Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz
doi.org/10.36950/edv-mem-2023.4
Niklaus Ingold et al.

Den anderen einen Schritt voraus

Interview mit Hans Christoph Meuli

Bern, 26.8.2021

Anwesend: Hans Christoph Meuli, Peter E. Ochsner (Interview), Niklaus Ingold (Interview und Transkript)

Ingold: Erinnern Sie sich an Ihr allererstes Zusammentreffen mit Herrn Müller überhaupt, also noch vor St. Gallen?

Meuli: Nicht direkt Zusammentreffen, ich sah ihn. Ich traf ihn einmal in der Offiziersschule, weil er Klassenlehrer war, nicht von mir, aber von einer anderen Klasse. Da hat man ihn natürlich auch erlebt. Nachher sah ich ihn einmal, als ich Assistent war auf der Chirurgie in Basel. Er kam als Gastoperateur für einen Schenkelhalsbruch. Wir waren sehr überrascht, wie gut und wie einfach er das verschraubt hat. Wir hatten damals nur Dreilamellennägel und kaum noch gewusst, wie man ein Bohrloch macht. Er hat das elegant gelöst. Das waren meine Begegnungen. Dann kam es indirekt. Ein guter Freund von mir, wir waren zusammen Assistenten, Herr Ledermann1 – du kennst ihn.

Ochsner: Ja, den kenne ich natürlich.

Meuli: Er war ein Neffe von Robert Schneider, und der war Promotor mit Müller zusammen für die AO. Wir kamen also indirekt über die AO – nachdem wir erfahren hatten, dass es in St. Gallen eine neue Klinik gibt, Aufteilung der Chirurgie in Viszeral und Orthopädie, da sagten wir: «Sich da anzumelden, das ist eine Gelegenheit.» Wir beide zogen als einzige Assistenten dort ein. Die anderen Assistenten kamen von der anderen Chirurgie. Wir waren die einzigen Assistenten, die neu waren in St. Gallen, zusammen mit Weber als Oberarzt. Wir waren die drei einzigen, die frisch, neu zu Professor Müller kamen.

Ingold: Dann hat Professor Müller Sie auf die AO-Methoden eingeschworen?

Meuli: Ja, natürlich. Das war damals sehr, sehr aktuell. Die ganze AO-Technik war noch nicht sehr bekannt überall. Wir waren dann auch schon im Dezember 1960 gleich als Instruktoren im ersten AO-Kurs in Davos. Das war der erste AO-Kurs über die Technik der Osteosynthese.

Ingold: Wie hat er Sie auf diese Aufgabe vorbereitet?

Meuli: Wir waren natürlich alle Anfänger. Aber in Bezug auf die ganzen Teilnehmer waren wir einen Schritt voraus. Das waren wir lange Zeit, immer einen Schritt voraus, weil wir direkt von Müller instruiert wurden, jeden Tag. Wir waren immer allen anderen ein bisschen voraus in der Technik.

Ingold: Wie hat er Sie instruiert? Sie haben bei Operationen assistiert?

Meuli: Ja, man hat das auch besprochen.

Ingold: Er hat Ihnen zuerst wie einen kleinen Kurs gegeben?

Meuli: Ja, natürlich. Wir wurden sofort eingespannt in den ganzen Betrieb. Wir waren alle chirurgisch vorgebildet.

Ingold: Sie hatten sich schon für Orthopädie interessiert, bevor Sie nach St. Gallen kamen?

Meuli: Ich habe mich einfach interessiert für die Unfallchirurgie und die Traumatologie, Knochenchirurgie, die damals überall ein bisschen im Argen war. Deswegen habe ich gedacht: «Das ist die Gelegenheit.»

Ingold: Die Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie diskutierte im Jahr 1960 kontrovers über die AO-Methoden. Das bekamen Sie mit?

Meuli: Das war immer ein längerer Kampf mit Chirurgie und Orthopädie.

Ochsner: Warst du an dieser kontroversen Sitzung in Genf dabei?

Meuli: In Genf nicht, aber es gab da eine Sitzung in Bern.

Ingold: Im November 1960, eine ausserordentliche Sitzung ...

Meuli: … in Bern. Da war ich dabei.

Ingold: Das nahmen Sie nicht als Karriererisiko wahr, dass Sie in das Müller-Lager einsteigen, er aber so angefeindet wird?

Meuli: Nein, gar nicht. Wir waren von Anfang an überzeugt und waren eben im Müller-Lager, das ist klar. Es gab immer Diskussionen. Die AO war gemischt mit Chirurgen und Orthopäden, das heisst, am Anfang überhaupt fast nur Chirurgen, weil damals der Chirurg ja alles gemacht hat.

Ochsner: Von der grossen Klinik von Oberholzer2 wurden bekanntlich die Mitarbeiter etwas geteilt. Haben sich auch Oberholzer-Schüler mit Feuer und Flamme in die AO hineinentwickelt?

Meuli: Ja, ja.

Ochsner: Zum Beispiel?

Meuli: Wer war jetzt da. Da war Kramer.

Ochsner: Der später in Winterthur war?

Meuli: Ja.

Ochsner: Ah ja. Der Josef Kramer.

Meuli: Und Merki, Holenstein, Mumenthaler als Oberarzt. Die haben sich dann schon voll integriert. Dann sind alle anderen nachher gekommen, Debrunner, Boitzy, Courvoisier, Burch.3

Ochsner: Vasey?

Meuli: Vasey4 natürlich auch. Die sind alle leider nicht mehr unter uns.

Ingold: Am 9. Februar 1961 hat Müller in St. Gallen die erste Hüftgelenkendoprothese implantiert.

Meuli: Das ist richtig, ja.

Ingold: Erinnern Sie sich an diese Operation, waren Sie dabei?

Meuli: Ja, ja, das war ein Ereignis. Das war die erste Charnley-Prothese, die in der Schweiz oder auf dem Kontinent, dem europäischen, gemacht wurde. Das war ein Ereignis, natürlich. Man war sehr interessiert daran, wie das weitergeht. Es war eben dann leider eine Prothese mit Teflonpfanne. Das hat sich bekanntlich schlecht bewährt oder überhaupt nicht, weil das Teflon zu weich war und zu viel Abrieb ergab. Daraufhin kamen dann die Änderungen.

Ochsner: Magst du dich noch an diesen ersten Patienten erinnern? Kannst du uns schildern, was das für ein Fall war?

Meuli: Ja, das war eine Frau mittleren Alters. Sie war der erste Fall.

Ingold: Erinnern Sie sich an das Leiden dieser Frau?

Meuli: Sie hat eine Koxarthrose gehabt. Professor Müller hatte sich schon vor der St. Galler Zeit mit der Behandlung der Koxarthrose befasst. Er hatte seine Monografie gemacht über die intertrochantären Osteotomien. Das haben wir damals in grösserem Umfang praktiziert, die Osteotomien. Das war ein sehr wichtiger Teil von allen Operationen.

Ingold: Erinnern Sie sich daran, wie Herr Müller die erste Patientin aufgeklärt hat darüber, dass er jetzt eine Operation …

Meuli: Das weiss ich nicht mehr im Detail. Aber man hat einfach gesagt, das wäre jetzt mal eine Gelegenheit.

Ingold: Die Patientinnen und Patienten waren nicht verunsichert?

Meuli: Nein, soweit ich weiss.

Ingold: Wie war das später, als man häufiger Hüftgelenkendoprothesen eingesetzt hat? Wollten da die Patientinnen und Patienten mehr dazu wissen, zum Beispiel Langzeitergebnisse, oder hat der Arzt gesagt, dass das der richtige Eingriff sei?

Meuli: Man hat ihnen schon gesagt, das wäre jetzt eine neue Methode. Die meisten waren dann eben begeistert, dass man das machen konnte. Ergebnisse hatten wir ja am Anfang keine. Aber schon nach einem Jahr konnte ich 45 Totalprothesen bei 43 Patienten zusammenstellen.

Ochsner: Also schon im ersten Jahr waren etwa fünfzig Patienten mit Prothesen versorgt?

Meuli: Soweit ich mich erinnere, ja.

Ingold: Als dann offensichtlich wurde, dass Teflon zu viel Abrieb produziert, hat das schlaflose Nächte gemacht, weil man wusste: Jetzt hat man mindestens fünfzig Personen, die man reoperieren muss?5

Meuli: Das waren nur die Ersten – das weiss ich nicht, wie viel, aber sehr, sehr wenige. Vor allem die Erste, dann aber überhaupt nicht mehr.

Ingold: Wie ist Müller mit solchen Problemen umgegangen? Konnte er das auf die leichte Schulter nehmen? Hat er gesagt: «Das passiert halt, wenn man etwas Neues ausprobiert»? Oder hat ihn das beschäftigt?

Meuli: Ja, also leichte Schulter, das hat ihn natürlich schon beschäftigt. Wir alle waren beschäftigt damit. Man hat das einfach festgestellt, dass man das jetzt anders machen muss. Man hat das dann sehr schnell geändert.

Abb. 1. Hans Christoph Meuli, Mitglied der St. Galler Equipe von Maurice E. Müller und Erfinder eines künstlichen Handgelenks, circa 1990. Quelle: H. Ch. Meuli

Ochsner: 1962 wurde das Polyethylen eingeführt.

Meuli: Ja, spätestens.

Ingold: Nochmals zurück zur ersten Operation. Hat man sich da vorzustellen, dass sehr viele Ärzte auch aus anderen Abteilungen als Zuschauer mit dabei waren?

Meuli: Nein, eigentlich nur …

Ingold: Nur das ärztliche Personal der Abteilung?

Meuli: Das wurde nicht so ganz an die grosse Glocke gehängt.

Ingold: Charnley hatte besondere Massnahmen zur Infektionskontrolle getroffen. Man sprach von diesem Greenhouse.

Meuli: Das war aber erst später.

Ingold: Wie hat man das in St. Gallen bei diesen ersten Operationen gemacht?

Meuli: Am Anfang gar nicht. Aber wir waren natürlich geschult für sehr sorgfältiges Operieren, no touch und so, also mit langen Instrumenten und so. Wir haben sehr wohl die sorgfältige Operationstechnik gepflegt. Das war sehr eindrucksvoll, sogar aus heutiger Sicht, kann man das sagen – man hat in St. Gallen verboten, prophylaktisch Antibiotika zu geben. Das haben wir nie gemacht. Wir haben auch sehr wenige Infekte gehabt. Wir haben auch – was wollte ich jetzt sagen?

Ochsner: Wir hatten es über die Sorgfalt der Technik.

Meuli: Ja, die Sorgfalt. Wegen der Antibiotika wollte ich sagen: Natürlich hat man die gebraucht bei Infekten oder bei offenen Frakturen, das schon. Aber sonst nicht, prophylaktisch gar nicht. Man hat auch wenig, möglichst wenig geröngt während der Operation. Den ganzen Umtrieb und alles hat man möglichst vermieden. Ich denke schon, dass man damit die Infektionen sehr niedrig halten konnte. Das mit dem Greenhouse kam in St. Gallen in der Zeit von Professor Müller nicht. Das hat Weber eingeführt. In Bern, im Lindenhof hat das Müller dann auch eingeführt, also mit dem Laminar Flow und mit der sterilen Operationskabine. Dann haben wir in Bern alle Operationen dort gemacht.

Ingold: Am Lindenhofspital. Und am Inselspital?

Meuli: Am Inselspital hat man dann auch dasselbe gemacht, ja.

Ingold: Am Lindenhofspital war es das Modell, das Weber entwickelt hatte und mit Allo Pro kommerzialisiert hat?

Meuli: Nein, das war ein bisschen anders. Weber in St. Gallen hat das ja wirklich bis zum Extrem, mit Helm und – wie ein Astronaut war man da angezogen. Das haben wir aber hier nicht gemacht.

Ingold: Sie sagen, bei der ersten Operation hat man darauf vertraut, dass man sorgfältig arbeitet, zehn Jahre später steht man wie ein Astronaut im Operationssaal. Was ging ihnen da durch den Kopf?

Meuli: Rein persönlich fand ich das doch ein bisschen übertrieben, ehrlich gesagt.

Ochsner: Wir haben darunter gelitten im Balgrist. Der Chef, der kam mit der Schirmmütze und wir waren alle unter dem Astronautenhelm.

Meuli: Habt ihr das gemacht im Balgrist?

Ingold: Das war heiss?

Ochsner: Ja, furchtbar.

Meuli: Also, das haben wir nie gemacht. Wie gesagt, persönlich war ich eigentlich nicht so überzeugt davon, dass das absolut notwendig ist, wenn man sorgfältig arbeitet.

Ingold: Diese ersten fünfzig Patientinnen und Patienten in St. Gallen, hatten die alle dasselbe Leiden? Hat man eine bestimmte Gruppe von Patientinnen zuerst mit Hüftgelenkendoprothesen versorgt oder waren das unterschiedliche Fälle, bei denen das künstliche Hüftgelenk als die beste Lösung angeschaut wurde?

Meuli: Alles ungefähr dasselbe. Was dazukam, man hat ja die frühere Moore-Prothese, also die Kopfprothese, dann weiterhin schon noch gebraucht. Bei sehr betagten Patienten zum Beispiel, wo man ja das Risiko vom Abrieb am Knochen und am Gelenk quasi vernachlässigen konnte, weil das längere Zeit braucht. Man hat dort doch oft noch diese Kopfprothese gebraucht. Bis heute übrigens. Was wir aber gemacht haben, wir haben die dann modifiziert und einzementiert, was ja Moore nicht gemacht hat. Moore hat diese gelöcherten Schäfte gehabt, wo der Knochen einwachsen musste. Wir waren, glaube ich, die Ersten, die einzementiert haben. Burch hat das mal publiziert, die einzementierten Kopfprothesen.

Ingold: Wann durften Sie selbst Ihre erste Hüftgelenkendoprothese einsetzen?

Meuli: Relativ bald.

Ingold: Als Assistenzarzt?

Meuli: Ja, auch.

Ingold: Wie hat Müller Sie an diesen Eingriff herangeführt? Als Nichtmediziner habe ich keine Ahnung davon, wie man von der theoretischen Ausbildung zum Operateur wird.

Meuli: Erstens wird man ja eingeführt. Bei Operationen assistiert der Oberarzt und so. Wenn etwas Spezielles war, das hat er auch gemacht, dann hat der Chef persönlich assistiert. Das war aber schon fast eine Seltenheit. Ich glaube, bei der ersten Hüfte hat er sicher selbst assistiert. Aber wir haben sehr bald dann Hüften operiert, überall, auch in anderen Krankenhäusern. Die älteren Assistenzärzte haben oft als Konsiliarärzte in den umliegenden Spitälern operiert. Wir wurden überall hingeschickt, nach Grabs, nach Wattwil und nach Walenstadt.

Ochsner: Auch ausserhalb des Kantons?

Meuli: Nein, das weniger, nein, das nicht. Wir haben einfach von St. Gallen aus die umliegenden kleineren Krankenhäuser orthopädisch mitversorgt. Das war eigentlich von der Ausbildung her eine geschickte Entscheidung vom Chef, dass er uns hinausgeschickt hat. Das hat die Selbstständigkeit gefördert. Man hat dabei sehr viel gelernt. Ich habe zum Beispiel einmal einen ganzen Winter lang in Walenstadt die Skifrakturen versorgen müssen, weil der Chef krank war und ausgefallen ist. Jeden Montagmorgen etwa vier Unterschenkelfrakturen, die noch vom Sonntag übrig waren. Da lernt man natürlich viel. Ausbildungsmässig, für uns, wir waren ein paar, wurden immer hinausgeschickt, das war schon sehr gut.

Ochsner: Bist du in Walenstadt auch mit der pohlschen Laschenschraube konfrontiert worden? Der Walenstadt-Chef hat die gebraucht.

Meuli: Kann ich nicht sagen.

Ingold: Sie haben grundsätzlich AO-Methoden angewandt?

Meuli: Ja, ja, natürlich. Ja, ja.

Ingold: Stimmt es, dass Sie die Ergebnisse der ersten tausend Hüftgelenkendoprothesen zusammenstellen mussten für Müller? Wann war das etwa?

Meuli: Das war ein Kongress der Schweizerischen Orthopädengesellschaft, 1963. Thema: Die doppelseitige Koxarthrose. Wurde von der St. Galler Klinik bestritten. Mir war dann folgendes Thema zugeteilt: Dokumentation und Nachkontrolle bei tausend Hüftoperierten unter besonderer Berücksichtigung der doppelseitigen Koxarthrosen.

Ochsner: Schon 1963.

Meuli: Da waren alle verschiedenen Hüftoperationen dabei, nicht nur Prothesen.

Ingold: Spielten bei den Fällen, wo es um Prothesen ging, spielte da dieses Teflonabrieb-Problem …

Meuli: Das war kein Thema mehr, das waren die ersten zwei, drei Prothesen, nachher nicht mehr. Da hat man sofort aufgehört.

Ingold: Da hat man auf Polyethylen gewechselt und dann auf Metall-Metall.

Meuli: Das kam später, Metall. Metall gab es ja schon in ganz früheren Zeiten, Metall-Metall. Diese McKee-Farrar-Prothese – das ging auch nicht. Metall-Metall, das hat sich später doch weitgehend bewährt, dank der Technik der Herstellung mit der exakten Übereinstimmung von den Gelenkflächen. Das konnte man damals machen. Früher war das nicht möglich. Damit war die Reibung sehr gering.

Ingold: Haben Sie mitbekommen, wie Müller nach Lösungen gesucht hat für dieses Reibungsproblem? Hat er das mit Ihnen besprochen?

Meuli: Ja. Angefangen hat das mit der Firma Sulzer, dass er die Leute dort angesprochen hat, weil er den Eindruck hatte, die bei Sulzer können so etwas. Damit hat das ja angefangen, dass Sulzer auch Prothesen produziert hat. Das war doch neu für die Firma Sulzer, die hat Maschinen und weiss ich was gemacht. Aber die Prothesen, die Medizinaltechnik, das wurde dann eingeführt. Das war ein wichtiger Zweig der Firma Sulzer, wie wir also alle wissen. Damit konnte man eben alle diese technischen Probleme besprechen. Ich und andere Mediziner wissen das ja nicht. Man müsste auch noch ein Metallurg sein.

Ochsner: Wir hatten am letzten Freitag Herrn Semlitsch im Gespräch. Der hat uns diese metallurgischen Fragen erläutert.

Meuli: Eben, das sind diese Leute, die können das, aber wir nicht. Ist ganz klar.

Ingold: Herr Semlitsch hat uns ausgeführt, dass eigentlich Bernhard Weber Müller anstiess zur Prothesenentwicklung. Weil Weber – bevor ihn Müller eingestellt hat – bei Charnley gewesen war und dort die Charnley-Prothese gesehen hatte und dann Müller Ende 1960 entsprechende Skizzen gezeigt hat.

Meuli: Ja, ich glaube, das war so. Weber hat das eben angestossen.

Ingold: Müller hat darauf aber Weber verboten, in St. Gallen als Oberarzt eigene Prothesen zu entwickeln und einzusetzen. Wie hat man sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Personen vorzustellen?

Meuli: Ja, das war gut, das war gut, das Verhältnis. Ich kenne nichts anderes. Weber hat seine Prothese mit dem Polyethylenkopf entwickelt, was sich später als ungeeignet erwiesen hat. Dasselbe habe ich tatsächlich auch danach bei meiner Prothese erlebt. Ich habe auch zuerst einen Polyethylenkopf gehabt am Handgelenk. Das war auch nichts. Dann ist man wieder auf die klassische Metall-Polyethylen-Paarung zurückgekommen.

Ingold: Aber Müller und Weber haben in St. Gallen auch nicht sozusagen die Köpfe zusammengesteckt, um über Prothesenprobleme zu brüten. Die waren über das Tagesgeschäft miteinander verbunden?

Meuli: Sie haben schon miteinander geredet. Weber hat natürlich auch seine eigene Meinung gehabt, das ist klar. Aber es war nicht ein Krieg zwischen den beiden, sicher nicht.

Ochsner: Also hat quasi der Erfolg der Klinik beide beflügelt?

Meuli: Ja. Nicht umsonst ist Weber nachher problemlos zum Nachfolger gewählt worden.

Ingold: Können Sie uns etwas über den internationalen Ruf von Müllers St. Galler Abteilung sagen? Kamen viele Gäste, die ihm zuschauen wollten, wie er operiert hat?

Meuli: Ja. Wir haben eine Zeit lang sehr viele Gäste gehabt.6

Ingold: Ging es da um die AO-Techniken vor allem oder auch um die Hüften?

Meuli: Hüften auch. Ebenso nachher. In Bern haben wir auch noch Gäste gehabt. Ich kann mich erinnern, einer der prominenten Gäste, als ich in Bern war, war Buchholz ...

Ochsner: Der Buchholz.7

Meuli: Er kam, um zu sehen, wie wir Hüften operieren. Nachher hat er seine eigene Klinik, Prothesenklinik, gegründet.

Ochsner: Ah, das war vor der Gründung der Endo-Klinik?

Meuli: Ja, ja, natürlich ja. Der hat sich vorher überall informiert, wie und was. Ich kann mich erinnern, der war bei uns zu Besuch und hat zugeschaut und wir haben das diskutiert.

Ingold: Gab es eine Art Standardprogramm für solche Gäste?

Meuli: Ja schon.

Ingold: Können Sie das ausführen?

Meuli: Gewisse Tage waren Besuchstage in St. Gallen. Da wussten also die jeweiligen Besucher, dass sie an dem und dem Tag eben willkommen sind.

Ingold: Wie viele Gäste nahmen an einem Besuchstag teil?

Meuli: Das waren Einzelne. Das wurde auch im Staff Meeting besprochen. Die hatten manchmal auch noch einen Gastvortrag und so. Wir hatten schon ziemlich viele Besuche in St. Gallen.

Ingold: Würden Sie sagen, dass diese persönlichen Kontakte wichtig waren für Müllers internationales Renommee?

Meuli: Ich denke schon. Ja.

Ingold: Wichtiger vielleicht als seine Publikationstätigkeit?

Meuli: Ich denke schon. Persönlicher Besuch war wichtig.

Ochsner: Gibt es neben Buchholz noch andere Namen, die sich nachher vor allem in der Hüftprothetik profiliert haben?

Meuli: Ich könnte jetzt nicht einen Namen nennen. Aber das gibt es sicher. Wir waren einfach – da können wir halt nichts dafür –, aber wir waren wirklich allen anderen einen Schritt voraus, ohne Selbstlob. Jedoch war das so. Weil wir einfach von Anfang an dabei waren, also die St. Galler Klinik.

Ingold: Die St. Galler Klinik war auch bekannt für einen sehr dichten Operationsplan. Haben Sie das erlebt, dass es sehr viele Operationen pro Tag gab? War da eine Art Leistungsdruck?

Meuli: Schon ein bisschen Leistungsdruck. Es gab natürlich immer ein streng organisiertes Programm. Der Chef hatte so quasi mit der Stoppuhr seine Operationen eingeteilt. Man hat genau gewusst: «Von dann bis dann und dann und dann ist fertig.» Das hat er oft fast auf die Sekunde eingehalten, dieses Programm.

Ingold: Von seinen Assistenzärzten und Oberärzten hat er Ähnliches erwartet? Dass man da nach Stoppuhr …

Meuli: Nein, das nicht. – Also, Stoppuhr ist in Anführungsstrichen. Er hat sehr diszipliniert gesagt: Wir brauchen so lange für die Operation, bis sie fertig ist. Das hat man schon sehr strikt organisiert.

Ingold: In den Wintermonaten blieb aber dennoch Zeit für eine lange Mittagspause von elf bis sechzehn Uhr an einigen Tagen, um auf die Skipiste zu gehen?

Meuli: Ah, das haben Sie auch mitbekommen.

Ingold: Bei Alfred Debrunner habe ich das gelesen.8 Waren Sie auch ein Skifahrer?

Meuli: Ja natürlich. So was war sehr gut möglich. Das haben wir auch gepflegt, solche Anlässe.

Ingold: Das hat auch zusammengeschweisst?

Meuli: Wir waren da so wirklich eine eingeschworene Truppe: Wir waren ein Team.

Ochsner: Wie häufig ging man denn Ski fahren über Mittag pro Woche?

Meuli: Das war ein paar Mal im Winter.

Ochsner: Nicht jeden Tag.

Meuli: Nein. Das war ein paar Mal im Winter, bei schönen Verhältnissen und so ist man da einmal in der Woche mal Ski fahren gegangen. Das war von zwölf bis vier. Dann kam wieder der Röntgenrapport und und und.

Ochsner: Aber es war dann doch das Vorbild für die Organisation der AO-Kurswochen.

Meuli: Nein, das war nicht in direktem Zusammenhang mit den AO-Kursen und so. Das hat sich dort einfach – weil das in Davos stattfand, musste man ja dort Ski fahren im AO-Kurs. Ist ja klar. Aber das war nicht direkt im Zusammenhang. Diese Ausflüge, die waren einfach eine Abwechslung von dem ganzen Operationsbetrieb, dass man mal zusammen so etwas gemacht hat. Das haben wir auch gepflegt. Weber war dabei auch ein Initiant, weil er ein sehr guter Skifahrer war. Das war für ihn eine Liebhaberei, genauso wie für mich.

Ingold: War das auch wichtig, um vom Chef Anerkennung zu bekommen, dass man nicht nur im Operationssaal zur richtigen Zeit die richtigen Schritte gemacht hat, sondern auch auf der Skipiste mithalten konnte?

Meuli: Das war keine Bedingung. Er hat auch einen Nichtskifahrer akzeptiert.

Ingold: Wie war das später in Bern? Ist es Müller in Bern auch gelungen, so ein Team zu bilden? Sie haben ja anfangs in Bern noch mitgearbeitet.

Meuli: Der Anfang war sehr interessant, Professor Müller wurde 1963 in Bern gewählt. Die Klinik in Bern gab es eigentlich gar noch nicht. Dann hat er das so ausbedungen, dass er noch in St. Gallen bleibt und erst kommt, wenn die Klinik einigermassen fertig ist. In dieser Zeit waren Stellvertreter, einer nach dem anderen, in Bern.

Ingold: Sie auch?

Meuli: Ich war dann der Letzte von denen. Zuerst war Weber, dann Mumenthaler und schliesslich Debrunner und ich. Ich war darauf, das war 1966, als Stellvertreter in Bern und habe die Klinik führen müssen. Vorläufig noch in der Baracke, ein bisschen provisorisch, aber mit allem Drum und Dran. Wir haben viel operiert. 1967 kam Müller nach Bern, definitiv. Danach war ich zuerst noch Oberarzt an der Klinik. Nachher bin ich im Lindenhof untergekommen und habe nur noch konsiliarisch mitgemacht in der Klinik.

Ingold: Ich habe gelesen, dass der Wechsel von St. Gallen nach Bern, also 1967, als Müller dann wirklich da war, für ihn eine Art Kulturschock gewesen sei, weil er von einem Ort, wo er diese straffe Operationsorganisation zum Beispiel einrichten konnte, in ein Universitätsspital kam, das nach ganz anderen Regeln funktionierte.

Meuli: Ja, das stimmt ja schon in dem Sinn. Aber auf der anderen Seite war er natürlich auch daheim in Bern. Da war ja seine Heimat. Natürlich war das anders. Da kamen noch der Vorlesungsbetrieb und alle diese Sitzungen und alle diese Geschichten. Das ist schon ein Unterschied. In St. Gallen war er halt der oberste Chef der Klinik. In Bern ist man, in so einer Universitätsklinik ist man einer von vielen Chefs. Ist ja klar. Das war sicher schon für ihn auch ein Unterschied.

Ingold: In Bern musste man ja auch wieder Assistenzärzte ausbilden. Wie hat man das gemacht? Ab wann durften Assistenzärzte selbst Hüftgelenkprothesen einsetzen?

Meuli: Es kam einfach darauf an, wie weit einer war, was einer mitgebracht hat an früheren Erfahrungen und so. Je nach Ausbildung kam er früher dran mit selbstständigem Operieren. Das kam allmählich und je nachdem wie einer sich anstellte, konnte er bald selbstständig operieren. Man wurde schon zur Selbstständigkeit erzogen in dem Sinn. Man war nicht ewiger Sklave. Das schon nicht, im Gegenteil.

Ingold: Alfred Debrunner hat in einem Artikel geschrieben, dass Müller eigentlich in Bern seinen Zenit überschritten hätte. Also, dass die St. Galler Jahre seine produktiven Jahre gewesen seien. Können Sie dieser Bemerkung von Herrn Debrunner etwas abgewinnen?

Meuli: Bis zu einem gewissen Grad ist das schon so. Der Betrieb an einer Universitätsklinik ist einfach anders, da ist man nicht der Einzige. Da hat es auch andere, aus anderen Fächern, die wollen dann auch die Ersten sein.

Ochsner: In der Insel war ja die Bettenzahl der Orthopädie gedeckelt.

Meuli: Ja natürlich auch. Da konnte man nicht machen, wie man wollte. Müller hat eine Sonderstellung gehabt. Er hat noch einen Vertrag gemacht, dass er seine Privatpatienten im Lindenhof operieren durfte. Das war damals nicht üblich. Der Chef von der Insel, der musste an der Insel sein und durfte nicht gleichzeitig eine Privatpraxis haben im Privatspital. Das hat er sich ausbedungen. Das hat dann funktioniert. Er hat immer auch einen Assistenten herübergenommen von der Insel in den Lindenhof. Das hat auch zur Ausbildung gehört.

Ingold: Sie kamen auch so zum ersten Mal ans Lindenhofspital?

Meuli: Nein, ich war dann übrig in der Insel, eigentlich. Da kam eben ein anderer, das war damals Boitzy, der musste ebenso als Oberarzt an die Klinik. Ich konnte im Lindenhof unterkommen. Das war mir natürlich sehr recht. Ich habe mich weiterhin betätigt als sogenannter Konsiliarius für die Rheumaorthopädie, das war damals sehr aktuell. Da habe ich dann die Konsiliartätigkeit mit den Rheumatologen übernommen, habe auch operiert in der Insel als Auswärtiger, sogenannter.

Ingold: Weshalb hat Müller diese Spezialregelung angestrebt, dass er die Privatpatienten am Lindenhofspital operieren darf?

Meuli: Das war für ihn nicht befriedigend genug. In der Insel konnte er nicht Patienten aus der ganzen Welt betreuen und behandeln.

Ingold: Aus Kapazitätsgründen, zu wenig Betten?

Meuli: Das war eben das, was ich vorhin gesagt habe: Wir waren in Bern wirklich die einzigen weit und breit, die Hüftprothesen gemacht haben. Ja, das war noch nicht auf der ganzen Welt bekannt. Wir hatten ungezählte Patienten aus dem Ausland. Die kamen alle nach Bern. Eine Zeit lang hatten wir sehr viele Italiener, auch Deutsche, von überallher Patienten.

Ingold: Inwiefern waren Sie selbst an der Weitergabe dieser neuen Möglichkeiten beteiligt? Haben Sie an Tagungen selbst auch die Hüftoperationen vorgestellt oder war das Chefsache?

Meuli: Als ich Stellvertreter war in der Insel, da kamen auch dauernd Gäste, da waren wir halt verantwortlich, mussten wir sehen, was man denen zeigen konnte.

Ochsner: Vielleicht wäre eine kurze Frage noch vernünftig über diese Alt-St. Galler Zeit und die spätere Auswirkung: Maurice Müller war mitverantwortlich dafür, dass du nach Finnland gegangen bist für die Handchirurgie oder hast du das selbst entschieden?

Meuli: Du weisst, dass ich da war. Mumenthaler hat damals die Handchirurgie weitgehend betreut. Ich war entsprechend auch interessiert. Da habe ich die Idee gehabt, ich möchte eigentlich am liebsten einmal zu Moberg9, um mich dort weiterzubilden. Das muss ich dem Chef sehr hoch anrechnen. Da war er sofort bereit, mir das zu ermöglichen.

Ochsner: Also der Maurice.

Meuli: Maurice. Das war 1964. Da hatte ich die Möglichkeit, dort eine Handchirurgie-Weiterbildung zu machen. Als ich bei Moberg war, hat er gesagt: «Du musst jetzt noch zum Vainio10 für die Rheumaorthopädie.» Das war damals sehr aktuell. In der Schweiz war Gschwend, der war gerade zur gleichen Zeit in Finnland. Da wurde die Grundlage gelegt für unsere Rheumachirurgie, die wir gemacht haben. Herr Gschwend hat ja dann sein Buch geschrieben und so weiter. Wir haben die Rheumaorthopädie gefördert ...

Ingold: Zeitgleich mit Gschwend.

Meuli: Ja, mit Gschwend, gleichzeitig. Zur gleichen Zeit waren wir so eine Woche bei Vainio zu Besuch und haben da seine Rheumaorthopädie …

Ochsner: Wurden noch andere Leute zu anderen Kliniken geschickt von St. Gallen her? Ledermann oder Meyer zum Beispiel zum Böhler.11

Meuli: Moment, wie war das jetzt mit dem Böhler? Nein, eigentlich nicht, war keiner sonst.

Ochsner: Es wurde sonst nicht auch so zwischen den Kliniken ausgetauscht?

Meuli: Nein, eigentlich nicht. Ich habe danach eben entsprechend die Handchirurgie übernehmen müssen an der Klinik. Weil ich die Ausbildung hatte, war ich verantwortlich für Handchirurgie.

Ingold: Dass Sie eine Handgelenkprothese entwickelt haben, hatte das auch damit zu tun gehabt, dass Sie die Anfänge der Hüftgelenkprothese mit Müller mitbekommen hatten?

Meuli: Nicht unbedingt. Ich habe einfach mich damals mit der Rheumaorthopädie befasst. Wir haben da sehr viele Rheumafälle gehabt mit schweren Gelenkveränderungen, das gibt es ja heute nicht mehr dank der Medikamente. Damals war die Chirurgie in diesen Fällen sehr aktuell. Da war auch eine Handgelenkplastik – jedenfalls nach meiner Auffassung – ein Bedürfnis. So habe ich meine ersten Versuche gemacht. Das war aber schon hier in Bern. Danach habe ich systematisch weiterentwickelt.

Abb. 2. Handgelenkendoprothese nach Hans Christoph Meuli aus den 1970er-Jahren. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 14833

Ingold: Die ersten Versuche waren am Lindenhofspital oder am Inselspital mit der Handgelenkprothese?

Meuli: Beides, Insel und Lindenhof. Weil ich im Inselspital eben diese Rheumapatienten betreut habe, habe ich dann manchmal Gelenkplastiken gemacht, wir haben auch die ersten Knieprothesen gemacht, also alle möglichen Knieprothesen von Anfang an durchprobiert und durchexerziert. Das war damals sehr aktuell, die Rheumapatienten. Die waren weitgehend vernachlässigt, relativ. Das waren wirklich schwierige Patienten. Ich habe die erste Publikation zur Handgelenkprothese 1973 veröffentlicht.12 Damals habe ich vor allem mit den französischen Handchirurgen zusammengearbeitet. Dann kam die ganze Geschichte nach Amerika, das heisst, die Amerikaner haben quasi meine Prothese selbst übernommen und haben die dann abgeändert und so. Und danach haben wir das alles weiterdiskutiert. Ich war mehrmals in der Mayo Clinic, mit diesen Leuten habe ich das besprochen. In Amerika hatte es zwei, drei verschiedene Promotoren gehabt, die diese Handgelenkprothese eben auch weiterentwickelt oder verändert haben. Das haben wir dann gemeinsam erledigt. Das ging schon. Daraufhin sind wir hier zum endgültigen Produkt gekommen.

Ingold: Das haben Sie mit Sulzer in Winterthur …

Meuli: Ja, das war Protek, damals, und dann kam Centerpulse und so, und schliesslich kam die Firma Zimmer, die haben das übernommen am Anfang und nachher ging das nicht mehr weiter. Inzwischen braucht man das quasi nicht mehr. Es gibt nicht mehr so viele Fälle dafür. Man hat auch zum Teil andere Methoden. Diese schweren Veränderungen, vor allem bei den Rheumatikern, das hat man nicht mehr heute.

Ochsner: Also ähnlich eigentlich wie die GSB-Prothese13 in ihrer Art überholt wurde und die Chirurgie auch bei Rheumapatienten im Knie anders verläuft.

Meuli: Ja, genau. Gschwend hat auch schöne Prothesen entwickelt, Knie und Ellbogen und so, aber das wird nicht mehr gebraucht.

Ingold: Wie wichtig war, dass Müller ein Netzwerk zu Sulzer über Protek schon aufgebaut hatte, eben zum Beispiel zu Materialwissenschaftlern wie Semlitsch – war das etwas, wovon Ihre Prothesenentwicklung profitierte?

Meuli: Ja natürlich, ich war doch abhängig von denen. Ich konnte das nicht selbst. Materialauswahl und so, das müssen die Techniker machen.

Ingold: Können Sie uns die Arbeitsteilung etwas beschreiben? Was haben Sie an der Handgelenkprothese entwickelt? Was war der Beitrag vonseiten der Materialwissenschaftler?

Meuli: Ja, das Material. Ich habe meine Vorstellungen eben gehabt und dann gesagt: Wie kann man das machen und was braucht man da für Materialien? Dann haben die Vorschläge gemacht und so weiter. Also hat man das besprochen. Das hat eigentlich sehr gut funktioniert. Man hat natürlich auch auf den Erfahrungen mit den Hüften aufgebaut. Am Anfang hat man zementiert und das hat sich nicht bewährt. Die kleinen Handknochen und so, das war nicht glücklich. Danach hat man das aufgegeben und Titan verwendet. Die letzte Prothese war völlig unzementiert mit Metallkugel und Polyethylenpfanne.14 Gemeinsam hat man das entwickelt. Wie das strukturiert sein muss und so weiter, wie das geht mit den Metallen, welche, Titan und so. Ja, das Titan war natürlich ein ganz grosser Fortschritt. Darüber haben wir noch gar nicht geredet. Das Titan war jedenfalls ein irrsinniger Vorteil. Es ist für die unzementierten Prothesen äusserst wichtig, weil das halt im Knochen sehr gut einwächst.

Ingold: Zahnmediziner beginnen in den 1970er Jahren auch Titanimplantate zu entwickeln.

Meuli: Ja genau. Das hat man dann auch entwickelt dort.

Ingold: Lief das parallel oder schwappte das von einer Disziplin in die andere über?

Meuli: Es ging schon mehr oder weniger parallel. Die Firma Straumann war ja führend bei den Zahnimplantaten. Straumann hat auch unsere Instrumente und unsere Implantate, vor allem damals die Kleinimplantate für Hände und so, Kleinknochen, entwickelt.

Ochsner: Materialkundlich ging die Bewegung eher von der Zahnmedizin auf die Grossorthopädie als umgekehrt?

Meuli: Nein, ich glaube es ist umgekehrt.

Ochsner: Also Straumann hat zunächst diese kleinen Zylinder für diese Zahnimplantate schon entwickelt und hat erst nachher das Titan für grössere Sachen probiert.

Meuli: Ich glaube es war umgekehrt.

Ochsner: Ich habe es so erlebt, bei der Firma Straumann.

Meuli: Du warst ja in der Nähe. Ich glaube es war umgekehrt. Die Zahnimplantate kamen ja erst nachher, nach den Hüften und Knie.

Ingold: Nach der Hüfte, aber Knie ist ja etwa um 1970, und hier in Bern beginnt Schroeder 1971 zusammen mit Straumann Zahnimplantate zu entwickeln. Hermann Stich erbringt 1973 den histologischen Nachweis, dass das Implantat gut im Knochen einwächst.15

Meuli: Dann war das doch relativ früh mit dem Zahn.

Ingold: Sie haben sich mit den Hüftgelenken und mit den Handgelenken auf medizintechnisches Neuland begeben in den 1960er- und 1970er-Jahren. Erinnern Sie sich an das Gefühl. War das für Sie damals halt einfach normal, weil Sie mit diesem Müller …

Meuli: Es war schon Neuland. Wenn man ganz, ganz weit zurückgeht, gab es ja natürlich schon früher Prothesen. Also wenn man in das 19. Jahrhundert zurückgeht. Der Erste mit einer Prothese, das war wahrscheinlich Themistocles Gluck16 in Deutschland. Der hat so Prothesen, auch Hüften, aus Elfenbein probiert. Er hat auch eine Handgelenkprothese – er war wahrscheinlich der Erste mit der Handgelenkprothese. Aber das hat natürlich alles noch nicht funktioniert. Das war mit Elfenbein.

Ingold: Ja, aber dass dieser Eingriff häufig gemacht wird, zu einer Standardbehandlung wird, das ist erst nach den 1960er Jahren. Das ist das, was Sie miterlebten.

Meuli: Ich sage immer: Wir hatten eine ganz interessante Zeit. Wir konnten diese ganzen Entwicklungen miterleben. Mit der AO-Technik von Anfang an und auch eben die Prothesen. Das war genau in dieser Zeit. Vorher gab es das nicht oder eben nur punktuell. Kopfprothesen von Moore und ähnliche Sachen. Aber eben, die eigentlichen Gelenkprothesen wurden erst nachher sukzessive entwickelt. Das war für uns schon eine interessante Zeit.

Ingold: Ich bin mit meinem Fragebogen am Ende. Herr Ochsner?

Ochsner: Ich hätte mich noch etwas gefragt. Gab es Momente des Kontaktes zwischen dir und Maurice, die dir bis heute irgendwie als wegweisend für deine weitere Entwicklung oder anekdotisch in Erinnerung geblieben sind?

Meuli: Was soll ich dazu sagen? Wir haben eigentlich guten Kontakt gehabt immer. – Meinst du im Lindenhof oder so?

Ochsner: Irgendwann.

Meuli: Persönlich oder fachtechnisch?

Ochsner: Persönlich.

Meuli: Persönlich war das in Ordnung. Wir waren nicht in dem Sinn Konkurrenten. Am Anfang im Lindenhof habe ich ihn auch vertreten, manchmal, und wir haben untereinander auch assistiert, später dann natürlich nicht mehr. Er hat natürlich immer weniger gemacht. Aber immer noch sehr, sehr lange noch operiert.

Ochsner: Bis 75.17

Ingold: Im Lindenhofspital hatte er auch wieder mehr Freiheit vorgefunden?

Meuli: Ja. Da konnte er eben auch seine ganzen Entwicklungen und Erfindungen und alles aufarbeiten und nachkontrollieren und so weiter. Da hat er natürlich private Möglichkeiten gehabt. In der Uniklinik hatte er genügend andere Sachen gehabt. Administratives Zeug und so weiter.

Ochsner: Herr Küffer. Der hat in seiner Sammlung noch einiges an Prototypen und Holzmodellen der Handprothese. Was hat der für eine Rolle gespielt bei der Entwicklung der Handprothese?

Meuli: Der war so der Verbindungsmann zwischen dem Techniker und der praktischen Ausführung. Wir haben oft miteinander diskutiert.

Notes

1Karl Ledermann, Facharzt für Orthopädie, betrieb eine Praxis in Basel und operierte als Belegorthopäde am Privatspital Merian Iselin, Klinik für Orthopädie und Chirurgie. Vgl. Ochsner: Interview, 2022. ↩︎
2Josef Oberholzer (1897–1985) war von 1941 bis 1962 Chefarzt der Chirurgie am Kantonsspital St. Gallen. 1960 teilte er die Klinik in zwei Abteilungen auf. Oberholzer blieb für die Chirurgie von Kopf, Hals, Brust- und Bauchraum sowie für die Behandlung von Meniskusverletzungen und urologische Eingriffe zuständig. Maurice E. Müller übernahm die konservative und die operative Orthopädie sowie Verletzungen und Erkrankungen der Arme, Beine und der Wirbelsäule. Vgl. Patscheider: Kantonsspital, 1991, S. 63. ↩︎
3Alfons Merki: Facharzt für Orthopädie, Ausbildung in St. Gallen und an der Klinik Balgrist, später Chefarzt für Orthopädie am Kantonsspital Aarau; Paul Holenstein: Facharzt für Orthopädie, Praxis gemeinsam mit Karl Ledermann in Basel; Andrea Mumenthaler: orthopädischer Chirurg, Oberarzt bei Maurice E. Müller in St. Gallen, Chef-Stellvertreter in Bern, dann Chefarzt auf der Orthopädischen Abteilung des Spitals Langenthal, später medizinischer Berater der Protek AG; Eric Courvoisier: orthopädischer Chirurg, Assistent bei Maurice E. Müller in St. Gallen, Oberarzt und Leitender Arzt in Genf; Hansbeat Burch: orthopädischer Chirurg, Oberarzt am Hôpital orthopédique de la Suisse romande und in St. Gallen, dann Chefarzt der Orthopädischen Klinik am Kantonsspital Freiburg. Ergänzungen Ochsner zum Transkriptentwurf, 19.11.2021. Zu Boitzy siehe Kapitel «Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz», Anmerkung 7; zu Debrunner siehe ebd., Anmerkung 13. Weitere Namen von Assistenten enthalten die Jahresberichte des Kantonsspitals St. Gallen. ↩︎
4 Zu Vasey siehe Kapitel «Der Beitrag der Werkstoffforscher», Anmerkung 17. ↩︎
5Gegenüber Kuttruff gab Maurice E. Müller an, dass er 68 Prothesen mit Teflonpfanne eingesetzt hatte. Zwei Drittel hätten ersetzt werden müssen. Vgl. Kuttruff: Anwender, 1996, S. 80, 209. ↩︎
6Nach Angaben von Müller besuchten 400 Orthopäden und Unfallchirurgen aus 55 Ländern ab November 1960 und bis Ende 1966 seine Abteilung. Vgl. Patscheider: Kantonsspital, 1991, S. 88. ↩︎
7Hans-Wilhelm Buchholz (1910–2002) war Professor für Chirurgie in Hamburg und Chefarzt am Allgemeinen Krankenhaus St. Georg. 1976 gründete er in Hamburg die Endo-Klinik, eine Spezialklinik für Knochen- und Gelenkchirurgie. Vgl. Knöbel: Entwicklung, 2018.  ↩︎
9Erik Moberg (1905–1993) leitete in Göteborg das erste Departement für Hand- und Extremitätenchirurgie. Ergänzung Ochsner zum Transkriptentwurf vom 19.11.2021. ↩︎
10Kauko Vainio (1913–1989): führender Hand- und Rheumachirurg, tätig am Krankenhaus der Rheumastiftung in Heinola, Finnland. Ergänzung Ochsner zum Transkriptentwurf vom 19.11.2021. ↩︎
11Jörg Böhler (1917–2005) leitete ab 1951 das Krankenhaus der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt in Linz und ab 1972 das nach seinem Vater benannte Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhaus in Wien. ↩︎
13«GSB» kürzt die Nachnamen der Prothesenerfinder ab. Norbert Gschwend und Heinrich Scheier entwickelten die GSB-Prothese zusammen mit dem Ingenieur André R. Baehler (1925–2006) im Jahr 1972 an der Zürcher Schulthess Klinik. Vgl. Gschwend u. a.: GSB-Kniegelenk, 1995. ↩︎
15André Schroeder (1918–2004) war Direktor der Klinik für Zahnerhaltung der Universität Bern, Hermann Stich (1925–2021) arbeitete bei ihm im Labor. 1980 gehörten sie zu den Gründern des Internationalen Teams für orale Implantologie (ITI, heute International Team for Implantology). Vgl. Ingold: Zahnmedizin, 2022, S. 144. ↩︎
16 Zu Themistocles Gluck (1853–1942) vgl. Knöbel: Entwicklung, 2018, S. 17. ↩︎
17Gemeint ist das Lebensalter, nicht die Jahreszahl. ↩︎