allgemeinchirurgie gemacht. Ich wurde später dann rehabilitiert, weil ich an der Leiche operiert hatte in Basel in der Pathologie und weil ich eine Übergangszeit – das Inselspital war noch nicht fertig – in Davos verbringen musste. Das wurde mir dann angerechnet. Aber praktisch gesehen hatte ich nichts verloren im OP die ersten anderthalb Jahre so ungefähr, weil ich ja eben gar nicht wusste, wie man das macht.

Mein erster Kontakt mit der Prothese war als Pathologe in Basel. Wir haben gelegentlich bei Leichen die Prothesen entnommen, um die Verbindung der Prothese mit dem Knochen zu untersuchen in Abhängigkeit von der Verweildauer der Prothese. In Basel wurde aus Gründen, die ich nicht weiss, eine Prothese, die hiess Bertolt- oder Berchtold-Prothese, eingesetzt. Ich habe mich dann eingeführt in Bern mit einem Fauxpas. Müller hat mich mitgenommen auf die Chefvisite. Er hat mich dann hervorgerufen, ich war hinten am Ende der Schlange von Oberärzten und Assistenten, hat ein Röntgenbild hochgehalten und gefragt, was das sei. Meine Basler Erfahrung war die Bertolt- oder Berchtold-Prothese, und das habe ich gesagt. Worauf er also sichtbar enttäuscht war, dass ich nicht wusste, dass das jetzt eine Müller-Prothese war. Das war mein Einstieg ins Prothesengeschäft.

Die Beziehung hat sich nachher verbessert, aber eigentlich nie in Bezug auf die Prothetik, die mich tatsächlich nur dahingehend interessiert hat, wie das Phänomen Verbindung Implantat-Knochen funktioniert und wann es funktioniert. Das war für mich interessant, nicht die Prothese an sich. Darum habe ich auch später, als ich dann Chef wurde, beschlossen, nie mehr eine Prothese einzusetzen, und ich habe das in Primärprothese grundsätzlich durchgehalten. Was ich gemacht habe später, waren komplexe Revisionen nach mehrfach schiefgelaufenen Prothesenoperationen. Aber das war mehr Beckenchirurgie und nicht mehr Prothesenchirurgie im eigentlichen Sinn.

Also die Prothetik, wie gesagt, das lief alles so an mir vorbei, beziehungsweise ich habe mich nicht wirklich dafür interessiert. Jakob hat die Hüftkurse erwähnt. Ich war der, der die gelenkerhaltende Chirurgie gemacht hat an den Hüftkursen. Ich habe nie eine Prothese vorgeführt. Ich hätte es gekonnt, aber ich habe es nicht gemacht. Also, nur zum Sagen, meine Prothetikerfahrung und -emotionen sind sehr rudimentär.

Ingold: Bleiben wir einen Moment bei dieser Ausbildungssituation an Müllers Klinik am Inselspital. Herr Riesen, Sie mussten, als Sie von Interlaken nach Bern kamen, nochmals zweihundertmal zuschauen, bevor Sie selbst diese Operation machen durften. Als Nichtarzt habe ich überhaupt keine Ahnung, wie man überhaupt eine Operation lernt. Sie haben mir jetzt ein bisschen eine Vorstellung gegeben: Man schaut zu, übernimmt einzelne Schritte. Wie war das aber konkret organisiert an Müllers Klinik. Die Oberärzte, also Meuli, Boitzy und so weiter haben den jungen Assistenzärzten gezeigt, wie die Operation geht, und ihnen dann einzelne Schritte übergeben. Das war nicht Müller selbst, dem man auf die Finger schauen durfte?

Ganz: Ich denke, es war so. Es waren die Oberärzte. Also zu meiner Zeit dann Boitzy, Wettstein, die die Jungen eingeführt haben. Der eine hat den Operateur machen lassen und hat nur eingegriffen, wenn er etwas falsch machen wollte. Andere haben nur Etappen der Operation übergeben und den Rest selbst gemacht. So wurde dann schliesslich die ganze Operation freigegeben und dann durfte man das auch machen. Das war ganz unterschiedlich. Aber, so wie man den Eindruck hat aus Amerika, dass man relativ rasch selbst etwas machen darf ohne richtige Schulung, das gab es bei uns nicht. Man wurde ziemlich streng eingeführt.

Jakob: Ich erinnere mich, wie ein Kollege von Reinhold, der Axel Rüther aus Deutschland, der 1970 schon etwas erfahrener Assistent war, mir einmal …

Ganz: Er kam mit mir.

Jakob: ... bei der Entfernung einer Osteosynthese- oder Osteotomieplatte an der Hüfte assistiert hat. Diese war praktisch vollständig von Knochen überwachsen. Man musste sie also herausmeisseln. Wie ich das so gemacht habe, mit Hammer und Meissel, hat er mir ermutigend geflüstert: «Ein kleiner Michelangelo.» Das hat mir die Courage gegeben, das Metier und dieses Handwerk doch noch ein bisschen weiterzuverfolgen.

Aber nachher hat mich MEM ins Ausland geschickt, nach Toronto, Kanada, für die Kinderorthopädie, aber zuerst nach Finnland, berühmt für die Rheumachirurgie, die für das ganze Land an einem Ort in Heinola konzentriert war. Damals behandelte man die chronische Polyarthritis noch nicht wie heute primär medikamentös, mit sogenannten Biologika, sondern die Rheumachirurgie war praktisch das Einzige, was man bei «ausgebrannter Erkrankung» und vollständig zerstörten Gelenken, aber auch bei stark entzündlichen Formen, den Patienten bieten konnte. An der Klinik in Heinola hat man enorm viel operiert, und dort bin ich ins kalte Wasser geworfen worden und musste operieren lernen. Das war in der Schweiz nicht in dieser Kadenz möglich. Ich habe dort in einem Jahr 500 Operationen selbst durchgeführt, natürlich am Anfang immer assistiert. Aber in der Schweiz war das nicht so. Da ging das Erlernen des Handwerks ganz, ganz langsam vor sich. Das angelsächsische Prinzip see one, do one, teach one gab es nicht bei uns. Und es ist noch heute so, dass es sehr langsam vorwärts geht. Vielleicht ist dies auch ein Nachteil im Vergleich zum Ausland. Man sollte die praktische Ausbildung rascher voranbringen, damit das Metier schneller erlernt und die Berufstauglichkeit zügig erreicht wird.9 Die Lehre zum Chirurgen, dem orthopädischen Chirurgen, ist eine sehr lange, zu lange Lehre.

Ingold: Herr Albrecht?

Albrecht: Ich kam 1976 an die Klinik. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass die Assistenten natürlich an einer Universitätsklinik anders lernen als an einem peripheren Spital. Ich kam wie Hans Riesen auch von Professor Bandi, Interlaken. Der hat mir gesagt: «Wenn du dann bei Müller anfangen willst, dann musst du schon hier etwas lernen und etwas können.» Schon als Assistent konnte ich dann in Interlaken viele anspruchsvolle Operationen machen. Das wäre undenkbar gewesen an einem Universitätsspital. Bei Müller waren nur die als leicht geltenden Metallentfernungen reserviert für die Assistenten. Müller hat manchmal eine Metallentfernung assistiert, um zu schauen, ob der Assistent begabt ist und wie er mit den Händen arbeitet. Manchmal hat er dann gezählt: «Eins, zwei, drei, vier», und so weiter. Wenn der völlig verunsicherte Assistent dann gefragt hat, was das zu bedeuten habe, hat Müller geantwortet: «Ja, ich zähle natürlich Ihre Fehler!» Am Schluss hat er ihn aber getröstet und gesagt: «Wissen Sie, wenn ein Chirurg bei einer simplen Metallentfernung weniger als dreissig Fehler macht, dann ist er schon ein ganz guter Chirurg.»

Eine wichtige Sequenz in der Ausbildung war immer, dass die Assistenten ein halbes Jahr in die Lindenhofklinik zu Professor Müller durften und dort als Privatassistent bei seinen Operationen assistieren und auf der Abteilung seine Patienten betreuen durften. Dort hat er dann immer gesagt: «Kommen Sie, schauen Sie, wie man es macht.» Er war natürlich ganz klar der Meinung: «Nur an einem Ort kann man schauen, wie man es macht.» Er sagte häufig: «Sie können auch auf der anderen Seite bei der Hüftoperation sein, wo man gar nichts sieht, und dann schauen Sie mir nur auf die Hände. Wenn Sie sehen, wie sich meine Hände bewegen, dann können Sie später auch gut operieren.» Also er war manchmal schon auch etwas speziell in seiner Lehre, wenn es darum ging, das Praktische zu zeigen. Aber er war natürlich ein exzellenter Operateur, und wenn einer die Begabung hatte, auch zu schauen, «wie man es macht», dann konnte er davon später profitieren.

Roland Jakob hat gesagt, wir seien als Assistenten beim Operieren nur langsam vorangekommen. Ich kann mich gut ans erste Jahr als Oberarzt erinnern. Da hast du, Roland, mir gesagt: «Jetzt kommst du in die Wechseljahre.» Das heisst, ich musste dann alle Prothesenwechseloperationen machen. Wenn die Prothese aus irgendeinem Grund locker war und man sie auswechseln musste, dann musste oft der jüngste Oberarzt diese Operationen durchführen. Da ist man schon auch ins kalte Wasser gefallen und musste sich irgendwie durchbeissen. Es war nach meinem Empfinden auch ziemlich stressig, wenn man dann so in einer relativ schwierigen Operation drin war und ein gutes Resultat abliefern musste. Die ersten Oberarztjahre waren die Jahre, wo man auch an einer Universitätsklinik sehr, sehr viel operiert hat und das Handwerk richtig gelernt hat.

Ingold: Prothesenwechsel ist für mich ein interessantes Stichwort, um die Seite zu wechseln. Wir haben jetzt gehört, wie junge Ärzte an Eingriffe herangeführt wurden. Jetzt zur Patientenseite. Das Arzt-Patienten-Verhältnis hat sich in den letzten fünfzig Jahren grundlegend verändert. Bei den Prothesen gab es immer wieder mal Probleme, am Anfang mit Kunststoffabrieb, es kamen Schaftbrüche dazu, Zementierprobleme. Also, dieser Prothesenwechsel ist eben auch ein Beispiel dafür, dass hier immer wieder andere Modelle zum Einsatz kamen. Mich würde da interessieren, wie man mit den Patientinnen und Patienten damals als Arzt darüber gesprochen hat, welches Modell man jetzt einsetzt, eines, zu dem es Langzeitergebnisse bereits gibt, oder ein neues Modell, von dem man eigentlich gar noch nicht so genau weiss, ob es sich wirklich im Körper bewähren wird. Es geht mir um den Unterschied, wie man als Arzt, Ärztin in den 1970er-Jahren mit Patientinnen und Patienten gesprochen hat und wie man das heute macht.

Ochsner: Also das Erste war, dass man nicht immer genau wusste, was für eine Prothese man in der Hand hatte. Zum Beispiel hatten wir lange Zeit müllersche Geradschaftprothesen10 aus einer Chrom-Kobalt-Legierung zum Zementieren in den Händen. Plötzlich lieferte dann die Firma Modelle aus einer Titanlegierung. Da hat man eigentlich nur halb realisiert, dass das eine wichtige Änderung war. Auf diese Weise konnte man den Patienten auch nicht anders aufklären, als so, wie man es bisher wusste. Einige Jahre später mussten die Titanmodelle wegen Lockerung reihenweise gewechselt werden. So war es natürlich damals schwierig, den Patienten gezielt und korrekt aufzuklären, weil man nach den sehr guten früheren Resultaten mit Chrom-Kobalt-Prothesen diese schlechten Ergebnisse überhaupt nicht erwartet hatte.

Abb. 2. Zu Demonstrationszwecken verwendete Müller-Geradschaftprothesen aus dem Jahr 1977, gefertigt aus einer Chrom-Kobalt-Legierung. Baumwollkappen schützten die Prothesenköpfe gegen Beschädigungen. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 14845

Im grossen Ganzen war die Erwartung der Patienten an die Resultate zu Recht positiver, hatten sie doch vor der Operation viel mehr und an schwereren Arthrosen gelitten als im Durchschnitt heute. Da kommt es nicht selten vor, dass man sich bei der Durchsicht einer Röntgenserie fragt, wie dringend bei diesem Patienten die Implantation einer Hüftprothese war. Je weniger für einen Patienten aus einer Operation aber ein möglicher Gewinn zu ziehen ist, desto detaillierter muss der Patient aufgeklärt oder eben auf eine Operation verzichtet werden, sonst gibt es eine Katastrophe. Häufig wird heute die Aufklärung des Patienten an die Mitarbeiter delegiert, oft an junge Assistenten, die die Patienten ins Spital aufnehmen, und nicht mehr durch den Operateur selbst durchgeführt.

Ingold: Gibt es dazu Kommentare?

Riesen: Die Aufklärung heute, die ist natürlich so detailliert, geht eine Stunde. Die Patienten wollen alles wissen, kommen mit dreissig Seiten Internetausdrucken über alle Prothesen und wollen sogar die Prothesentypen bestimmen, die implantiert werden sollen. Das war früher nicht so. Früher kam der Patient zum Arzt und sagte: «Sie wissen doch, wie man das macht. Wird schon gut gehen.» Weiter wollten sie nichts mehr wissen. Also, heute ist das Aufklären eine Arbeit für sich.

Taaks: Die Patienten waren auch Ende der 1980er- oder Anfang 1990er-Jahre noch ausserordentlich geduldig. Wenn der Arzt entsprechend gut mit ihnen geredet hat, haben sie auch Materialfehler ohne Rechtsverfahren akzeptiert. Ich musste als Ingenieur bei Protek eine ganze Reihe von gebrochenen Keramikköpfen behandeln, also abwickeln, wie man das so sagt. Ich kann mich nicht erinnern, dass einer von diesen Patienten geklagt hätte. Es waren, ich glaube, dreizehn, die zum grossen Teil aus Herstellungsfehlergründen gebrochen waren in vivo.

Ingold: Wenn man jetzt zuspitzen würde, könnte man dann sagen, dass dieser geduldige Patient, um Ihren Begriff aufzunehmen, auch eine Voraussetzung war dafür, dass sich eine sichere Hüftgelenkprothese entwickeln liess. Also, dass man eben erst bei der Anwendung in den Spitälern ab einer bestimmten Fallzahl überhaupt Kenntnisse davon hatte, auf was man alles achten muss. Gehörte das Scheitern mit zum Innovationsprozess?

Ochsner: Ich glaube, das muss man etwas anders sehen. Müller war ja bei Van Nes11 in Holland als Gastarzt. Und bei Van Nes in Holland hat er seine erste Arbeit über Hüftprothetik geschrieben. Dort hat er Patienten mit Smith-Petersen-Schalen, die über die entknorpelten Hüftköpfe gestülpt wurden, und die Judet-Prothese, mit der man die resezierten Kopf-Hals-Teile des Femur ersetzt hat, nachkontrolliert. Die Ergebnisse waren katastrophal. Danach hat sich Müller darauf konzentriert, sich den Osteotomien des proximalen Femurendes zuzuwenden, und hat 1957 darüber seine Habilitation geschrieben. Jede der Prothesen, die Müller nachfolgend entwickelt hat, war viel besser als diese Kopfschalen von Smith-Petersen oder diese Judet-Köpfe, die nur selten langzeitige Ergebnisse erzielt haben. Die Teflon- und Flurosintpfannen, die in der Experimentierphase durch Charnley und Müller gebraucht wurden, wurden schon in der Phase der Probeimplantationen eliminiert und nie für den Verkauf freigegeben, sondern nur in den Autorenkliniken verwendet. Deshalb war die Anzahl dieser katastrophalen Ergebnisse mit kurzfristigem Versagen auf die ersten zwei bis vier Jahre limitiert.

Jakob: Der Name Charnley ist jetzt gerade erwähnt worden. Erwähnenswert ist noch, dass das eben eine Zeit war, wo in denselben Jahren, um 1960, gleichzeitig in England und in der Schweiz Pionierleistungen erbracht wurden. Charnley hat seine erste Prothese 1958 mit einem Tefloncup eingesetzt, die nachher, nach einem Jahr, zu einem Fehlschlag geführt hat und entfernt werden musste. Erst durch Zufall eines Mitarbeiters kam er dann auf das Polyethylen. Das war der Zeitpunkt und der Moment, nach dem die Entwicklung Fortschritte gezeitigt hat. Aber das war eben auch dank einer parallelen Entwicklung in zwei Ländern. Sicher war das hilfreich, denn wenn einem ein bestimmter Fehler hier passiert und dort der gleiche Fehler, dann wird das eher noch toleriert, als wenn einer allein in einem Land auf einem Gebiet etwas vorantreiben will. Hier gab es per Zufall zwei Pioniere, die parallel auf demselben Gebiet tätig waren und die dadurch unter gegenseitiger Unterstützung Grosses vorangetrieben haben.

Abb. 3. Die Medizin des Gelenkersatzes entstand an verschiedenen Orten: die Gründungsmitglieder der International Hip Society 1977 in Bern. Mit Maurice E. Müller und John Charnley im Zentrum (Achter und Neunter von rechts). Auf dem Bild sind auch Robert Judet (Neunter von links) und Kenneth McKee (Vierter von rechts). Quelle: Archiv des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern, N Müller MEM 1.1

Ochsner: Es gab noch einen Dritten, Huggler. Er hat das in der gleichen Zeit im Balgrist erlebt. Er war ja der Erste, der bei Sulzer Prothesen herstellen liess.

Jakob: Danke, ja.

Mathys: Ich denke, Charnley war etwas weiter als Maurice Müller. Weil Charnley hat ja auch mit Teflon begonnen, also dieses Zweikomponentensystem: metallischer Schaft, Kopf und eine Plastikschale als Pfanne. Das war relativ neu. Die amerikanischen Prothesensysteme bestanden ursprünglich einfach immer aus einem Metallschaft mit Kopf und einer Metallpfanne. Dieses Teflon erwies sich als sehr schlechte Lösung. Charnley hat dann in seinem Labor einen sogenannten Pendelversuch installiert, um die Reibverhältnisse sowohl in Bezug auf Friktion wie auch Verschleiss zu untersuchen. Die sind dann eben auf dieses hochmolekulare Polyethylen gestossen. Das hat dann wieder schnell Verbreitung gefunden. Es war auch Charnley, der eigentlich das Methylmethacrylat zur Zementierung der Schäfte und der Pfanne eingeführt hat, herkommend von der oralen Chirurgie oder Zahnflickerei.

Ganz: Darf ich nochmals zurückkommen auf den Patienten? Wie wurde der aufgeklärt? Ich glaube, das ist als ein Geben und Nehmen zu verstehen. Der Patient hat auch keine Fragen gestellt. Mir kommt die Erinnerung von damals so vor wie das, was ich jetzt in China erlebe, wo der Patient null Fragen hat. Er wird auch nicht gefragt, ob er einverstanden ist, sondern man bespricht das mit dem lokalen Doktor, und der erklärt das dann in zwei Sätzen der begleitenden, mit vor Angst starren Augen dastehenden Mutter. Dann wird der Patient hinausgeschoben und am nächsten Tag wird er operiert. Es war zwar nicht so krass, aber auch der Schweizer Patient oder der europäische Patient in der damaligen Zeit hat wenig Fragen gestellt.

Ingold: Auch die ganzen Staatsoberhäupter und Berühmtheiten, die Maurice Müller …

Ganz: Sowieso. Die waren die Ärmsten, weil die natürlich ihrem Doktor oder dem Ratschlag ihres Hausarztes vertraut haben. Der kannte den XY und der kannte den berühmten Professor und der hat es dann gemacht. Der Patient war wie ein Opferlamm.

Ingold: Herr Albrecht, Sie haben eine Anmerkung.

Albrecht: Ja, ich möchte auch nochmals etwas zur Haltung der Patienten sagen. Vielleicht ist es nicht so überspitzt, wie Sie das formuliert haben, dass es für die Entwicklung der Orthopädie solche Patienten brauchte. Ich bin auch der Meinung, dass der Patient damals ganz andere Erwartungen hatte. Ich kann mich noch gut erinnern, wenn die Leute gefragt haben: «Ja, wie lange hält denn so eine Prothese?» Dann habe ich immer gesagt: «Wenn sie zehn Jahre hält, dann ist es schon sehr gut.» Vielleicht aufgrund der Erkenntnis, dass man eh nicht weiss, was in zehn Jahren ist, hat man diese eher vage Prognose damals akzeptiert.

Wir haben zum Beispiel angefangen, Titanprothesen anstelle der Stahlprothesen einzusetzen, und diese einzementiert, ein Verfahren, das sich nicht bewährt hat. Man musste viele von diesen Prothesen vor dem Ablauf der prognostizierten zehn Jahre wieder auswechseln. Ich habe nie einen Patienten erlebt, der sich über die Massen aufgeregt hätte oder daraus sogar eine Haftpflichtangelegenheit hätte machen wollen. Als ich Assistent in der Schulthess Klinik war, gab es auch Probleme mit einem Prothesenmodell. Professor Gschwend12, der damalige Chef der Klinik, sagte: «Jetzt müssen wir wohl mit einer Periode mit vermehrten Prothesenwechseln rechnen.» Wenn ich als Assistent mit solchen Patienten reden musste, war das Gespräch eigentlich entspannt, wenn man sich vorstellt, wie es heute vielleicht ablaufen könnte. Man hat einfach akzeptiert, dass es auch Fehlschläge gibt und dass die Prothese vielleicht nicht so lange hält, wie man das vorausgesagt hat.

Ganz: Und das hat auch der Bankdirektor so gemacht. Der hat auch hingehalten für den Wechsel, ohne zu murren.

Ochsner: Vielleicht muss man diese Aussage leicht ergänzen. Ich hatte die erschreckende Zahl von gut 500 solcher Schäfte eingesetzt. Einer meiner Patienten hat nach meiner Kenntnis reklamiert. Ein berühmter Schweizer Orthopäde, der ein wunderbares Buch über die Orthopädie geschrieben hat, Alfred Debrunner13, der am Triemlispital Zürich für die Totalprothetik der Hüfte zuständig war, hat sich auf Wunsch der Firma Sulzer um diese Patienten bemüht und mit ihnen gesprochen. Bei meinem Patienten resultierte das in einer kleinen Ferienhütte in Lappland. Diese hatte er aus dem Geld, das er damals gekriegt hatte, gekauft. In späteren Zeiten wurden Patienten, die wegen Problemen reklamierten, deutlich häufiger.

Jakob: Man darf vielleicht einen Moment bei diesem Punkt verweilen: Warum war die Haltung zwischen einem enttäuschten Patienten und seinem Arzt damals anders als heute? Auch wenn wir da nicht sofort eine Antwort finden, hängt es vielleicht doch damit zusammen, dass die Zahl der tätigen Operateure mit einem Namen sehr bescheiden war. Das heisst, man kam auf eine lange Warteliste und wurde dann endlich operiert und war froh, dass man seine Schmerzen los war, und war auch eher bereit als heute, gewisse Risiken einzugehen und zu ertragen. Das war die Zeit, wo die Orthopädie eben, wenn ich so krass sagen darf, noch kein Business war.

Ganz: Die Erwartungshaltung, die wurde ja auch befördert durch die Reklame, die heute gemacht wird, die schon so in den 1980er-Jahren eigentlich richtig losging, wo Leute sich als Spezialisten, Stars tituliert haben. Der Konkurrenzkampf wurde immer massiver. Ich glaube, dort lag sehr viel Hintergrund für die steigende Erwartung der Patienten.

Kaufmann: Die beiden Herren haben jetzt eigentlich das gesagt, was ich sagen wollte aus der pflegerischen Sicht – das ist ja da, wo ich herkomme. Die Leute hatten in der Regel so Schmerzen, dass das für sie Erlösung war. Dann hat man das nicht hinterfragt. Diese Erwartungshaltung gab es damals gar noch nicht. Und eben auch das Angebot an Operateuren gab es noch nicht. Da war man wirklich froh.

Ganz: Auch die Indikationen gab es nicht. Es gab nur den Patienten, der nur noch am Stock, wenn überhaupt, laufen konnte. Heute ist das vielfach, Herr Ochsner hat das erwähnt, eine Komfortoperation: «Ich möchte wieder Tennis spielen oder Ski fahren.» Das ist die Indikation für eine Prothese, heute.

Taaks: Ich glaube, man muss noch ein Stichwort hier anfügen: Vertrauen. Das sagt eigentlich alles. Die Patienten hatten früher ein viel höheres Vertrauen, und die Ärzte, die Ärzte haben es auch selbst verspielt in den letzten Jahren.

Ingold: Pause.

Teil 2

Ingold: Ich möchte nochmals mit der Berner Klinik einsteigen in diese zweite Runde, bevor wir breiter werden und auf die Protek AG und die MEM-Stiftung zu sprechen kommen. Müllers Klinik hatte eine weltweite Reputation. Von überall auf der Welt kamen Ärzte und wollten zuschauen. Ging diese Anziehungskraft vor allem vom Hüftgelenkersatz aus?

Ganz: Es war primär schon die Prothetik. Aber man kann das nie ganz trennen von der Traumatologie, also von der Osteosynthese und den Implantaten. Aber es war schon eigentlich die Prothetik.

Jakob: Ich erinnere mich an seine Operationsberichte von Hüftprothesenimplantationen. Die waren relativ konzise, kurz. Da stand etwa: «Geringer Blutverlust, Operationsdauer: 35 Minuten, zwölf Gäste.» Das war die Zahl der Zuschauer, der Leute, die eben aus allen Ländern herpilgerten, um diese Operationen anzuschauen. Denn das war schon die Hüftprothetik, die an der Klinik dominiert und Gäste angezogen hat.

Riesen: Es stand auch immer: «Rasch und einfach.»

Ingold: Eine Nachfrage hierzu: Wie hat man sich die zwölf Gäste im Operationssaal vorzustellen? Oder wie konnten die die Operation mitverfolgen?

Jakob: Mit der Zahl zwölf habe ich vielleicht etwas hochgegriffen. Aber es war auf jeden Fall ein echtes Gedränge. Das war dann auch der Grund, weshalb die Greenhouse-Technik, die sterile Operationsboxe, eingeführt wurde, damit eben die geringe Distanz zum potenziell kontaminierenden Zuschauer abgeblockt werden konnte. Professor Müller war das ein enormes Anliegen, und er hat sich sehr engagiert für diese Reinraumtechnik. Parallel dazu haben andere damals noch viel strengere Regeln eingeführt. Bei Professor Hardy Weber in St. Gallen musste man eine Astronautenhaube tragen, und andere waren noch extremer. Vorher war das effektiv ein Problem, ohne dass man sich jetzt direkt an einen infizierten Hüftprothesenfall erinnern kann. Aber das gab es sicher auch, weil eben zu viele Leute im Operationssaal waren.

Ingold: Das ist ein interessanter Punkt, ich möchte Sie darauf festnageln. Sie würden sagen, das Greenhouse wurde installiert, nicht weil die Hüftgelenkoperation eine relativ lange Zeit in Anspruch nimmt, in der halt der Körper offen ist und entsprechend die Infektionsgefahr wächst, sondern Sie würden sagen, dass es vor allem darum ging, einen Umgang mit den Gästen zu finden.

Jakob: Sowohl als auch.

Ganz: Nein, ich glaube, so war es nicht. Man hat kapiert, dass relativ viel Kontamination möglich ist vom Boden, die aufsteigt mit der warmen Luft. Darum hat man gesagt, wenn man die Luft umkehrt, dass man es herunterdrückt und reine Luft herunterdrückt, dann ist das Problem zumindest kausal angegangen. Auf diesem Weg kam die Reinraumtechnik in den OP. Ich glaube nicht, dass es wegen der Zahl der Gäste war.

Jakob: Nein, das war vielleicht ein für Bern etwas spezifisches Problem, dass eben sehr viele Gäste zuschauten.

Ganz: Weil: Er hat sie ja richtig aufgegeilt. Er hat gesagt: «You see, you see!» Er hat sie herangezogen, sodass sie sehen, was er macht mit seinen Fingern: «You see, I have five instruments in my hand.» Solche Sachen hat er gezeigt. Warum sind die Leute gekommen? Weil er eben charismatisch war, auch in seiner Art, wie er operiert hat. Er hat die Leute gepackt und die Leute kamen deswegen, es war ein Spektakel.

Albrecht: Ich möchte doch noch den spezifischen Aspekt der Hüftprothetik, einer Operation mit Implantaten, betonen. Viele Fälle, die gescheitert sind, sind wegen einer Infektion gescheitert. Es gab eine nicht unbedeutende Infektionsrate – ich weiss jetzt nicht mehr genau, wie hoch die Prozentrate am Anfang war. Die Infektion war ein echtes Problem zu Beginn der Hüftprothetik, überhaupt bei Implantaten. Man hat überall geschaut: Wie kann man die Infektionsrate senken? Ich würde schon sagen, dass diese Reinraumtechnik ein wichtiger Teil dieses Bestrebens war. Wir haben dann die Infektionsrate auf unter ein Prozent senken können, wenn mit dieser Reinraumtechnik operiert wurde.

Ich kann mich erinnern, im Lindenhof hat Professor Müller den Einbau eines Reinraum-OP namhaft gesponsert. Die Technik war noch so, dass die laminare Luftströmung von der Decke zum Boden nur in einer Kabine innerhalb des Operationssaales wirkte. Diese war durch einen Glaskasten von der Decke bis auf Kopfhöhe vom übrigen Saal getrennt. Aussen um die Kabine war der Raum oft vollgestopft mit Zuschauern. Diese und manchmal auch das Personal haben unweigerlich den Kopf angestossen, wenn sie die Scheibe nicht beachtet haben. Professor Müller hat zwar nie geraucht, hat aber gerne mit Zigarettenrauch demonstriert, wie die kontaminierte Luft im Glaskasten abgesaugt wird und die Wunde frei davon bleibt. Ich glaube, in der Insel hat es kein Glas gehabt, war nur ein Plastikvorhang.

Ganz: Doch, doch. Im oberen Teil schon, nachher war es ein Vorhang.

Albrecht: Auf jeden Fall war der Glaskasten ein bauliches Problem, weil man immer unten durchschlüpfen musste.

Taaks: Ihre ursprüngliche Frage war: Warum kamen die vielen Zuschauer? Ich möchte diese Frage ergänzen. War die Osteosynthese die grössere Leistung von Professor Müller oder war es die Prothetik?

Aebi: Ich bin keine Fachperson auf diesem Gebiet. Ich kam immer zum Schluss: Er ist ja nie Mitglied der AO Foundation geworden, irgendwie hat er das verlassen dort. Er hat mir immer gesagt: «Ich habe zwei Interessen. Die Hauptsache ist die Frakturbehandlung, die Osteosynthese, und das Hobby, die Freizeit, das ist die Prothetik.» Wenn man sich umhört, in den Frakturen, in der Osteosynthese, wird er gar nicht erwähnt. So wie ich das begriffen habe und das war Mitte der 1970er-Jahre …

Abb. 4. Operationskabine mit ausgeklügelter Belüftungs- und Filtertechnik, genannt «Laminar Air Flow», am Lindenhofspital Bern. Gäste verfolgten die Operation ausserhalb der Kabine mit, was die Infektionsgefahr senkte. Foto: L. Schwendener, Privatarchiv J. Küffer

Ganz: Aber ist das nicht eine Entwicklung, die sehr viele am Skelett tätige Chirurgen durchmachen? Zuerst sind sie Chirurgen, Traumatologen und nachher, wenn sie älter werden, wird die Prothetik so das Hauptgeschäft. Ich glaube nicht, dass man eine Reihenfolge machen kann, wenn, dann eine zeitliche Reihenfolge.

Aebi: Wenn Sie mich fragen, er war effektiv enttäuscht vom Widerhall. Eben zum Beispiel mit Davos. Die wissen gar nicht mehr, wer der Müller ist. Dabei ist er doch derjenige, man muss nur die frühen Arbeiten nehmen, diese Fünfergruppe oder die Dreizehnergruppe,14 er war derjenige, der die Sache in Bewegung gebracht hat. Er war der Genius maximus für mich. Er war wirklich, das habe ich oft gefühlt, enttäuscht, was der Return war, was er dort zurückgekriegt hat. Bei der Prothese war das viel einfacher. Dort hatte er eben auch diese Zuschauer. Dort gibt es für viele den Müller und den Charnley. Und dann kommt lange nichts mehr, oder nicht?

In der Frakturbehandlung gab er den Anstoss mit dem Schneider und dem Allgöwer, das muss ich ja alles nicht sagen. Wenn man diese frühen Geschichten liest, dann ist das keine Frage, dass er der Leading Guy war, der die Grundideen hatte. Er hat ja nichts Neues erfunden, aber er hat sofort gesehen, wo die Probleme waren, zum Beispiel eben, dass man die richtigen Instrumente haben muss. Das ist genauso in der Prothetik wie in der Frakturchirurgie, oder nicht? Und dann die Implantate und dass man möglichst systematisch vorgehen soll, nicht einmal so, einmal so, dass man das Zeugs systematisieren sollte. Meiner Ansicht nach kommt er dort zu kurz, wenn man die Geschichte der Frakturbehandlung anschaut, eben die Osteosynthese.

Ingold: Ich möchte hier ein Zitat vom bereits erwähnten Alfred Debrunner in die Runde werfen, in dem es auch um die Bewertung von Müllers Schaffen geht. Herr Debrunner schrieb 2010 in einem Überblick über die St. Galler Orthopädie: «Auch für Müller begann in Bern eine neue Ära. Auch dort waren die Erwartungen an den grossen Zauberer enorm. Seine weit gesteckten Ziele hatte er im Wesentlichen erreicht, auf der Weltbühne war er der umschwärmte Star. Doch seine grosse Zeit hatte er hinter sich, den Zenith [sic] bereits überschritten. Was noch kam, hatte nicht mehr den Glanz des Aufbruchs.»15 Also Alfred Debrunner sagt, 1967 hätte Müller den Zenit überschritten gehabt. Gibt es dazu Meinungen?

Jakob: Zu Ueli Aebis Kommentar. Ich möchte mich eigentlich dem anschliessen. Die grösste intellektuelle Leistung von Professor Maurice Edmond Müller sehe ich eigentlich auch mehr in der Traumatologie, in der Osteosynthese. Was er da zustande gebracht hat, das war eine Kombination eines gewieften Analytikers und eines enormen Innovationsgeists, der die existierenden Probleme erkannt hat und der nachher auf eine äusserst konsequente Art und Weise das, was es dazu brauchte, umsetzen konnte, primär mit seinem Freund Robert Mathys und dann mit dem Dreizehnergremium von chirurgischen Chefärzten, fast alle aus dem Kanton Bern, mit der Gründung der AO im Jahre 1958. Das war die Pionierleistung. Wenn er dort auch Etliches von andern übernommen hatte, von Danis16 zum Beispiel, ist das keine Schmälerung seines Verdienstes. Er war der Prepared Mind, der das eben weiterentwickeln und tragen konnte.

Ich möchte den Anteil der Hüftprothetik an seinem Werk nicht schmälern, aber die immer wieder für den Traumatologen bei den Frakturen und bei der Wahl und Art der Osteosynthese erscheinende Herausforderung und das neu auftauchende und zu interpretierende Problem, das war das, was ihn am meisten faszinierte, wage ich zu behaupten. Dort war er uns allen, natürlich auch über die Vermittlung seines Wissens beim praktischen, in die Klinik eingewiesenen Fall und auch über die jährlichen AO-Kurse in Davos, der grosse Lehrer, auch dann, wenn einmal etwas nicht perfekt glückte. Die Hüftprothetik, die verlief ja bald einmal sehr standardisiert ab. Ich habe das vorher illustriert mit den kurzen Operationsberichten. Vielleicht war diese individuelle und vorausgeplante sowie genau mittels seiner präoperativen Planung vorbereitete operative Leistung des Chirurgen für den Patienten mit dem sofort eintretenden und unmittelbaren Erfolg der Schmerzbefreiung sowie dem funktionellen Gewinn und einer schmerzfreien Gehfähigkeit zwar fast noch eindrücklicher als derjenige bei einer Osteosynthese für einen verunfallten Patienten.17 Für uns aber, in unserem Verhältnis vom Schüler und Lehrling zu unserem Lehrmeister und Vorbild, erachte ich das, was er in der Traumatologie geleistet hat, als noch bedeutender. Und ich bin davon überzeugt, dass das überdauern wird.

Ochsner: Ich glaube, es gibt da noch andere Belege dazu. 1957 ist Maurice Müller aus dem Balgrist ausgetreten, weil er kein Privatbett kriegte. Während dreier Jahre ist er durch die Schweiz gereist, nach St. Gallen, nach Liestal, nach Weiss-nicht-wo. Überall hat er Besuchstag gehabt. Dann kam er nach Chur zu Allgöwer: «Was heid Ihr hüt zum Operierä?» Er kam mit seinem Koffer und operierte Traumatologie und Traumafolgen. So wurde er bekannt in der ganzen Schweiz. Innerhalb von drei Jahren wusste jedermann, wer er war, sodass 1960 ein Kurs18 zusammenkam, wo wirklich Krethi und Plethi von der Schweiz dabei war und mitmachen wollte. Eine Explosion. Ein zweiter Beleg ist Christoph Meuli, den wir interviewt haben. Ende 1960 war er gerade von Basel zu Müller nach St. Gallen gekommen. Die Klinik in St. Gallen wurde vor dem ersten AO-Kurs noch gar nicht in Betrieb genommen. Wir fragten ihn: «Wie war denn das, wie haben Sie da die Teilnehmer an dem ersten Kurs angeleitet?» Da sagt er: «Wir waren einfach immer gerade einen Schritt voraus.»19 Dasselbe hat Urs Heim empfunden. Sein Buch über die AO beschränkt sich auf die Entwicklung dieser ersten paar Jahre.20 Es ging eine Faszination aus von Maurice Müller.

Taaks: Noch eine Bemerkung. Ich denke zu allem, zur Endoprothetik wie zur Traumatologie, gehören zwei wesentliche Punkte, die er auch erfasst hat, nämlich die wissenschaftliche, biomechanische Untermauerung und die Dokumentation und dann die Lehre, die professionelle Ausbildung, die damit verbunden war, das gehört auch dazu.

Ingold: Herr Albrecht, Sie haben einen Background im Lindenhofspital. Deshalb möchte ich Sie auf die Rolle von Maurice Müller am Lindenhofspital ansprechen. Müller hatte ja einen speziellen Vertrag, der ihm neben seiner Tätigkeit am Inselspital beziehungsweise an einer Universitätsklinik von Beginn an auch das Operieren an einem Privatspital erlaubte. Wie würden Sie aus der Perspektive des Lindenhofspitals Müllers Bedeutung einschätzen? War er eine sehr wichtige Figur für dieses Spital oder war er eben ein Star, der seinen Zenit überschritten hatte?

Albrecht: Ich denke, jede Lebenskurve hat irgendwo ihren Zenit und geht rauf und dann langsam runter. Ich weiss nicht, ob das jetzt so wichtig ist. Ich möchte zur Diskussion von vorher sagen: Müllers Vorgehen in der Verbreitung der Prothetik war eine Kopie von dem, was er gemacht hat in der Traumatologie. Deshalb denke ich auch, die Pionierleistung war wahrscheinlich dort. In den Davoser Kursen hat er auch gezeigt, wie man eine Methode weltweit verbreitet, indem man die Leute lehrt, wie sie anzuwenden ist. Die Hüftkurse waren in dem Sinn eine Kopie von den Davoser Kursen. Müller hat immer gesagt: «Man muss nicht einfach irgendwie etwas propagieren und dann gehen die Leute hin und machen etwas ganz anderes daraus. Viele Fehler kommen zustande, nur weil man nicht genau weiss, wie die Tricks gehen.» Also das Praktische war für ihn auch immer eine sehr wichtige Sache. Deshalb, wenn Sie fragen: «War in Bern eigentlich die Luft schon draussen?», kann man sagen: «Die Pionierleistung hatte er hinter sich.» Auf der anderen Seite: Die Hüftkurse haben – soweit ich mich erinnere, Reinhold – 1980 oder so begonnen …

Ganz: Zum Teil vier pro Jahr.

Abb. 5. Auskunftspersonen im Gespräch: Peter E. Ochsner, Edith Röösli, Willi Frick, Robert Mathys jun., Erich Schneider, Lotti Schwendener, Reinhold Ganz …
Abb. 6. … Hermann Taaks, Dora Kaufmann, Hans Riesen, Roland Jakob, Hans Ulrich Albrecht und Ueli Aebi am 18. November 2021 in Bern. Quelle: Archiv des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern

Albrecht: Ja. Von überallher sind die Leute gekommen und haben da geschaut, wie man eine Hüftprothese einsetzt. Noch ein anderer Aspekt zu diesen Hüftkursen: Die ganze Klinik war dort eingespannt. Jeder musste dort Vorträge halten. Das war auch Teaching. Da war man einfach dabei, bei der ganzen Sache. Deshalb denke ich, man muss es schon differenziert anschauen. Dann kam die Geradschaftprothese – ich weiss nicht mehr genau, wann – in der Berner Zeit, 1977 oder so. Das gab der Hüftprothetik eine neue Dynamik. Die Geradschaftprothese verbreitete sich auf der ganzen Welt.21

Im Lindenhofspital wurde praktisch keine Traumatologie gemacht. Müller hat dort hauptsächlich Patienten, die aus der ganzen Welt kamen, Berühmtheiten, in einem privaten Setting operiert. Dabei, das habe ich immer gesehen, wusste er ganz genau, welche Patienten in ein Universitätsspital gehörten und welche Patienten man in einem Privatspital operieren konnte. Das hat er nicht aus pekuniärer Sicht so entschieden, sondern aufgrund der Risiken, die ein Patient mit sich brachte. Er hat im Interesse der Patienten entschieden, denen er das Beste bieten wollte. Patienten mit grösseren Risiken hat er im Inselspital operiert, einfachere Fälle im Privatspital. Ich habe sein Gespür dafür immer bewundert.

Dann möchte ich auch noch etwas zum wirtschaftlichen Aspekt einbringen. Natürlich war die Prothetik, so wie es heute schon gesagt wurde, auch ein Geschäft. Aber er hat immer viele Patienten gratis operiert. Wenn ihn der Fall interessierte, wenn er das Gefühl hatte: «Das ist etwas, wo mein Skill gefragt ist», und der Patient war nicht gross bemittelt, dann hat er nie eine Rechnung gestellt. Er hatte auch eine sehr, sehr soziale Komponente, die auch im Lindenhof gut zur Geltung gekommen ist. Damals war der Lindenhof ja noch eine Rotkreuz-Stiftung. Die Werte und die Werthaltung haben übereingestimmt. Das habe ich auch immer bewundert bei meinem ehemaligen Chef. Er hatte wirklich Werte und machte nicht einfach nur Business.

Ganz: Der Ibn Saud brauchte eine Prothese. Das war der damalige saudische König. Das war ein Hin und Her und am Ende ging er zum Charnley in England und liess sich dort operieren, aber europäische Koryphäen, unter anderem der Maurice Müller, wurden herbeigerufen, zumindest, damit sie da sind, wenn irgendetwas wäre, und man noch diesen fragen wollte oder sollte. Und dann kam er zurück und dann wollten wir alle wissen – die Zeitungen waren voll davon –, wie das so ist mit einem König: «Welche Rechnung stellt man einem König?» Da hat er sich umgedreht: «Einem König stellt man keine Rechnung. Der bezahlt entweder ein Spital oder es gibt nichts.»

Ingold: In Klammern, weil die Hüftkurse jetzt schon mehrmals erwähnt wurden: Ich möchte über die Hüftkurse sprechen, wenn Dora Kaufmann erklärt hat, was sie für die Protek AG gemacht hat. Ich habe jetzt aber, bevor wir zu Protek kommen, noch Herrn Schneider, Herrn Mathys und Herrn Jakob auf der Liste. Herr Schneider.

Schneider: Die Frage war ja, noch einmal zurückkommend: Ist es jetzt die Osteosynthese oder ist es der Gelenkersatz? Ich habe in den Jahresberichten des Müller-Instituts für Biomechanik, die ich netterweise von Ihnen wieder erhalten habe, nachgelesen, wie es gegründet wurde: «Das Ziel dieser Institution besteht darin, Angehörige der Medizinalberufe im Bereich der Chirurgie des Bewegungsapparates und der angrenzenden Gebiete, inklusive der Grundlagenwissenschaften, weiterzubilden sowie Forschung auf den erwähnten Wissensbereichen zu betreiben, die zumindest teilweise auf die praktisch klinische Anwendung ausgerichtet sein soll.»22 Ich finde, das beschreibt es sehr gut. Professor Müller hatte beide Seiten, vielleicht anfänglich stärker die Osteosynthese. Als dann das Forschungsinstitut in Davos lief, entstand wohl der Wunsch: «Ich möchte ein ähnliches Institut in Bern», und dann war ja Professor Perren23 auch gleichzeitig der Chef davon. Sie haben sich eher ergänzt als konkurriert.

Bei uns im Institut in Bern, wo wir viel Forschung in der Osteosynthese gemacht haben, aber auch viel im Gelenkersatz, ist uns Professor Müller häufig als Interessierter am Gelenkersatz begegnet und hatte dort Fragen und Vorstellungen. Er hat auch Entwicklungen und Untersuchungen angeschoben. Also ich wüsste jetzt nicht, welcher Teil wichtiger wäre von diesen beiden Seiten, und beides beruhte ja auf der Kenntnis von den Eigenschaften des Bewegungsapparates, der Chirurgie und der biologischen Begebenheiten, die behandelt werden mussten.

Mathys: Ich wollte eigentlich nur einbringen, dass es nicht korrekt wäre, Müller zu reduzieren auf die initialen technischen Entwicklungen, auf die paar Jahre bis 1964. Er war wesentlich der Mitgründer bei der ganzen AO-Organisation, das heisst die AO-Organisation als Forschungsorganisation, als Dokumentationsorganisation, als Schulungsorganisation und dann parallel auch natürlich bei Protek, dem Labor für Biomechanik und solchen Organisationen. Er hat wesentlichen Impuls gegeben eben auch in der Biomechanik, er hat teilweise auch initialisiert, dass die Prüfungen von Prothesen nach Norm erfolgen und so weiter und so weiter. Die ersten Gussprothesen waren ja eigentlich katastrophal in ihrem Erfolg, weil sie alle gebrochen sind. Das hat dann Auswirkungen gehabt auf Testung, auf Norm und so weiter und so weiter.

Jakob: Schauen wir doch, was Professor Müller, nachdem er sich von den universitären Verpflichtungen vor dem Erreichen des 65. Altersjahres verabschiedet hatte, noch so gemacht hat. Er ist zurückgetreten, weil er sich vermehrt der Forschung im Müller-Institut widmen wollte. Welchem Projekt hat er sich dort mit voller Energie zugewandt? Er hat nicht primär an der Prothetik herumstudiert, sondern er ist zum Studium der Frakturen zurückgekehrt. Er hat sein Lebenswerk vervollständigt mit einem traumatologischen «Spätwerk» unter Erschaffung seiner Klassifikation aller Frakturen.24 Als Grundlage diente ihm dazu die bereits von Lotti Schwendener erwähnte Sammlung aller auf Karteikarten dokumentierten Frakturen der AO, die an der Murtenstrasse der Bearbeitung harrten. Für diese kapitale Arbeit engagierte er ein letztes Mal uns Mitarbeiter, Assistenten und Oberärzte und leitende Ärzte seiner ehemaligen Universitätsklinik. Alle von uns erhielten ein Gebiet zum Beackern. Wir machten uns daran, Hunderte von Dokumentationskarten aus den Karteien herauszuholen zur Beantwortung der Frage: Gibt es da irgendein verbindendes System, das man anwenden könnte, um eine allgemeine Klassifikation zu kreieren?25 Und dort zeigt sich vielleicht ein letztes Mal deutlich, dass sein Herz eben der Traumatologie sehr verhaftet war und sie ihm bis zum Schluss das Liebste und Nächste seiner ihn über ein ganzes Leben begleitenden Wissensgebiete war, oder das, was ihn am meisten beschäftigte.

Ingold: Jetzt wird es Zeit zu Protek überzugehen. Wir haben die Dokumentation angesprochen, die Hüftkurse kamen schon vor. Herr Frick, ich vermute, dass Sie der Erste sind, der in dieser Runde für Protek tätig war. Sie kamen 1984 von Sandoz zu Protek. Was für eine Firma trafen Sie damals an?

Frick: Ja, ich habe 1984 mit der Arbeit bei Protek begonnen. Mein Eindruck war: ein wilder Haufen. Wir waren 25 Personen. Wir haben uns noch jeweils zum Kaffee getroffen, man hat sich zusammengesetzt. Es war ein grosser Unterschied zur durchstrukturierten Sandoz, wo ich hergekommen bin. Mein Eindruck war, dass Protek von Professor Müller bestimmt wurde. Er hatte überall das letzte Wort. Mit seiner Protek-TK26, PTK haben wir das genannt, hat er den letztgültigen Entscheid über eigentlich alle wichtigen Fragen bei sich behalten. Die Protek-TK war eine Gruppe von Orthopäden, von ihm bekannten Orthopäden. Die PTK wurde etwa vier Mal im Jahr abgehalten. Aber mein Eindruck war eigentlich immer: Im Protokoll stand dann das, was Professor Müller entschieden hatte.

Abb. 7. «Ein wilder Haufen». Kaffeepause in der Protek AG, 1980er-Jahre. Quelle: Archiv des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern, N Müller MEM 11.4_32

Es war wahrscheinlich für die Geschäftsführer keine einfache Sache, eine Firma zu führen, wo in allen bestimmenden Fragen eine Person, also Professor Müller, die letzte Entscheidung getroffen hat. Zum Zeitpunkt, wo ich bei Protek mit der Arbeit begonnen habe, hat Herr Curradini mit neuen Autoren – also Orthopädenerfindern, die wir Autoren genannt haben – die Basis der von Protek angebotenen Produkte zu verbreitern versucht. Bis zu diesem Zeitpunkt war im Wesentlichen das Programm von Professor Müller bestimmend. Professor Müller hat auch immer wieder gesagt, dass mit seinen Implantaten jede im Operationssaal anzutreffende Situation gelöst werden könne. Mithilfe seiner Implantate gäbe es eigentlich kein Problem, welches nicht orthopädisch gelöst werden könne. Herr Curradini hat dann versucht, neue Autoren mit neuen Ideen, vor allem in der zementfreien Verankerung, in die Firma einzubringen. Das war die Situation, wie ich sie bei meinem Eintritt bei Protek angetroffen habe.

Ich habe während etwa vier Jahren eine weitere Berufslehre bei Protek gemacht, für mich war das ganze Gebiet neu. Ich hatte aber, als ich damals bei Sulzer in den 1960er-Jahren eine Mechanikerlehre absolvierte, einem Kollegen zugeschaut, der Kugeln auf krumme Schäfte aufschweisste. Ich hatte damals keine Ahnung, worum es sich da handelt. Aber damals habe ich meine ersten Hüftprothesen gesehen, das war 1963/64.

Die ersten Jahre waren auch deshalb turbulent, weil wir damals einen Geschäftsführer hatten, der versucht hat, Protek in eine neue Richtung zu bewegen.27 Er selbst ist auch von Sandoz gekommen, sein Hintergrund waren die Finanzen, und er hat die Firma aus diesem Gesichtswinkel auch geführt. Er hat zum Beispiel versucht, die Preise beim Hersteller Sulzer in Verhandlungen zu drücken, hat das bei grossen Serien auch fertiggebracht. Dabei ging vergessen, dass auch Randgrössen von Prothesen immer verfügbar sein mussten. Sein Gegenpart von Sulzer, Otto Frey, der hat das dann ausgenutzt, hat die Preise bei kleineren Randgrössen erhöht. So ist am Schluss dann die Rechnung für Sulzer aufgegangen, für Protek weniger.

Abb. 8. Produktpräsentationen ausser Haus gehörten zum Marketing der Protek AG. Die Vertreterinnen transportierten die Prothesen und Instrumente in grossen Koffern. Quelle: Archiv des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern, N Müller MEM 11.4_30

Als dieser Geschäftsführer 1987 die Firma verliess und Giorgio Curradini wieder übernahm, da ist die Post aus meiner Sicht so richtig abgegangen. Autoren aus jeder Weltgegend haben sich bei Protek gemeldet und wollten mit Protek Prothesen entwickeln. Das hat dann dazu geführt, dass von Protek so viele Prothesen angeboten wurden, dass diese auf dem Markt gar nicht mehr richtig eingeführt werden konnten. Die Hersteller, die die Entwicklung von neuen Implantaten vorfinanzierten, haben sich mit der Zeit geweigert, weitere Entwicklungen aufzunehmen, wenn im Gegenzug nicht grössere Serien bestellt wurden. Endgültig geändert hat sich die Situation dann 1989, als Professor Müller einen Teil der Firma verkauft hat und der Einfluss von Sulzer auf die Entscheidungen bei Protek immer stärker spürbar geworden ist. Ab 1992, als Protek ganz von Sulzer übernommen worden war, wurden uns auch die Geschäftsführer vom Konzern, ja, «angeboten». Von diesem Zeitpunkt weg war Protek im Niedergang. Als 1995 Protek aufgelöst wurde, also in Sulzer aufgegangen war, war das der Endpunkt dieser ganzen Geschichte.

Ingold: Herr Taaks, Sie kamen 1986 zu Protek. Sie haben die gleiche Zeit erlebt wie Willi Frick. Deshalb auch die Frage an Sie …

Taaks: Ich hatte den Eindruck, dass der Einfluss von Professor Müller nicht mehr so gross war. Sie haben mich auch nach der Firmenkultur gefragt. Ich möchte die Frage durch Vergleichen beantworten. – In Parenthese: Ohne Vergleichen gäbe es kein Leben. Denn Vergleichen ist die Voraussetzung für jede Regelung, also für jedes höhere Lebewesen. – Ich kam von einer Firma, in der ausserordentlich streng kontrolliert wurde, von einer deutschen Firma in der medizinischen Elektronik in Freiburg im Breisgau, tausend Leute. Ich leitete die Entwicklung mit ungefähr hundert Leuten. Diese Firma war in amerikanischem Besitz. Zum Beispiel prüfte der Geschäftsführer monatlich, ob die Telefonkosten eingehalten waren. Jeder hatte ein Telefonbudget. Ich denke, mehr muss ich nicht sagen. Die Protek-Kultur war ganz anders. Viel mehr Freiheit, viel weniger Kontrolle.

Sie fragten: «Mit welchen Schwierigkeiten hatte Protek zu kämpfen?» Kommerzielle Schwierigkeiten gab es keine. Der Umsatz war 1987 108 Millionen Schweizer Franken mit 39 Mitarbeitern. Die Margen waren sehr, sehr gut. Das lief wunderbar.

Fachlich passte ich überhaupt nicht in die Firma. Ich hatte an der TH München Elektrotechnik studiert, Nachrichtentechnik, war dann über die Diplomarbeit und die Doktorarbeit in die Medizintechnik geraten. Ich war auch nicht der Wunschkandidat. Ein Bewerber aus Zürich hatte abgesagt, weil seine Frau auf keinen Fall nach Bern wollte. Ich bekam eine Chance.

Ich sah die Firma so, dass ein paar hochbegabte Individualisten die Firma bestimmten und vorwärtsbrachten. Da war Giorgio Curradini, ein Mann mit genialem Marketinggespür, jesuitischer Schule, mit besten persönlichen Kontakten zu den wichtigsten Kunden. An zweiter Stelle möchte ich Willi Frick nennen, den Sie gerade gehört haben, der sich sehr schnell ein sehr gutes Fachwissen in der Hüftprothetik erworben hatte und in bester Harmonie mit Sulzer arbeitete. Sulzer war aus der Sicht von Protek ein Mann: Otto Frey. Willi Frick und Otto Frey verstanden sich glänzend. Eine grosse Leistung von Willi Frick war die Aufklärung der Problematik mit der zementierten Titanprothese. Es gab rätselhafte biologische Reaktionen des Knochens. Beim Aufspüren der Ursache leistete Willi Frick zusammen mit Professor Hans-Georg Willert, Göttingen, hervorragende Arbeit.28 Das sollte man hier für die Historie festhalten.

Dann gab es noch Stefan Freudiger, ein begabter Maschinenbauingenieur. Als ich zu Protek kam, entwickelte er ein Polymerimplantat als Ersatz des vorderen Kreuzbandes. Das Projekt scheiterte. Mich kostete dieses Kreuzband fast den Kopf. Doktor Soiron hatte mir aufgetragen, mich um Qualitätssicherung und Regulatory Affairs zu kümmern. Ich wollte die Einführung dieses künstlichen Kreuzbandes in Frankreich verzögern, weil es noch nicht genügend erprobt war. Dadurch zog ich mir den Zorn von Madame Micheline Bauer, Synthes Montbéliard, zu. Ich habe dann noch eine Weile überlebt.

Nun zu Doktor Rolf Soiron, von 1983 bis 1987 Geschäftsführer der Protek AG, und damit zu den Schwierigkeiten in der Firma, nach denen Sie gefragt haben. Ich vermute, dass Professor Müller Rolf Soiron nicht mit der Geschäftsführung der Protek AG betraut hat, weil Soiron eine neue Strategie durchsetzen sollte; aber Herr Aebi weiss das vielleicht besser. Zwischen Rolf Soiron und Professor Müller bestand eine familiäre Verbindung.29 Rolf Soiron war verfügbar, gerade von Sandoz weggegangen.

Rolf Soiron hatte vielleicht die Perspektive eines externen Beraters. Protek lebte in einer intimen Symbiose mit Sulzer, konnte ohne Sulzer nicht existieren. Umgekehrt hätte Sulzer ohne Protek existieren können, weil es eine Parallelbeziehung gab, nämlich mit Allo Pro, einer Firma, die ganz ähnlich wie Protek das Interface war, das Sulzer brauchte, um einerseits den Input von den Ideenträgern, von Ärzten – wir nannten sie «Autoren» – zu bekommen. Andererseits sorgte Allo Pro wie Protek für Marketing und Verkauf. Sulzer hatte also parallel zu Protek Allo Pro, die aber in jeder Hinsicht unbedeutender war, mit einem kleineren Umsatz als Protek. Der Orthopäde, der am Anfang von Allo Pro stand, war Doktor Arnold Huggler.

Protek war in hohem Masse abhängig von Sulzer. Ein Unternehmensberater hätte gesagt: «Diese Abhängigkeit ist ein Risiko. Wir müssen sie reduzieren.» Ein Risiko war auch die Abhängigkeit von Mathys. Mathys entwickelte gemeinsam mit Protek die Instrumente und produzierte sie in hervorragender Qualität. Der wesentliche Grund, warum ich eingestellt wurde, war: Ich sollte Soiron helfen, diese Abhängigkeit von Sulzer zu reduzieren. Von wo konnte Protek Know-how hereinholen? Man sah sich um nach anderen Firmen, mit denen man zusammenarbeiten konnte.

Ein Risiko war auch Proteks Schwäche in der Knieendoprothetik. Protek hatte die Knieprothese von Freeman-Samuelson, die aber in die Jahre gekommen war. Das Zahlenverhältnis Knie-/Hüftprothesen war in den USA lange Zeit viel grösser als in Europa, wuchs aber in den 1980er-Jahren auch in Europa schnell. Ich bekam von Rolf Soiron den Auftrag, mich um die Knieprothesen zu kümmern, und stellte einen Ingenieur ein, der die erste Protek-Knieprothese entwickelt hat. Das führte zu Konflikten. Das gab Streit um die Ressourcen bei Sulzer. Und die Chemie zwischen dem Chemiker Willi Frick und dem Maschinenbauingenieur Walter Moser passte nicht. Ich denke, einer der wichtigsten Impulse die Rolf Soiron gegeben hat, war der Auftrag zur Entwicklung eigener Knieprothesen.

Ein weiteres Risiko, das generell die Medizintechnik bedrohte, kam von den Regulations. Implantate wurden immer mehr staatlich reguliert, in den 1980er-Jahren zunächst kaum europäisch. Die EU spielte noch keine Rolle. Die Medical Device Directive 93/42/EWG der Europäischen Gemeinschaft wurde erst im Juni 1993 in Kraft gesetzt. Die Homologation in Frankreich war schon viel früher wirksam. Aber bei den Verkäufen in den USA mussten die Protek-Produkte von der FDA zugelassen werden.30 Regulatory Matters gehörten zu den wenigen Aufgaben, für die ich von meiner früheren Arbeit Erfahrung mitgebracht hatte.

Ingold: Danke. [Pause]

Teil 3

Ingold: Wir sind bei der Protek AG stehen geblieben. Wir haben von Herrn Taaks gehört, dass Willi Frick Probleme, die es mit Titanschäften gegeben hatte, analysieren musste. Das führt mich zu folgender Frage: Was war eigentlich die Arbeitsteilung zwischen der Protek AG und den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Sulzer, allenfalls auch von Mathys? Also war die Technische Abteilung von Protek vor allem da, um Probleme zu lösen – im Hüftbereich jetzt, im Kniebereich wurde versucht, ein eigenes Band zu entwickeln.

Frick: Zu diesem Thema möchte ich in zwei Minuten vorausschicken, wie es überhaupt zu den Titanprothesen gekommen ist. Die Geradschaftprothesen wurden ja anfänglich aus rostfreiem Stahl, dann aus der Kobalt-Chrom-Legierung hergestellt. Die haben klinisch bestens funktioniert. Gerade etwa zur Zeit, wo ich zu Protek kam, also Mitte der 1980er-Jahre, wurde von Klinikern an uns herangetragen, dass es Patienten gäbe, welche an einer Metallsensitivität litten, an der Nickelallergie. Diese Fälle wurden uns gemeldet, wir haben sie an Sulzer weitergeleitet. Es hat aber nie einen schlüssigen Beweis dafür gegeben, dass eine allfällig vorhandene Nickelallergie – das kennt man ja von Hautreaktionen –, dass solche Reaktionen auch im Zusammenhang mit Endoprothesen mit Nickel zu Problemen geführt hätten. Es hat immer wieder Berichte von Ärzten gegeben, aber es konnte nie belegt werden. Trotzdem war das ein Thema bei Protek. Und es war die Zeit, wo Titanlegierungen von Sulzer in grösserem Ausmass bearbeitet werden konnten. Es gab die Möglichkeit, die Geradschäfte aus Titanlegierung herzustellen. Damals war die Ansicht, «Titanlegierung ist auf jeden Fall besser als Kobalt-Chrom», nicht zuletzt eben deshalb verbreitet, weil Titanlegierungen weder Nickel noch Kobalt enthalten und solche Sensitivitätsreaktionen deshalb grundsätzlich ausgeschlossen waren. Das war ein Grund dafür, dass die Geradschaftprothesen, die zementierten, aus Titanlegierungen bei Protek eingeführt wurden. Ich verhehle aber nicht, dass es möglich war, die Verkaufspreise für die Geradschäfte aus Titanlegierungen anzuheben und die Profitmarge war dadurch auch besser für Protek. Es waren sicher beide Gründe dafür verantwortlich, dass man die zementierten Titanprothesen eingeführt hat. Es gab damals keine Anzeichen für die Problematik, die sich dann daraus entwickelt hat.

Was ist geschehen? Vor allem von den kleinen, also biegeweichen, elastischen Titanprothesen wurde uns zunehmend gemeldet, dass die Patienten Schmerzen hatten. Wir haben solche Prothesen erhalten und zu Sulzer, zum Hersteller, weitergeleitet. Doktor Semlitsch hat diese untersucht und hat Korrosionsstellen gefunden. Das wurde dann in den Zeitungen als «rostende Sulzer-Prothesen» vermarktet. Die Korrosionsstellen waren völlig unerklärlich für die Metallurgen – für uns sowieso. Es hat noch Jahre gedauert, bis eruiert wurde, was da abgelaufen war. In Kürze: Die Prothesen haben sich in ihrem Zementmantel gelockert, es gab Körperflüssigkeit zwischen dem Zementmantel und der Prothesenoberfläche. Wenn sich die Prothese leicht bewegt hat, dann wurde Metall abgerieben, und die blanke Titanoberfläche, sie ist sehr reaktiv, reagiert sofort mit Sauerstoff. Aus dieser Reaktion ist dann ein saures Milieu entstanden, der pH ging runter. Darauf wurde die ganze Oberfläche der Prothese instabil, sodass dieser Oxidationsprozess immer schneller ablief, mit der Folge – das weiss ich von Professor Ganz –, dass die Patienten, glaube ich, gedroht haben, aus dem Fenster zu springen, wenn Sie nicht eingegriffen hätten. Ist das richtig?

Abb. 9. Modulare Müller-Geradschaftprothese, gefertigt aus einer Titanlegierung, circa 1984. Auf den Konus (links) liess sich ein separat ausgewählter Prothesenkopf aufstecken. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 14869

Ganz: Nicht ganz so, aber ungefähr.

Frick: Es ist später eruiert worden, was da abgelaufen ist. Man kann das – und man soll das auch – als Fehler bezeichnen. Voraussehbar war es aus meiner Sicht aber nicht, doch man hat daraus gelernt. Ich habe mich dann noch fünf Jahre lang mit dem Prozess befasst, der gegen Sulzer angestrengt wurde, im Zusammenhang mit diesen korrodierten Titanprothesen. Es waren etwa 25 Kläger. Man hat sich – also «man» –, Sulzer hat sich dann mit diesen Klägern gütlich geeinigt, es ist nicht zum gerichtlichen Verfahren gekommen. Die Beträge, die bezahlt wurden, sind im Vergleich zu dem, was in den USA bei Sammelklagen gefordert wird, vernachlässigbar.

Ingold: Darf ich kurz nachfragen: Sulzer musste sich mit dieser Klage herumschlagen, weil zu diesem Zeitpunkt Müller schon einen bedeutenden Aktienanteil an Sulzer verkauft hatte, also Sulzer die Besitzerin von Protek war, oder musste Sulzer sich als Zulieferer von Protek verantworten? Eigentlich waren es ja Protek-Prothesen.

Frick: Ich meine, es wäre so: Sulzer war der Hersteller. Aber vielleicht kann hier Hermann Taaks, der sich von der regulatorischen und QS-Seite her damit befasst hat, das noch …

Taaks: Also rechtlich ist es so, dass derjenige, der das Produkt in den Verkehr bringt, haftbar ist. Ich glaube Protek war haftbar, primär. Protek hätte natürlich Sulzer einbeziehen können in Haftungsfragen, wenn es ein Materialproblem wäre. Aber es war ein Applikationsproblem. Ich glaube, man muss sagen, Protek war verantwortlich dafür.

Frick: Aber, warum ist dann der Prozess von Sulzer geführt worden?

Taaks: Ist da ein Prozess richtig geführt worden?

Frick: Ja, eben, fünfjährige Vorbereitungen, dann gab es einen Vergleich, zum Gerichtsverfahren ist es nicht mehr gekommen. Du weisst das.

Taaks: Ich möchte mich da nicht auf die Äste hinauswagen, aber ich hätte gedacht, dass Protek eigentlich verantwortlich wäre.

Ochsner: Also die führende Rechtsberaterin war die Rechtsberaterin von Sulzer, Frau Oelz. Die hat das Geschäft geführt.

Ingold: Aber eben, Protek gehörte zu diesem Zeitpunkt Sulzer.

Frick: Ich weiss das noch, das war mein letztes Jahr bei Sulzer damals, 1996, im Winter 1996. Da war Protek bereits als eigenständige Firma nicht mehr vorhanden, aber ich kann die rechtlichen Weiterungen nicht beurteilen.

Ingold: Herr Ochsner, darf ich Ihnen den Ball zuspielen? Wir haben schon über die Technische Kommission der Protek AG gesprochen. Sie waren ab 1989 Mitglied der Technischen Kommission. Können Sie nochmals kurz über die Bedeutung dieser Kommission sprechen? Inwiefern sie Maurice Müller beraten hat, inwiefern die Kommissionsmitglieder tatsächlich in Entscheidungen involviert waren? Wie würden Sie das einschätzen?

Ochsner: Als Jüngster war ich nur in den letzten Sitzungen dabei. Da kamen bereits die zementierten Titanschäfte zur Sprache. Ich habe das schon etwa so erlebt, wie das Willi Frick geäussert hat: Jeder sagte seine Meinung und legte das auf den Tisch, was er dachte. Wagner hat ganz anders gedacht als Morscher.31 Ich glaube, dass Reinhold Ganz länger mit dabei war.

Ganz: Nein. Ich war nie in der Prothesen-Technischen-Kommission.

Ochsner: Warst du nicht dabei?

Ganz: Nie.32

Ochsner: Also, das habe ich so erlebt, dass eigentlich der Austausch der verschiedenen Meinungen gepflegt wurde. Ganz anders nachher, als diese Kommission aufgelöst war, mit dem Übergang von Protek zu Sulzer, als nur noch reduziert eine MEM-Produktekommission existierte, die sich noch mit den müllerschen Produkten beschäftigt hat. Da war ich mit Maurice Müller als Mediziner dabei. Diese Zeit kenne ich genau, aber das ist eigentlich keine echte Protek-Zeit mehr.

Ingold: Kehren wir zurück zur echten Protek-Zeit und damit zu Dora Kaufmann. Sie stiessen Mitte der 1980er-Jahre auch zu Protek und Sie wurden – jetzt muss ich nachschauen ...

Kaufmann: Mein Titel.

Ingold: Ihren Titel, genau. Clinical Training Coordinator. Was macht ein Clinical Training Coordinator?

Kaufmann: Er organisiert als Dienstleistung Besuche in Autorenkliniken und führt diese durch. Ich bin angestellt worden, als nicht mehr exklusiv Professor Müllers Prothesen verkauft wurden, sondern als man mit anderen Autoren anfing, Prothesen zu entwickeln, und die Nachfrage nach den sogenannten Klinikbesuchen wuchs. Einerseits können Sie Wissen durch Kurse vermitteln, andererseits, indem Sie zum Autor, der dann auch der Operateur ist, hingehen und der anschliessend anhand einer Liveoperation die Technik erklärt und wenn immer möglich auch die Vorbereitungen und die präoperative Planung, die anhand von Röntgenbildern erstellt wurde.

Als Erstes musste man sich mit den Örtlichkeiten vertraut machen, in diese Kliniken hingehen und abklären, wie es vor allem im OP aussieht. Hat es da überhaupt Material, damit sich die Gäste umziehen können? Dann gehörte dazu: Wo kommt man unter? Wo kann man essen? Gibt es Sehenswürdigkeiten, die die Gäste interessieren könnten?

Dann ging es darum, Daten zu vermitteln, die der Gastgeber für eine OP zusichern konnte und von denen er wusste: «Ich habe dann und dann die entsprechenden Patienten mit dem ganzen Hintergrund.» Der Patient musste wirklich auch da sein, ein Bett haben, vielleicht auf der Intensivstation. Es ging darum, einen Tag zu finden, an dem einerseits der Operateur da war und der Patient und andererseits der Gast auch kommen konnte. Das brauchte manchmal sehr viel Zeit; sehr oft waren das recht engagierte Leute. Das waren eigentlich immer nur sehr kleine Gruppen, weil – das Problem ist schon angesprochen worden: Jeder, der Zutritt hat zum OP, ist einer zu viel, wenn er für die OP nicht benötigt wird.

Wir waren eigentlich Störenfriede. Weil ich selbst lange als OP-Schwester gearbeitet habe, war es das Konträre, das ich dann da machte. Man hat einfach versucht, so gut wie möglich sich so zu verhalten, dass die Gastärzte für den Patienten kein zusätzliches Risiko darstellten. Je nachdem, aus welcher Kultur jemand kam, musste man ihn schon manchmal vielleicht ein bisschen am Ärmel zupfen oder zurückziehen. Aber eigentlich war es vor allem eine Sache von Organisation. Damit habe ich einen grossen Teil meiner Arbeitszeit verbracht.

Sie haben Hüftkurse erwähnt. Da war ich nur bei der Durchführung der Kurse als Hilfe involviert. Es gab in der Regel zwei Frauen in der Müller-Stiftung, die die Administration gemacht haben. Was man nie vergessen darf, wir von der Firma Protek hatten in der Regel keinen direkten Zugang zu den Ärzten. Der Verkauf und die Hüftkurse liefen immer über die Vertretung. Natürlich gab es da Leute, die direkt kamen, aber unsere Vertretungen hatten auch immer ein Kontingent und konnten Leute schicken. Da hat man einfach mitgeholfen bei der Registrierung und der Durchführung. Aber an und für sich hatte ich mit den Kursen selbst nichts zu tun.

Ingold: Darf ich hier einhaken und nachfragen? Das Clinical Training von Protek nehme ich jetzt als etwas wahr, das von einer Vielfalt der Autoren, der Erfinder, lebte, deshalb musste man überall dahin reisen. Die Hüftkurse aber, das war eine Show von Maurice Müller.

Kaufmann: Das war von der Müller-Stiftung organisiert, das lief unter diesem Brand. Protek und die Müller-Stiftung und alles, das war im Alltag nicht scharf getrennt. Vor allem auch bei Müller nicht; alles gehörte irgendwie ihm. Bei den Kursen haben wir mitgeholfen, aber wir haben sie in dem Sinn nicht organisiert, ich glaube, das war die Aufgabe von Doktor Peter Koch33 und den Ärzten der Insel.

Ingold: Wie viele Tage ging so ein Hüftkurs?

Ganz: Drei.

Kaufmann: Drei. Und in mindestens drei verschiedenen Sprachen pro Jahr.

Ingold: Da gab es eine Operation, die übertragen wurde in einen Hörsaal, und es gab ein praktisches Training und es gab Vorträge?

Ganz: Es gab in Regel drei Operationen. Jeden Tag eine. Und dazu oder danach in der Regel gab es Vorträge. Also der erste Tag war eine Prothese, der zweite Tag war ein Prothesenwechsel und der dritte Tag war eine hüfterhaltende, also die natürliche Hüfte erhaltende Operation.

Ingold: Beim Clinical Training von Protek, da ging man wirklich nur Autoren34 besuchen ...

Kaufmann: Da ging man hin als kleine Gruppe – in der Regel ein oder zwei Personen – und wenn es dann eine grössere Gruppe wurde, mussten wir uns behelfen, vielleicht mit Übertragungen in einen Saal. Aber das konnten nur wenige Spitäler anbieten, weil es somit auch die Einrichtungen und alles brauchte.

Ingold: Aber keine Vorträge?

Kaufmann: Solche gab es auch. Voraussetzungen für die Wahl als Gastarzt waren: Der Arzt ist mit dem Produkt vertraut, er kennt die Philosophie, er hat eine gewisse Erfahrung. Nach einiger Zeit sollte er auch Resultate haben, die er präsentieren konnte, und bereit sein, die Zeit aufzubringen, um Fragen zu beantworten. Da waren wir natürlich absolut auf deren guten Willen angewiesen. Die Wahl war ein Stück weit beschränkt, da jemand mit dem Ganzen sehr vertraut sein und die OP-Schritte in der richtigen Reihenfolge machen musste. Die Gäste haben ziemlich schnell gesehen: «Das hat er nicht so gemacht.»

Ingold: Die Sicherheit, beziehungsweise wie lange ein künstlicher Gelenkersatz in einem Patienten, in einer Patientin überlebt, hat nicht nur mit der Prothese selbst zu tun, sondern auch mit der Art und Weise, wie der Eingriff gemacht wurde, also ob ein geübter Orthopäde das alles richtig macht oder ob ihm Fehler unterlaufen.

Kaufmann: Das war die Voraussetzung.

Ingold: Genau. Also Protek hatte, damit ihre Produkte als verlässliche Produkte galten aufgrund von langjährigen Statistiken, ein Interesse daran, dass die Leute sehr gut ausgebildet wurden, wussten, wie man die Prothese setzt. Gleichzeitig sind solche Besuche aber auch eine Form von Marketing. Man bewegte sich hier auf einem Grat zwischen Marketing und Produktsicherheit?

Kaufmann: Also Produktsicherheit vonseiten der Gäste war, dass sie sich regelkonform verhielten. Da konnte man sonst eigentlich nichts machen. Das war dann auch eine Sache der Einrichtung. Professor Müller hatte, wie wir schon gehört haben, seinen Laminar Flow in der Privatklinik.

Ingold: Ich meine mehr, dass die Leute lernen, die Prothese richtig zu setzen.

Kaufmann: Ja. Wobei es gab natürlich auch solche, die hatten das Instrumentarium schon gebraucht, und es ging darum, dass sie Fragen hatten, die sie mit einem Kollegen klären wollten. Wir von Protek konnten schon Fachleute offerieren, aber das waren Ingenieure und so. Die Ärzte wollten das mit einem erfahrenen Kollegen diskutieren. Das konnten wir ja nicht anbieten in der Firma selbst. Ich wurde nie gefragt: «Haben Sie eine Prothese verkauft?» Oder: «Kauft der jetzt die Prothese?» Bei uns ging es darum: Hat er die nötigen Informationen erhalten, um entscheiden zu können, ob das ein geeignetes Implantat ist für ihn? Aber die, welche uns die Leute geschickt haben und hinterher das auch weiterbearbeitet haben, haben natürlich versucht, das in einen Verkauf umzusetzen. Jedoch wir bei Protek, wir hatten immer unsere Vertretungen dazwischen. Wir haben die Produkte nicht direkt verkauft.

Taaks: Noch zu Ihrer Frage: «Welche Rolle spielt der Operateur, also die Qualität der Operation, welche Rolle spielt das Produkt?» Das ist völlig klar, das ist trivial, es muss beides stimmen. Aber der Operateur ist sehr, sehr wichtig, wichtiger als die Prothese, möchte ich behaupten. Ich möchte ein Beispiel nennen. Wir hatten einen Operateur, der kam einfach nicht zurecht mit einer bestimmten Prothese. Es gab immer Beanstandungen, und er sagte: «Das liegt an der Prothese.» Dann sind wir mit ihm essen gegangen und er hat einen Fisch gegessen und wir haben beobachtet, wie er den Fisch zerlegt hat, und dann hatten wir dann doch erhebliche Zweifel daran, ob der seinen Beruf richtig gewählt hat.

Albrecht: Ich möchte noch einen Aspekt zur Diskussion stellen. Sehr wichtig waren die Produktvertreter von Protek. Zu unserer Zeit hatten wir nicht bei jeder Operation den Produktvertreter auch noch im OP. Aber heute, wenn ich meinen Nachfolger und die heutige Generation beobachte, da gibt es wahrscheinlich keine Implantatoperation mehr, ohne dass der Produktvertreter im OP anwesend ist und genau sagt, wie man dies und jenes technisch machen muss. Aber die Produktvertreter von Protek waren schon zu unserer Zeit eine sehr wichtige Informationsquelle. Ich kann mich erinnern an genau diese Titangeschichte mit den korrodierten Titanprothesen. Da habe ich in der Praxis gerüchteweise als Erstes mitbekommen, dass irgendetwas nicht stimmt, und dann hat mir der Produktvertreter gesagt: «Ja, also, die kleine Prothese solltest du nicht mehr einzementieren, eine grosse Prothese, die hat weniger Elastizität, die kannst du noch einzementieren.» Das war eine Information, die eben auch auf diesem Weg in den OP kam. Die Vernetzung mit den Produktvertretern war wichtig. Die waren auch in andern Operationssälen anwesend und haben die Erfahrung weitergegeben, die sie mit den einzelnen Produkten gemacht haben. Sie waren nicht nur einfach Verkäufer, sie hatten eine wichtige Funktion im ganzen Informationsnetz.

Kaufmann: Die Leute, die bei Protek angestellt waren, betreuten nur den Schweizer Markt. Im Ausland war es dann die lokale Vertretung. Aber die hatte teilweise auch sehr gut ausgebildete Leute.

Ochsner: Ich möchte noch eine Lanze brechen für Maurice Müller im Hinblick auf die Art, wie er seine Firma geführt hat, wie er seinen Prothesen zum Erfolg verholfen hat. Bezüglich seiner Prothesen verfolgte er klare Richtlinien: Erstens: «Jede Prothese muss geplant werden.» Also jeder musste lernen: «Wie muss ich vor der Operation aufgrund des Röntgenbildes diese Prothese planen?» Zweitens: Für jeden Operationsschritt entwickelte Müller zuverlässige, fast unverwüstliche Instrumente. Drittens: Er legte einen standardisierten Ablauf der Implantation fest: Dieser Ablauf ist in einem jedem zugänglichen Heft niedergelegt. Viertens: Für häufige Komplikationen hat er standardisierte Lösungsvorschläge entwickelt. Fünftens: Jede Prothese sollte einfach entfernbar sein, falls dies notwendig war. Sechstens: Jedem wurde nahegelegt, alle seine Fälle zu dokumentieren, um vor allem aus den Komplikationen lernen zu können. Diese Grundsätze, die hat er eisern verfochten. Das hat natürlich gerade dem nicht so Talentierten eine Stütze an die Seite gegeben, sodass der Durchschnitt der Prothesen gut eingesetzt wurde. Die ganz Dummen, die kann man nie brauchen, das ist so. Aber der Durchschnittliche konnte lernen, das gut zu machen. Um die Fähigkeiten zu verbessern, gab es in allen Hüftkursen immer auch praktische Übungen.

Mathys: Eine ergänzende Bemerkung in Bezug auf Ausbildung. Mit der Einführung des AO-Instrumentariums, 1960, oder so etwa, war es eine Bedingung, dass zuerst die Ausbildung im Spital respektive anlässlich eines AO-Kurses zu erfolgen hatte, bevor das Instrumentarium gekauft werden durfte. Also, da war die Verantwortung, die die AO getragen hat, initial. Es hat kein Verkauf stattgefunden an irgendwelche Kliniken, sondern es waren alles ausgebildete Ärzte. Das ist dann in die Breite gegangen und so war schliesslich dieses Sicherungssystem eigentlich garantiert. Ob bei Protek so etwas …

Ingold: War der Besuch eines Hüftkurses Bedingung dafür, dass man diese Produkte beziehen konnte – war es nicht?

Ganz: Nein.

Ingold: Die Protek AG lieferte einen Teil der Royaltys ab an die Maurice-Müller-Stiftung. Mich würde jetzt interessieren, was die Stiftung mit diesem Geld gemacht hat. Ich möchte deshalb zunächst Edith Röösli das Wort erteilen. Sie waren bei der Dokumentationsstelle der Stiftung tätig. Was hat die Dokumentationsstelle gemacht?

Röösli: Ich bin 1980 zur AO-Dokumentationsstelle gestossen. Ich wollte damals unbedingt einen Branchenwechsel vornehmen, ich wollte unbedingt in eine der IT und der Medizin angegliederte Branche kommen und das ist mir da geglückt. Ich habe das auch nie bedauert, ich kam aus der Bankbranche, ich wollte nicht bei der Bank bleiben. Ich habe dann das Glück gehabt, dass ich Weiterbildungen machen konnte. Ganz entscheidend war relationale Datenbank, Oracle, bis auf Datenbankadministrator-Niveau, und dann – ich picke zwei, drei Sachen heraus – vielleicht noch PL/SQL-Query-Language, XML-Programmierung. Ich habe mein Wissen abgeschlossen mit einem Master in Medizininformatik. Ich war wirklich begeistert und engagiert mit der ganzen Thematik.

Meine konkreten Aufgaben, ich nenne ein paar, die wichtigsten: Das war Design und Implementierung von Fragebogeninstrumenten, Erstellung von Rapporten, Schulungen in Kliniken, aber auch von Mitarbeitern, Präsentationen, auch an Veranstaltungen mitunter, und ein wichtiger Punkt war Back-up-Verantwortliche. Ich muss betonen, dass wir während längerer Phasen ohne IT-Chef waren, und dann war das wirklich ein ganz wichtiger Punkt. Wir sind auch in einen Head Crash hineingerast zu der Zeit und haben riskiert, Daten zu verlieren, aber das konnte ich zum Glück vermeiden.

Nun, Eckparameter zum Institut: Wir waren in der AO-Dokumentationszentrale an der Murtenstrasse 35, zehn bis fünfzehn Mitarbeiter, wobei ein Drittel davon Teilzeitangestellte. Der Einleseservice der zentral verarbeiteten Dokumentationsfragebogen wurde weitgehend von Studenten übernommen, die entsprechend geschult waren.

Abb. 10. Die Dokumentation der Hüftgelenkoperationen gehörte bei Maurice E. Müller zur wissenschaftlichen Erfassung der neuen Behandlungstechnik. Mitarbeiterin der Dokumentationszentrale der AO und der Fondation Maurice E. Müller an der Murtenstrasse in Bern im Jahr 1978. Foto: U. Keller, Medizinsammlung Inselspital Bern

Nun zum meinem Arbeitgeber: Ich schätze mich wirklich glücklich, durfte ich lange Zeit für Herrn Professor Müller arbeiten. Es ist ihm gelungen, seine Begeisterung und sein Engagement für die Dokumentation, das ist ja eher eine trockene Angelegenheit, auf mich zu übertragen. Und, ich habe ihn bewundert dafür, dass er seine Passion auch für dieses Thema nie aufgegeben hat. Er war ein Pionier, weil die Dokumentation nicht unbedingt das war, was man sich direkt gewünscht hat. Man musste viel Überzeugungsarbeit leisten zu diesem Zeitpunkt, damit die Kliniken mitgemacht haben. In der Zwischenzeit sind Medizinregister in aller Munde. Aber damals war er natürlich unser Zugpferd, weil er das vehement vertreten hat, und daher ist es auch geglückt, dass wir teilnehmende Kliniken hatten.

Nun zum Konzept der Dokumentation: Das ist etwas, das wird Ihnen noch begegnen, diese drei Kreise, auf die hat er sich immer wieder berufen. Dokumentation, Evaluation, Teaching. Das war seine Überzeugung: Man muss Daten sammeln, und zwar in einer entsprechenden Qualität. Da haben wir sehr viel Wert darauf gelegt, Vollständigkeit, aber auch Plausibilisierung. Weil wir wussten: «Schliesslich ist die Qualität der Daten das ausschlaggebende Kriterium.»

Die Fragebogeninstrumente wurden von Expertenteams erstellt, das Wort Standard ist bereits gefallen in diesem Zusammenhang. Es waren standardisierte Fragebogen, aber gleichzeitig hat man immer die Möglichkeit geboten, auch einen individuellen Klartext einzufügen. Das sollte den Teilnehmenden ermutigen mitzumachen. Man konnte dann gleichzeitig eine individuelle Dokumentation für sich erstellen, also nicht nur eine standardisierte. Standards natürlich, weil die Kommunikation, der Datenaustausch unter verschiedenen Institutionen dadurch gewährleistet war. Wir haben auch etablierte Instrumente wie zum Beispiel Harris Hip Score, Merle d’Aubigné und Patientenzufriedenheit-Instrumente35 implementiert, weil das erlaubt hat, die Resultate in wissenschaftliche Arbeiten einfliessen zu lassen.

Jetzt habe ich diese ganzen Jahre in drei, vier Phasen aufgeteilt. Also zu Beginn, 1978 bis 1988, nannte sich das noch AO-Dokumentationszentrale. Wie bereits erwähnt, wurden da Frakturen und Osteosynthesen dokumentiert, und zwar unter Berücksichtigung der AO-Frakturklassifikation. Man konnte so eine Fraktur eindeutig identifizieren und auch entsprechende Auswertungen vornehmen, immer in Expertenteams, die die Fragebogen selbst erarbeitet hatten.

Dann, im Jahr 1988, gab es diesen Split. Da wurden die Daten ausgehändigt, das heisst komplexer Datenexport und Übergabe an die AO Davos, Oracle-Datenbankexport und -import. Und: Parallel dazu hatte Professor Müller schon seine eigene Hüftdokumentation entwickelt und implementiert. Einige engagierte Kliniken, zum Beispiel Liestal oder die Schulthess Klinik, hatten sich daran in einer Pilotphase beteiligt. Dann hat man beschlossen, 1988, dass man jetzt weiterfährt, mit Fokus auf Hüftdokumentation in einem neu gegründeten Institut, dem IEFO.36 Das war eine andere Herausforderung für uns. Da standen Implantattracking und Langzeitbeobachtungen plötzlich im Zentrum. Das waren zwei Herausforderungen, die nicht ganz leicht zu lösen waren zu dem Zeitpunkt. Vielleicht noch eines: Das war bis dahin immer eine zentrale Dokumentation, das heisst, man hat die Unterlagen eingescannt, bearbeitet und als Feedback an die Kliniken wieder etwas ausgehändigt, nämlich sogenannte Krankenrapporte oder Röntgenkarten beklebt mit diesen Bildern. Letzteres allerdings nur für ausgewählte Kliniken, weil das war ja viel zu aufwendig, hätte man das für alle anbieten wollen.

Abb. 11. Einstieg in die elektronische Datenverarbeitung: eine Mitarbeiterin der Dokumentationszentrale an einem MV/4000, einem Computermodell der Data General Corporation aus den 1970er-Jahren. Foto: U. Keller, Medizinsammlung Inselspital Bern

Ab 1989 hat man nach mehr Autonomie verlangt. Plötzlich wollte man dezentrale und nicht nur zentrale Dokumentation. Da haben wir ein System entwickelt, das zuerst auf PC lief, ursprünglich noch unter DOS, aber das hat auch eine Entwicklung erfahren. Und da haben wir die Daten aus dieser Oracle-Datenbank exportiert auf lokale Rechner und in lokale Datenbanken importiert, dann dort ein Programm angeboten, das es wieder erlaubt hat, diese Dokumentation, nun aber dezentral, direkt vor Ort vorzunehmen. Es sollte natürlich ein regelmässiger Datenrückfluss erfolgen, und das ist auch passiert, regelmässiger Datenexport zurück in die zentrale Datenbank.

Im Laufe dieser dezentralen Entwicklung sind verschiedene Projekte, zum Teil ganz, zum Teil nur in Ansätzen, realisiert worden. Es gab zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit mit der Clemson University in South Carolina. Da wurde ein dezentrales Dokumentationspaket in einer Mac-Umgebung entwickelt mit Schwerpunkt auf Bildbearbeitung, weil das ja auch immer der Wunsch und das Ziel war, die medizinischen Daten direkt mit den Bilddaten verknüpfen zu können. Es wurde ein weiteres dezentrales Dokumentationssystem entwickelt, das in Kliniken lange angewandt wurde und sich Qualidoc oder Qualicare nannte – auch immer mit dem gleichen Dokumentationskonzept, nämlich diese Primärversorgung A, Revisionen B, Nachkontrollen C.

Ingold: Darf ich kurz einhaken und fragen, was die Kliniken selbst davon hatten, wenn sie mitmachten bei der Dokumentation. Also gab es eine Art Produkt für Kliniken?

Röösli: Zur Zeit der zentralen Dokumentation haben sie eine sogenannte Page zurückgekriegt, die alle Information, die sie abgespeichert hatten, beinhaltete, und auch eine – in Anführungszeichen – Röntgenkarte. Die enthielt eine Kurzinformation dieser medizinischen Dokumentation auf der Vorderseite und die Bilder auf der Rückseite. Sie hatten auch Anspruch auf Auswertungen, natürlich konnten sie Fragestellungen an uns richten. Mit der dezentralen Dokumentation wurden sie autonomer. Da haben sie ein Paket bekommen, das die Dokumentation und gleichzeitig die Auswertung erlaubt hat – Häufigkeitsanalysen und also noch ein bisschen rudimentäre Auswertungen, aber doch schon ein Werkzeug.

Abb. 12. Mit einem Scanner von Longines liessen sich Code-Blätter einlesen. Foto: U. Keller, Medizinsammlung Inselspital Bern

Ingold: Also, Sie haben dann eigentlich Software geliefert. Gibt es Kunden der Dokumentationsstelle?

Ochsner: Wir haben uns in Liestal darum berühmt, alle Fälle prospektiv weiterzuverfolgen, mit Ein-Jahr-, Zwei-, Fünf-, Zehn-, Fünfzehn-, Zwanzig-Jahre-Kontrollen. Die Daten der Kontrollen haben wir konsequent gespeichert, sodass wir diese auch auswerten konnten. Die bisher letzten zwei Arbeiten über diese Fälle sind 2018 herausgekommen. Der Wert dieser Arbeiten besteht vor allem darin, dass die Patienten regelmässig, in standardisierten Zeitabständen kontrolliert wurden, wodurch die Daten wirklich vergleichbar werden. So konnte man die Qualität der Versorgung im Ablauf der Jahre verfolgen. Das hat geklappt, bis heute.

Röösli: Noch kurz zwei Sachen. Ich möchte diese Phase abschliessen, nur für das allgemeine Verständnis. Also im Jahr 2000 ist dann eine Überführung in die Universität Bern vorgenommen worden – der Datenbank und sämtlicher Daten, und das neue Institut hiess IEFM, Institut für evaluative Forschung in der Medizin. Da hat man unter einer neuen Leitung, unter einem neuen Management, eine webbasierte Plattform entwickelt. So hat die Dokumentationstätigkeit ein sehr intensives Wachstum erfahren. Acht nationale und internationale Register medizinischer Fachgesellschaften, 43 multizentrische Studien, 30 etablierte Instrumente, Scores, Patientenzufriedenheit, alles mehrsprachig.37 Im Jahr 2015 wurde dann diese Datenbank übergeben an das ISPM, Institut für Sozial- und Präventivmedizin, und da wird sie noch weitergeführt, soweit ich weiss. Noch eine Information zu den Datenmengen. Zum Beispiel Ende 1999 hatten wir 50 000 sogenannte hanches primaires, also Hüftprothesen A, Erstversorgungen, 10 000 Revisionen B und 77 000 Nachkontrollen C erhoben.

Ingold: Herr Schneider, nun möchte ich Sie ins Gespräch holen, Sie arbeiteten ab 1982 am Maurice-Müller-Institut für Biomechanik hier in Bern. Da stellt sich für mich die Frage, in welche Richtung die Forschung dieses Instituts ging. War das Forschung, die zur ganzen Prothesenproblematik beigetragen hat oder bewegte sich das in ganz neue Interessengebiete hinein?

Schneider: Ich möchte vorausschicken, dass ich nur der stellvertretende Leiter des Instituts war, der Leiter war Stefan Perren, der gleichzeitig noch das Institut der AO in Davos leitete. Das zeigt auch, dass hier dieses Zusammengehen der beiden Gebiete gestärkt werden sollte, indem Perren als AO-Teil zusammen mit der Endoprothetik Forschung machen sollte. Die Idee war, dass beide Gebiete beteiligt waren. Ich habe ja schon vorgelesen, worum es ging. Und so haben wir auch immer berichtet: In welchen Projekten haben wir Biomechanik des Gelenkersatzes studiert und in welchen Projekten haben wir uns mit der Frakturheilung befasst? Ich glaube, ich muss das nicht alles aufzählen, das ist in den Jahresberichten und in der Literatur vorhanden.

Das Institut in Bern wurde frisch gegründet. Es gab mir die Möglichkeit, aus meinem Auslandsaufenthalt an der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, zurückzukommen. Ich habe in Bern meine Habilitation geschrieben. Und das war dann die Basis dafür, dass ich Professor in Hamburg werden konnte. Das ist eigentlich ein typischer akademischer Lebenslauf, den ich verfolgte, und entsprechend war das ja auch ein akademisches Institut, das sich eher mit Grundlagenforschung befasst hat, aber bei diesen beiden Herren gab es immer wieder sehr viele Fragen: Ja, wie ist es dann mit der Anwendung der Produkte? Wie sieht das aus?

Ich habe mich zum Beispiel in meiner Habilitation mit der Primärstabilität von verschiedenen Hüftprothesenschäften befasst und viel gemessen: Welche Grössen haben Einfluss? Welches Design? Was macht der Zement? Und so weiter.38 Diese Daten sind folgerichtig zurück in die Industrie und zu Protek geflossen. Wir haben, glaube ich, viel zusammen geredet und auch all die Ergebnisse offengelegt, damit man das dann entsprechend einfliessen lassen kann.

Zur Bedeutung dieses Instituts: Professor Müller hat die sogenannte audiovisuelle Einrichtung geleitet, also das waren die Hüftkurse und dann auch Veranstaltungen über das Knie. Aber es waren vor allem die Hüftkurse, die da stattgefunden haben, die wir mit wissenschaftlichen Vorträgen ergänzen konnten. Im Übrigen war das ein Institut, das nicht nur mit Protek und Sulzer, sondern auch mit Mathys und Straumann zusammengearbeitet hat, eben mit dieser AO-Seite, und entsprechende Untersuchungen gemacht hat, aber auch im Rahmen von wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit weiteren Institutionen in den USA und innerhalb von Europa. Zu dieser Zeit sind viele Chirurgen zu uns gekommen, haben ihre Grundlagenuntersuchungen gemacht und sich dadurch qualifiziert, um später einmal eine klinische führende Stellung einzunehmen. Es hat sich auch biomechanisch, glaube ich, so die Crème de la Crème da getroffen und sich ausgetauscht, in dieser Zeit zwischen 1982 und 1989, bevor dann die molekulare Seite gestärkt wurde. Ich bin anschliessend nach Hamburg gegangen und Professor Perren zurück nach Davos. In dieser Zeit war so ein bisschen die Hochblüte der Biomechanik. Ich kann noch sagen, dass Professor Müller sich immer sehr für das, was wir gemacht haben, interessiert hat. Er hat uns aber die Freiheit gelassen, uns mit den Themen zu befassen, die wir wichtig fanden.

Sie hatten mich auch gefragt: «Was war so eine herausragende Leistung?» Ich habe mir das überlegt im Angesicht von all diesen vielen, vielen Projekten, die da gewesen sind. Wir haben etwas Spezielles gemacht, nämlich in vivo Belastungsmessungen, zuerst an Tieren, dann beim Menschen. Wir haben eine Telemetrieeinrichtung entwickelt, sehr aufwändig, und diese dann beim Marknagel auch beim wirklichen Patienten klinisch eingesetzt. Das hat uns erlaubt, die mathematischen Modelle, die wir natürlich benutzten, um Lastverteilungen und Heilungsverläufe zu simulieren, auch in der Realität zu überprüfen. Ich glaube, diese Daten sind einzigartig. Ich denke, dass man die so schnell nicht wiederholen könnte in unserer heutigen Zeit. Da denke ich, haben wir einen grossen Beitrag geleistet.

Ingold: Ich möchte Herrn Ueli Aebi noch das Wort erteilen – zum Maurice-Müller-Institut für hochauflösende Elektronenmikroskopie, so war, glaube ich, der anfängliche Name?

Aebi: Das war ursprünglich der Name. Später wurde es dann umbenannt als M. E. Müller-Institut für Strukturbiologie am Biozentrum in Basel. Da fragen sich die Leute: «Warum hat Professor Müller Geld in solche Aktivitäten gesteckt?» Nun, er war ja natürlich sehr fokussiert und interessiert für sein eigenes Gebiet, aber auf der anderen Seite war er auch interessiert, willig, Aktivitäten zu finanzieren, die einfach auf hohem Niveau betrieben wurden, vor allem Grundlagenforschung im biomedizinischen Bereich. So kam das.

Es war effektiv das Biozentrum, 1985, das auf ihn zukam und ihn versuchte zu überzeugen, dort einen Daumen zu machen, um die Strukturbiologie weiter zu fördern, die schon sehr berühmt war damals, international. Er hat das dann auch gemacht, sie haben ihn überzeugen können – nicht weil ich sein Schwiegersohn bin. Ich war effektiv nicht dort, ich war in Amerika. Aber sie wollten mich zurück nach Basel, wo ich studiert habe, nehmen. Das hat er nicht gemacht wegen mir, wenn Sie ihn kennen, das hat nichts mit der Familie zu tun. Er hat dann effektiv fünfzig Millionen in dieses Projekt reingesteckt über 25 Jahre. Das hat sich natürlich gelohnt. Die ganze Atomic Force Microscopy in der Biologie, in der biologischen Anwendung wurde in Basel, in diesem Institut geboren. Ja, das hat sich gelohnt und als wissenschaftliche Institution hat sich das wirklich hervorgetan.

Das andere ist das Zentrum Paul Klee in Bern. Man kann sich fragen: «Warum hat er 125 Millionen in dieses Zentrum Paul Klee gesteckt?» Kunst hat ihn nicht wahnsinnig interessiert, aber er hat eines gelernt von Paul Klee. Der hat etwa 10 000 Werke gemacht und hat die alle sauber dokumentiert. Es war diese Dokumentation, die ihm Eindruck gemacht hat und die er auch durch diese Gabe hervorheben wollte.

Nun, dieses Geld, wenn Sie das alles zusammenzählen, waren das fast 500 Millionen, der eine Teil kam aus den Gewinnen von der Firma Protek. Er hat die Gewinne nicht in seinen Sack gesteckt, sondern in die Maurice-E.-Müller-Stiftung, in das Institut für Biomechanik in Bern und dann auch in die Dokumentation, das hat er wesentlich gesponsert. Er wurde erst reich als Privatperson, als er Protek verkauft hat. Das Zentrum Paul Klee wurde vor allem aus dem Gewinn, den er dort erhalten hatte für die Firma Protek, aus diesem Topf, bezahlt. Er hat also die Familie nicht verhungern lassen, aber er hat sie immer sehr stiefmütterlich behandelt, wie man dem so sagen kann. Aber er war einfach ein sehr grosszügiger Mensch, der nicht nur seine persönlichen Interessen und Ideen verwirklicht hat und Geld dazu aufwendete, sondern alles, was für ihn brillant war, von höchster Qualität war, war er bereit zu sponsern, soweit er das konnte. Sein Interesse war nicht, Geld anzuhäufen, sondern mit dem Geld neue Sachen zu machen, eben, wie wir es heute jetzt an diesem Nachmittag in allen Aspekten gehört haben. Das ist eine einmalige Sache, es gibt sehr wenige Leute, die ich kenne oder von denen ich weiss, die ähnlich vorgegangen sind.

Ingold: Wir haben jetzt gehört, welche Möglichkeiten der Einstieg von Maurice E. Müller in die Entwicklung von Hüftgelenkendoprothesen im Jahr 1960 in den darauffolgenden drei Jahrzehnten eröffnete. Ich möchte nun zurück auf den Anfang des Gesprächs und die Mathys AG kommen. Wie wichtig war das Prothesengeschäft neben der Osteosynthese für die Weiterentwicklung der Firma? Lässt sich dazu etwas sagen?

Mathys: Ja, gut, die Entwicklung initial war ja einfach Protek und Mathys. Wie dann Sulzer dazukommen ist, ist intern Konkurrenz entstanden. Mathys ist verdrängt worden, hat aber immer Instrumente gemacht und das Stahlsortiment an Prothesen hergestellt. Es war absehbar, dass die Sulzer AG mit zunehmendem Einfluss in der Protek-Organisation aus strategischen Gründen nicht akzeptieren konnte, dass sie zwar produziert, aber den Verkauf nicht unter Kontrolle hat. Der Verkauf war ja nach wie vor in unseren Organisationen, Mathys beziehungsweise Stratec, in den angestammten Synthes-Organisationen. Sulzer war am Verkauf nicht direkt beteiligt, es musste ja früher oder später zum Konflikt kommen. Das ist dann auch geschehen. Ich habe heute schnell nachgeschaut, Ende 1995 wurde die Zusammenarbeit formell beendet. Es hat dann noch ein Auslaufen stattgefunden, damit sich beide Unternehmen organisieren konnten. Sulzer musste Instrumente herstellen, und Mathys musste eigene Produkte in Bezug auf Implantate organisieren. Es war dann nicht ganz so sehr schön und nobel, aber wir haben uns nicht so stark bekriegt, dass es zu irgendwelchen gerichtlichen Verfahren kam. Für uns sind etwa 60 Millionen Franken Umsatz verloren gegangen, 1996. Wir haben zu diesem Zeitpunkt etwa 250 Millionen Schweizer Franken Gesamtumsatz gehabt. Also 60 zu 250 war etwa das Verhältnis. Es war wesentlich, wir mussten in der Folge alles neu aufbauen und haben es aber beinahe geschafft.

Ingold: Herr Jakob, der Kontakt zwischen einem Orthopäden und einem Maschinentechniker hat 1996 zu einem Umsatz von 60 Millionen Franken geführt, Protek nicht mitgerechnet. Wäre das unter heutigen Bedingungen noch denkbar, dass Maurice Müller und Robert Mathys senior so etwas schaffen, ohne einen finanzstarken Pharmakonzern im Rücken? Oder ist es heute viel schwieriger, Innovationsprozesse voranzutreiben? Sie haben sich kürzlich in einem Interview dazu geäussert,39 deshalb möchte ich Ihnen so den Ball zuspielen.

Jakob: Ja, Maurice Müller als Innovator, Inventor oder Erfinder, das sind fast Synonyme. Vielleicht ist im Terminus «Innovation» mehr eine mentale Leistung hervorgehoben, während sich das Wort «Erfindung», «Invention», mehr auf das Produkt bezieht. Er war für uns ein Innovator und ein Inventor. Man erinnert sich gerne an die äusserst kurzen Prozesse, vom Moment an, wo er irgendein Problem identifiziert und Lösungsansätze dafür angekündigt hatte, zum Beispiel einen Hebel für die Hüftchirurgie oder ein Instrument für die Osteosynthese. Das ging dann direkt mittels Telefonat zu Robert Mathys, später war es Jürg Küffer, der auch in den Kreis dieser genialen Instrumentenmacher vorgerückt war. Danach dauerte es Tage oder lediglich ein paar Wochen, bis das Instrument da war und in einer Operation verwendet oder in einem Patienten eingesetzt wurde. Am Schluss hat er es befriedigt und lächelnd in den Händen gehalten und dann jeweils etwa gesagt: «Nued e so schlächt!» Das ist etwas, was sich heute geändert hat. Warum?

Weil heute die Normen äusserst streng geworden sind. Während damals die Wege vom Chirurgen zum Instrumentenmacher oder zum Fabrikanten kurz waren, sind sie heute viel länger geworden. Heute ist es so, dass eine Entwicklung in Europa noch viel schwieriger zu bewerkstelligen ist als in den USA. Aus diesem Grund sind alle grossen Firmen mit Sitz in Amerika jetzt im Vorteil wie Stryker, Johnson & Johnson, DePuy, Smith & Nephew. Eine englische Firma ist beispielsweise kürzlich nach Amerika gegangen, weil das Entwickeln in der EU seit 1993 – damals war das strenge Regime unter den Medtech-Restriktionen mit den Medical Device Directives und seit vergangenem Mai40 jetzt mit den Medical Device Regulations eingeführt worden – insgesamt eine sehr schwierige Angelegenheit geworden ist. Und das hat es auch mit sich gebracht, dass kleinere Firmen, hinter denen häufig ein innovativer Chirurg als Ideengeber stand, praktisch ausser Stande sind, jetzt noch irgendetwas zu realisieren. Sie werden dann, auch wenn sie noch so gut sind und gute Ideen haben – in Frankreich gibt es zum Beispiel sehr gute innovative Entwickler –, von den Amerikanern aufgekauft.

In Amerika ist es, meint man immer, wegen der FDA sehr schwierig. Aber in Tat und Wahrheit ist es relativ einfach, weil man dort mit einem neuen Produkt, das einem anderen, schon bestehenden Produkt ähnlich ist, sich jetzt auf dieses, im Markt existierende Produkt beziehen kann und mit einem sogenannten «510(k)» dann relativ rasch ohne weitere klinische Studien etwas als neues Produkt auf dem Markt unterbringen kann. Wenn das nicht geht, ist man gezwungen, einen etwas schwierigeren Weg zu nehmen, die «510(K) de novo», wo man dann eine klinische Serie mit sehr limitierter Fallzahl und einem Follow-up von nur einem Jahr präsentieren muss, und erst, wenn es gar nichts Vorbestehendes und Ähnliches gibt, kommt man dann in eine PMA-Zulassung hinein, mit einem Premarket Approval, was dann mehr Aufwand benötigt. Demgegenüber ist es in Europa schwierig geworden.

Damit hat die EU eigentlich nicht nur Gutes herbeigeführt und wirkt mehr und mehr als Innovationsbremse. Heute kommen die Amerikaner viel mehr zum Zug. Die Europäer haben sich ins eigene Bein geschossen. Allerdings muss man sagen, dass es auch Vorteile hat, wenn neue Produkte mit grösserer Zurückhaltung auf den Markt kommen. Prothesen, die vor zwanzig Jahren entwickelt worden sind und immer noch gute Resultate zeigen, sind klar etabliert, aber neue Kunstgelenke haben es schwieriger. Das ist nur ein Teilaspekt, weil etwa die Vorteile im europäischen System in Sachen Patientensicherheit zum Beispiel vielleicht grösser sind, so wie ich das als ehemaliger Kliniker jedenfalls mitbekommen habe. Vielleicht wird dieses Pendel, dass es in Amerika jetzt in Sachen Markteinführung von Medtech-Produkten leichter ist als in Europa, auch wieder mal herum schwingen, und das kann erwartet werden. So etwa, dass die Europäer diesbezüglich etwas mit den strengen Auflagen zurückschrauben werden. Aber es ist sicher so, je mehr das Wort «Business» in diesem ganzen Medtech-Geschäft drin ist, umso mehr sind die Patienten alert und werden schauen, dass Produkte verwendet werden, welche eine grosse Sicherheit aufweisen. Das ist vielleicht der Vorteil dieses jetzigen Systems.

Ingold: Die Regulierung durch die EU, das war kein Automatismus, das entstand nicht einfach, weil die EU Freude am Regulieren hat, sondern entstand, weil eine Dynamik im Medtech-Bereich spielte, die Produkthersteller und Chirurgen zu viel Risiken eingehen liess.

Abb. 13. Serienfertigung: Schleifplatz in einer Produktionshalle der Mathys AG in Bettlach, undatiert. Quelle: Privatarchiv Familie Mathys

Jakob: Auslöser waren da wahrscheinlich in Frankreich die Brustimplantate, wo industrielles Silikon verwendet wurde anstatt Medical Grade Silicones. Dann gab es auch andere Beispiele, so in der Hüftprothese, wie wir gehört haben. Die Metall-Metall-Prothesen, die nicht so gut verliefen, wie man sich das erhoffte. Aus diesen verschiedenen Erfahrungen hat sich dann eine relativ strenge Regulation entwickelt. Vielleicht fragt man sich: «Ja warum dies, wer trägt da die Schuld? Gibt es überhaupt einen Schuldigen?» Ich glaube, das Wichtigste obliegt dem einzelnen Chirurgen in der Wahrung der Patientensicherheit und in der Meldung der sogenannten Adverse Clinical Events an seinen Notifying Body. Für die Schweiz ist das die deutsche TÜV. Zu der müssen wir auch gehen, wenn wir ein Zertifikat, eine CE-Markierung, möchten. Werden die Adverse Clinical Events nicht gemeldet, dann sieht es für denjenigen, der das verursacht hat, respektive der sich, ohne sich der Probleme gewahr zu werden, nicht entsprechend darum gekümmert hat, nicht so gut aus. Das wären diese Fälle, die dann eben eigentlich in der Entstehung dieser sehr strengen Regulation, wie sie die EU jetzt handhabt, gemündet haben. Da ist es in den USA jetzt einfacher.

Ingold: Gibt es hierzu noch Kommentare?

Mathys: Vielleicht noch ergänzend. Der Schweizer Markt ist zusätzlich betroffen von dieser Problematik. Weil mit dem Nicht-Zustandekommen des Rahmenabkommens41 gilt auch das Mutual Recognition Agreement, das heisst die gegenseitige Anerkennung der Standards, der Normen und der Regeln, nicht mehr. Die Produzenten sind heute gezwungen, eigentlich im europäischen Raum an irgendeiner Stelle eine «Muttergesellschaft» zu errichten, die die gesamte Registrierung neu machen muss. Zudem gibt es in diesem MDR-Abkommen kein Grandfather Law respektive kein «510(k)». Es müssen alle Produkte neu registriert werden. Auf die Erfahrung mit vorhandenen Produkten kann man nicht mehr zurückgreifen. Das hat dazu geführt, dass generell viele Produkte weggefallen sind. Es wurden nur noch die gängigen Produkte, die am meisten Profit abgeworfen haben, neu registriert. Das ist etwas schade, sehr einschränkend und führt unter Umständen zu Engpässen.

Ingold: Es ist zehn Minuten vor sechs. Ich möchte Ihnen herzlich danken.

Notes

1 Zu Robert Mathys senior und zur Geschichte der Mathys AG siehe Moser: Chirurgen, 2021, S. 35–47. ↩︎
3Siehe Kapitel «Der Beitrag der Werkstoffforscher». ↩︎
4 Walter Bandi (1912–1997) war ab 1952 Chefchirurg am Regionalspital Interlaken. Zu seiner Rolle in der AO siehe Schlich: Surgery, 2002, S. 31, 54. ↩︎
6 Renato Bombelli (1923–2020) leitete von 1960 bis 1992 die Abteilung für Orthopädie und Traumatologie am Krankenhaus von Busto Arsizio in der Lombardei. ↩︎
7 Alexandre J. Boitzy (1930–2021) war ab 1961 Assistenzarzt und Oberarzt bei Maurice E. Müller in St. Gallen und Bern, später Konsiliararzt für Orthopädie an den Spitälern Sierre und Morges. ↩︎
8Roland Jakob schrieb: «Insgesamt war die Berner Klinik also ein Hüftzentrum, und erst langsam erhielten die anderen anatomischen Regionen auch ein Gewicht.» Ergänzung zum Transkriptentwurf vom 05.03.2022. ↩︎
9Roland Jakob schrieb: «Die Beschleunigung der praktischen Ausbildung würde erlauben, das praktische Handwerk in geraffter Form an den Lehrling hinüberzubringen, ähnlich unserem dualen Lehrprinzip bei Lehrlingen, auf das wir so stolz sind.» Ergänzung zum Transkriptentwurf vom 05.03.2022. ↩︎
10 Die Geradschaftprothese führte Müller 1977 ein. Vgl. Müller: Lessons, 1992, S. 13; Knöbel: Entwicklung, 2018, S. 49. ↩︎
11Cornelis Pieter Van Nes (1897–1972) leitete in Leiden die Anna-Klinik von 1935 bis 1952. Siehe auch Schatzker: Müller, 2018, S. 45–49. ↩︎
12 Norbert Gschwend (1925–2020) übernahm 1962 die Leitung der Schulthess Klinik in Zürich. ↩︎
13Alfred Debrunner (1929–2020) bildete sich in der Klinik Balgrist, in St. Gallen und Bern zum orthopädischen Chirurgen weiter. Danach war er Orthopäde am Stadtspital Triemli, Zürich, und Lehrbuchautor. ↩︎
14Zu den ersten dreizehn Mitgliedern der AO gehörten nebst Müller unter anderem die Chefärzte der Berner Regionalspitäler in Grosshöchstetten, Interlaken, Langnau, Saint-Imier und Belp, also Robert Schneider, Walter Bandi, Walter Schär (1906–1982), Walter Stähli (1911–2009) und Willy Hunziker (1915–1987). Ein weiteres Mitglied mit Berner Hintergrund war Hans R. Willenegger, Chefarzt am Kantonsspital Liestal. Zur ärztlichen Kerngruppe der AO vgl. Heim: Phänomen, 2001, S. 42–57. Zur Bedeutung der regionalen Verankerung vgl. Heim: Phänomen, 2001, S. 29–30; Schlich: Surgery, 2002, S. 31. ↩︎
16Müller war im Jahr 1950 bei Robert Danis (1880–1962), der Professor an der Freien Universität Brüssel war und die Chirurgische Abteilung des Hôpital Brugmann leitete. Vgl. Schlich: Surgery, 2002, S. 29. ↩︎
17Roland Jakob schrieb: «Denn der Hüftpatient hatte jahrelang gelitten und verkörperte den hinkenden ‹Invaliden›, den ‹Ungültigen›, hatte lange auf die Operation gewartet und kam von weither voller Hoffnung angereist (‹Io non essere dio …›, murmelte [Müller] jeweils lächelnd und liebevoll zu seinen italienischen Patientinnen, für die er es natürlich war …), war jetzt mit einem neuen Hüftgelenk beschenkt worden und stellte nach der Operation sofort fest, dass sein Gelenk jetzt nicht mehr schmerzte und dass die Operation ihm wieder gestattete, überall alles tun und lassen zu können. Die Innovation der Hüftprothese war ein medizinischer Meilenstein, ohne Zweifel!» Ergänzung zum Transkriptentwurf vom 05.03.2022. ↩︎
18 Gemeint ist der erste AO-Kurs vom November 1960 in Davos. ↩︎
19 Siehe dazu das Kapitel «Den anderen einen Schritt voraus». ↩︎
21Hans Ulrich Albrecht schrieb: «Ich stimme mit Roland Jakob überein, dass die Entwicklung der Traumatologie das grosse Verdienst von MEM war. Dieses Verdienst besteht aber gerade darin, dass es nicht auf einem kurzlebigen Erfolg einer ‹Methode› beruht, die bald von einer noch besseren abgelöst wird, sondern auf einer nachhaltigen Veränderung des Denkens und Handelns in einer ganzen Disziplin weltweit. Das Lebenswerk von MEM war zwar durchaus mit Knallern, Effekten und Show gespickt und trotzdem sehr langfristig und nachhaltig. Da ist es schwierig, einen Zenit auszumachen. Evaluation und Dokumentation, daraus lernen und wieder lehren waren die Prinzipien von MEM. 1987 kam das Buch ‹Classification AO des fractures› heraus und 1990 eine überarbeitete englische Version, ‹Comprehensive classification of fractures of long bones›. Diese Bücher zeigen, dass sich MEM in Bern auch noch nach seiner Emeritierung intensiv mit der Evaluation und Dokumentation der Traumatologie und den daraus zu ziehenden Lehren befasst hat. Durchaus nochmals ein herausragender Input für ‹seine AO› und die Traumatologie.» Anmerkung zum Transkriptentwurf vom 05.03.2022. Vgl. Müller u. a.: Classification AO, 1987; Müller u. a.: Comprehensive classification, 1990. ↩︎
22M. E. Müller-Institut für Biomechanik der Universität Bern: Jahresbericht, 1982, S. 3. Die Jahresberichte werden aufbewahrt von Urs Rohrer, Leiter Werkstatt, ARTORG Center, Universität Bern. ↩︎
23Stephan M. Perren (1932–2019) arbeitete in den 1960er-Jahren bei Martin Allgöwer am Kantonsspital Chur und bei Herbert Fleisch am Labor für experimentelle Chirurgie in Davos. Von 1967 bis 1996 leitete er das Davoser AO Research Institute (ARI) und von 1982 bis 1988 das M. E. Müller-Institut für Biomechanik der Universität Bern. Zu seiner Tätigkeit siehe Schlich: Surgery, 2002. ↩︎
24Roland Jakob ergänzte schriftlich: «Vielleicht ist ihm da Linné mit der Klassifikation der Pflanzenwelt vorgeschwebt?» Ergänzung zum Transkriptentwurf vom 05.03.2022. ↩︎
25Roland Jakob ergänzte schriftlich: «Daraus resultierten mehrere Originalarbeiten, die ihm Freude bereiteten.» Ergänzung zum Transkriptentwurf vom 05.03.2022. ↩︎
26Technische Kommission der Protek AG. ↩︎
27Siehe Kapitel «Die Protek AG und die Konsolidierung der Medizintechnikindustrie». ↩︎
28Hans-Georg Willert (1934–2006) leitete von 1980 bis zum Jahr 2000 die Orthopädische Universitätsklinik in Göttingen und war Professor an der dortigen Georg-August-Universität. Vgl. Götte: Willert, 2006. Seit er Ende der 1960er-Jahre während eines Weiterbildungsaufenthalts an der Universitätsklinik Balgrist mit Sulzer-Mitarbeiter Manfred K. Semlitsch Gewebeproben aus der Umgebung von Huggler-Prothesen untersucht hatte, war er ein wichtiger Forschungspartner der Schweizer Prothesenhersteller. Siehe dazu das Kapitel «Der Beitrag der Werkstoffforscher». ↩︎
29 Rolf Soiron ist mit Alicia Lüthi, der jüngsten Schwester von Martha Müller-Lüthi, verheiratet. ↩︎
30Hermann Taaks schrieb: «Bereits 1976 erhielt die Food and Drug Administration die Aufgabe, auch Medical Devices, z. B. orthopädische Implantate, zuzulassen und zu überwachen: 1976 Medical Device Amendments to the Federal Food, Drug, and Cosmetic Act.» Ergänzung zum Transkriptentwurf vom 05.03.2022. ↩︎
31Der deutsche Orthopäde Heinz Wagner (1929–2001) war Mitglied der AO und Gründungsmitglied der AO Deutschland. Zu seiner Zusammenarbeit mit Müller vgl. Schatzker: Müller, 2018, S. 113, 117, 123. Erwin W. Morscher (1930–2008) leitete von 1971 bis 1995 die Orthopädische Universitätsklinik Basel. ↩︎
32Peter E. Ochsner schrieb: «Reinhold Ganz ist in verschiedenen Sitzungsprotokollen als Teilnehmer erwähnt.» Anmerkung zum Transkriptentwurf vom 05.03.2022. Reinhold Ganz antwortete schriftlich: «Ich mag einmal bei einer Sitzung anwesend gewesen sein, aber offizielles Mitglied war ich nicht. Mein innovatives Interesse lag ja auch nicht im Bereich Prothetik.» E-Mail an Niklaus Ingold, 24.06.2022. ↩︎
33Peter Koch (1948–2021), Facharzt für orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, war am Dokumentationszentrum der Fondation Maurice E. Müller und am Lindenhofspital tätig. ↩︎
34Dora Kaufmann schrieb: «Es waren in erster Linie die Autoren, die man besuchen konnte, aber auch andere Anwender, die die Kriterien erfüllten. Dabei handelte es sich meistens um Schüler von Prof. Müller, die nach der Facharzt-Ausbildung in einem andern Spital in leitender Funktion tätig waren oder in einer Privatklinik operierten.» Anmerkung zum Transkriptentwurf vom 05.03.2022. ↩︎
35So Eurocol-5D sowie Short Form-12 (SF-12) und Short Form-36 (SF-36). Mündliche Mitteilung von Edith Röösli an Nikaus Ingold, Telefonat vom 21.07.2022. ↩︎
36 Institut für evaluative Forschung in der Orthopädie. ↩︎
37Beispielsweise begann die Entwicklung des Schweizerischen Implantateregisters (SIRIS) am IEFO. Mündliche Mitteilung von Edith Röösli an Niklaus Ingold, Telefonat vom 21.07.2022. Vgl. Auflistung im Archiv des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern, A Projekt Hüftprothesen 01_02_07, Beilagen Edith Röösli. ↩︎
40Gemeint ist der Mai 2021. ↩︎
41Gemeint ist das Rahmenabkommen zwischen der EU und der Schweiz. Die Schweizer Landesregierung beendete die Gespräche über dieses Abkommen, das die Grundlage für die künftigen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz hätte werden sollen, im Mai 2021. ↩︎