Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz
doi.org/10.36950/edv-mem-2023.6
Niklaus Ingold

Die Protek AG und die Konsolidierung der Medizintechnikindustrie

Interview mit Rolf Soiron

Basel, 29.9.2021

Anwesend: Rolf Soiron, Niklaus Ingold (Interview und Transkript)

Ingold: Ich möchte das Gespräch mit allgemeinen Fragen zur Protek AG und zu Ihnen beginnen. Wie kam es überhaupt, dass Sie 1983 Geschäftsleiter bei der Protek AG wurden?

Soiron: Maurice Müller war mit Martha Lüthi verheiratet. Martha Lüthi war die älteste von fünf Kindern, die auf einem Bauernhof im Emmental aufgewachsen sind. Ich habe die jüngste Schwester von Martha Müller-Lüthi geheiratet, Alicia Lüthi. Da der Altersunterschied zwischen Martha und meiner Frau etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre war, ist Martha eigentlich eine Ersatzmutter meiner Frau gewesen, nachdem deren Mutter sehr früh gestorben war, und ich bin ein wenig der Ersatzschwiegersohn von Martha gewesen.

Ich habe meine Frau 1973 geheiratet. Nachdem ich 1972 eine Job-Offerte bekommen hatte, die hundert Franken pro Monat höher war als die auf der Kulturredaktion einer Basler Tageszeitung, bin ich in die Industrie eingetreten und habe dann bald gemerkt, dass das eine Welt ist, die mich enorm interessiert, gerade auch von dem, was man als Historiker ja auch studiert, wie sich nämlich Macht konkretisiert, verteilt wird, welche ernsten und welche manchmal auch lächerlichen Aspekte sie hat. Trotz dieser leicht skeptischen Haltung habe ich relativ bald, das, was man «Karriere machen» nennt, durchlaufen und bin 1979/80 an die Harvard Business School gegangen als eine Art «akademische Weihe» von sonst recht trivialen Tätigkeiten.

Mit dieser Harvard Business School und einigen Grossprojekten, die ich damals bei Sandoz gemacht hatte, habe ich auch bei Maurice Müller und Martha so etwas wie eine Anerkennung erworben. So hat mich 1983 – ich hatte einen für mein Alter sehr schönen Aufgabenkreis bei Sandoz – Maurice Müller im Mai aus den USA angerufen. Er war damals an der jährlichen Orthopädentagung in Greenbrier in Virginia. Dort sagen sich zwar die Hasen und die Füchse gute Nacht, aber es hat ein wunderbares altes Hotel, wo sich in jenen Jahrzehnten die orthopädische Prominenz der Welt getroffen hat.

Maurice hatte mich – er war ja viel älter als ich – quasi als Familienoberhaupt beordert, ich müsse in die USA kommen, er müsse etwas mit mir besprechen, ich solle die Concorde nehmen, was für mich eigentlich fast ethisch ein Konflikt war: Wie kann man so viel Geld für einen Flug ausgeben? Ich muss aber dann sagen, dass ich das sehr genossen habe. Maurice hatte eine oft karikierte Art der Kommunikation, die man aber nie unterschätzen durfte. Denn in seinen komplizierten Sätzen waren immer Pointen und versteckte Dinge, die man ja nicht übersehen durfte. Seinen Kopf typisch schief, frage er mich, ob ich wisse, was eine Prothese sei. Aber das sei eigentlich gar nicht so wichtig. Ob ich auch Ordnung in einem Unternehmen machen könne. Denn ich müsse wissen, diese Protek, da sei noch viel drin, und er brauche jetzt endlich jemanden, der in der Lage sei, hier Ordnung zu machen. Ich sei schliesslich der Vizedirektor bei Sandoz – Klammer: Vizedirektoren gab es wie rote Hunde, zuhauf, aber Maurice nannte mich immer «dr Vizediräctor» und stellte mich auch so der orthopädischen Welt vor, dass die wahrscheinlich geglaubt haben, ich sei wirklich die Nummer zwei, Klammer zu.

Ich als «dr Vizediräctor», ich müsse doch wissen, wie das gehe, und wenn ich wolle, könne ich morgen als Generaldirektor – das war damals noch der Titel für einen Firmenchef; CEOs gab es noch nicht – einsteigen. Ich habe dann vier Wochen später als Generaldirektor angefangen. Dort hat mich als Erstes das unglaubliche Engagement der einzelnen Mitarbeiter beeindruckt, ein fast missionarisches Bewusstsein. Aber es herrschte totale organisatorische, strategische, finanzielle Unordnung. Ich bin jemand, der gerne Dinge strukturiert. Dort habe ich meinen «Sandkasten» gehabt.

Ingold: Stichwort missionarisches Bewusstsein. Können Sie das ausführen?

Soiron: Ja. Eine der Lieblingsgeschichten, die mir der damalige Verkaufschef und eine unglaublich aktive und liebenswerte junge Frau, die das Lager und den Versand im Alleingang besorgt hat, immer wieder erzählt haben, war: Da habe doch dieser Chirurg aus Sion angerufen, jetzt sei der Patient schon für die Operation bereit, aber sie hätten nicht die richtige Grösse der Prothese. Dann habe man das Militärdepartement angerufen, einen Helikopter organisiert und habe diese Prothese mit dem Helikopter nach Sion gebracht. Der Chirurg habe später zurückgerufen: Das sei ja wahnsinnig, er könne doch diesen Transport nicht bezahlen. Dann habe man ihm aber gesagt, da gäbe es nichts zu bezahlen, es sei die Pflicht von Protek, dem Chirurgen das Material genau dann zu geben, wenn er es brauche.

Ich habe diese illustrative Geschichte später gebraucht, als wir begonnen hatten, Kader systematisch auszubilden und so etwas wie eine Firmenkultur zu gestalten. Etwas schamlos habe ich sie auch nach aussen gebraucht, allerdings mit einem Disclaimer: Wir würden nicht jeden Helikopter zahlen, den wir brauchen. Aber im Notfall mache Protek alles für die Chirurgen. Das ist eine Botschaft gewesen, die hat bei der Mentalität, die damals die Orthopädie und die Chefarztwelt noch charakterisiert hat, unglaublichen Eindruck gemacht. Die kleine Geschichte hatte einen wahren Kern, der beschrieben hat, was Protek am Anfang charakterisiert hat. Sie war für die Orthopäden da und die Finanzen spielten – wenigstens vordergründig – keine Rolle. Sie haben allerdings auch bei Maurice eine grössere Rolle gespielt, als man nach aussen gesehen hat. Dennoch: Der Firmenkultur von damals musste man so etwas wie eine Gewinn-und-Verlust-Rechnung erst noch beibringen.

Ingold: Wenn es möglich ist, einen Militärhubschrauber fliegen zu lassen mit einer Prothese, muss man auch sehr gut vernetzt sein.

Soiron: Im Verwaltungsrat war Nello Celio, auch wenn nicht mehr Bundesrat, so doch enorm vernetzt. Damals waren Altbundesräte so etwas wie lebende Heilige. Nello Celio war sowieso ein Mensch, der seinen Tessiner Charme einsetzen konnte für sehr weltliche Zwecke. Und ein anderer Freund der Familie war Bundesrat Gnägi, Ex-Vorsteher des Militärdepartements. In der Zeit, die meinem Einsatz bei Protek unmittelbar voranging, hatte Maurice als Verwaltungsrat Max Steiner. Er fungierte als Delegierter des Verwaltungsrats. Max Steiner ist eine interessante Gestalt der Schweizer, ich würde sagen Sozialgeschichte: Ein Bauernbub aus Wülflingen, Zürich, der als Lehrling bei Sulzer angefangen hatte, sich dann hinaufgearbeitet hat, das Ingenieurstudium absolviert und nie etwas anderes erlebt hat als Sulzer und Generaldirektor von Sulzer geworden ist. Er war einer dieser schweizerischen, freisinnigen Zürcher Obersten, mit der obersten Schicht der damaligen Schweiz auf Du und Du.1

Ingold: Nello Celio war seit 1976 Mitglied im Verwaltungsrat. Mitte der 1970er-Jahre wurde der Verwaltungsrat von Protek vergrössert, vorher bestand er nur aus einem Mitglied.2 Wissen Sie, wie Nello Celio in den Verwaltungsrat kam? Hatte das mit der Freundschaft zu Bundesrat Gnägi und so weiter zu tun?

Soiron: Die Müllers hatten in Bern ein reges gesellschaftliches Leben. Müller war ja seit Ende der 1960er-Jahre eine prominente Persönlichkeit. Zu diesem gesellschaftlichen Leben gehörte künstlerische Prominenz. Man könnte durch diese Kontakte fast auch eine Geschichte der Berner Kunsthalle schreiben. Aber sie haben dann auch immer zur Politik ihre Kontakte gepflegt, mindestens zu einem Teil der Politik, das war der Freisinn und die damalige Berner BGB, etwas völlig anderes als die SVP heute, wovon Gnägi ein Exponent war.

Abb. 1. Rolf Soiron war zwischen 1983 und 1987 Generaldirektor der Protek AG. Mit der jüngsten Schwester von Martha Müller-Lüthi verheiratet, sprach er am 85. Geburtstag von Maurice E. Müller. Foto: U. Keller, Medizinsammlung Inselspital Bern

Als Protek begann, hat Maurice seine Schwester, die Violette, mit einem Köfferchen durch die Welt geschickt. Dann gab es einen Verkäufer, Marcel Madl, der genial war in seinen Beziehungen, aber völlig unstrukturiert. Das hat eine Dimension angenommen, dass Violette gesagt hat, es sei ihr zu viel. Gleichzeitig sah Maurice bei Synthes, die ja parallel lief, wie man Medizinaltechnik industriell und finanziell organisieren kann. Er ist selbst vom Charakter her nie ein organisierter Mensch gewesen. Das war in seiner Typologie die am schlechtesten entwickelte Funktion. Auf Druck seiner Frau, von Martha, appellierte er darum an Leute, die davon etwas verstanden haben. Auch Nello Celio verstand nicht viel von der Organisation einer Firma, aber er war ein guter Rechtsanwalt, ein genialer Politiker und Motivator.

Ein Max Steiner hat das verstanden. Aber Max Steiner war Ingenieur in einer Grossfirma und hat kein Gespür dafür gehabt, wie man eine wilde, kreative Kleinfirma, die aus familiären und individuellen Beziehungen ihre Kraft schöpft, kanalisiert und wie man strampelt, wie der berühmte Frosch in der Milch, bis aus Milch endlich Butter wird. Darum ist man dann 1983 auf mich zugekommen. Es ist der Druck von Martha gewesen, die gesagt hat: «Meine Schwester Alicia ist gut aufgehoben mit diesem Rolf, der kann was, den holen wir jetzt.»

Ingold: Sie übernahmen die Geschäfte von Max Steiner, nicht von Marcel Madl oder Giorgio Curradini?3

Soiron: Nein. Gewiss: Madl war ein genialer Kaufmann. Auch der Italiener Curradini war ein Kaufmann. Er hat mir übrigens eingebrockt, dass ich später vom Tessiner Staranwalt Bernasconi4 wegen Tangentópolis-Zahlungen und -Kontakte einvernommen worden bin. Vieles damals war anders als heute. Dass es Selbstbehalte für Chirurgen für Prothesen gab, war etwas Selbstverständliches. Auch, dass man das den Steuerbehörden nicht gezeigt hat. Nicht, damit man selbst mehr verdient hat, sondern weil man den Kunden keine Schwierigkeiten machen wollte. Für das war Curradini da, auch er ein Beziehungstalent erster Güte, der ein Riesenvertrauen von Maurice hatte. Aber auch er war desorganisiert. In diese Gruppe sollte ich so etwas wie Struktur und Transparenz bringen.

Ich habe also von Max Steiner, der «Delegierter», heute würde man sagen Managing Director, war, übernommen. Steiners Position ist dann aufgehoben worden, und ich bin Generaldirektor geworden und auch Mitglied des Verwaltungsrates, aber nicht Delegierter.

Ingold: Protek hatte zu diesem Zeitpunkt etwa achtzehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Soiron: Ja, maximal.

Ingold: Stichwort Ordnung. Können Sie kurz sagen, in welche Abteilungen diese Leute aufgeteilt waren?

Soiron: Es gab eine Buchhaltung, man nannte das ja damals noch nicht «Finanzen», es gab einen Verkauf und es gab eine sogenannte Technische Abteilung. Daneben gab es noch – aber das war nicht Teil von Protek, aber in unseren Räumlichkeiten – die sogenannte Werkstatt. Dort war ein genialer Handwerker, Küffer, der ging auch im Operationssaal ein und aus. Wenn Maurice eine Idee hatte, man müsse diese Prothese hier ein bisschen mehr biegen, und sich nicht präzise ausdrückte, aber Handbewegungen machte, hat Küffer ihn verstanden. Küffer war ein wilder Kerl. Er hatte Frisuren, wie wir sie uns nicht getrauten, einen Bart, wie wir ihn damals nicht haben durften, und so weiter – eine wilde Gestalt. Aber Maurice hatte totales Vertrauen in ihn, und Küffer, der sonst mit Autoritäten Probleme hatte, akzeptierte Maurice als seinen Übervater. Wenn Maurice meinte: «Bitzeli meh, weisch», dann wusste Küffer, was zu tun war. Kam er mit einem Prototyp, hat Maurice gesagt: «Heit Ihr nid schlächt gmacht» – «nicht schlecht» war wahrscheinlich das maximale Kompliment, das Maurice geben konnte. Die beiden verstanden sich.

Ich hatte einen Patensohn aus Deutschland, der mir nahe war, der schulisch gar nicht glänzte. Ich habe ihm eines Tages gesagt: «Komm in die Schweiz. Du gehst in die Werkstatt von Küffer und schaust, ob du das kannst.» Das war für diesen Sechzehnjährigen die Stunde seines Lebens. Er hat nachher an einer Fachhochschule Medizintechnik studiert und ist heute mit 58 oder 56 Jahren bei Synthes, respektive bei Johnson & Johnson, Chef für die Schrauben und Platten für sogenannte Long Bones. Auch das zeigt, wie damals diese managerially chaotischen Menschen einen Platz hatten und das Ihre weitergeben konnten.

Den Namen «Technische Abteilung» habe ich nicht weggenommen, denn man durfte nicht «Forschung und Entwicklung» sagen, das hätte einen Skandal gegeben, das hätte zu sehr nach «Industrie» getönt. Aber mein Ehrgeiz war tatsächlich, eine Forschung und Entwicklung aufzuziehen. Lange hatte eine sehr starke Persönlichkeit, Niederer5, für Maurice die Forschung, die man nicht «Forschung» nennen durfte, geleitet. Aber er vertrug Maurice’ Menschenbehandlung auf die Dauer nicht und ist ausgeschieden. Maurice hatte dann einen Doktor Lusuardi6 geholt, der ein genialer Patentanwalt war, aber kein guter Chef. Das hat nicht funktioniert.

Ich habe darauf versucht, einen alten Bekannten aus Sandoz, Frick hiess der, zu holen. Ein unglaublich treuer Mensch, aber auch nicht in der Lage, in einer so komplizierten Umgebung zu überleben. So habe ich Hermann Taaks eingestellt, der dann auch in der Zeit bei Sulzer weitergemacht hat.7 Das war die richtige Person, denn als evangelischer Pietist hatte er die Leidensfähigkeit, mit einem schwierigen Menschen wie Maurice umzugehen. Taaks ist dann auch, als das Ganze von Sulzer übernommen wurde, bei Sulzer hineingekommen und, glaube ich, für seine Ernsthaftigkeit und seine Expertise sehr geachtet worden. Er hat die Sulzer-Skandale und den Übergang zu Zimmer erlebt. Für Taaks ist das wohl ein bisschen eine Bestätigung gewesen, dass die Welt halt nicht in Ordnung ist.

Ingold: Nachfrage. Sie haben gesagt, dass es einen Skandal gegeben hätte, wenn man die Technische Abteilung «Forschung und Entwicklung» genannt hätte. Können Sie das kurz ausführen?

Soiron: Maurice repräsentiert eine Zeit der Medizinaltechnik, wo der Chirurg das Zentrum des Universums war. Ich habe das jetzt ein bisschen karikierend gesagt. Aber das war ja auch eine der Wurzeln meiner Spannung 1987 mit ihm, weil ich diese Rolle des Orthopäden als Risiko bezeichnet habe und mich dagegengestellt habe. Beachte: Maurice machte einen grossen Unterschied zwischen Chirurgen und Orthopäden; er war kein Chirurg, sondern er war ein Orthopäde! Der Orthopäde verstand im OP die Dreidimensionalität und den Bewegungsapparat. Das konnte kein anderer Mensch, nur der Orthopäde. Er akzeptierte Materialwissenschaftler, die sagten, ob das Molybdän dem Stahl eine Möglichkeit gibt, halt ein bisschen besser formgerecht geschmiedet zu werden, und wenn man von Titan geredet hat, dann hatte er gerne, dass man diese Tierversuche gemacht hat. Aber das waren untergeordnete Funktionen! Entscheiden musste der Orthopäde!

Es gab für Maurice keine Debatte auf Augenhöhe mit verschiedenen Wissenschaften. Hätte ich einen Forschungsleiter gefunden, der Orthopäde gewesen wäre, wie Koch, den er ja dann jahrelang als Assistenten gehabt hat, dann hätte er wohl «Okay» gesagt.8 Aber eben: Ich kam zum Schluss, Koch könne nie eine Abteilung führen. Maurice: «Ja, da hesch rächt, de Koch isch ä Liäbe, aber das isch ke Chef, da hesch scho rächt.» Voilà.

Maurice hat gerne über seine Zeit nach Äthiopien gesprochen oder wie er mit Holzmodellen und dann mit Plastikmodellen nach Belgien gefahren ist und dort den grossen Namen, die Sie kennen, über die Schultern geschaut hat. Das Interessante ist, dass Maurice immer nur mit Orthopäden gesprochen hat. Maurice hat nie mit Materialwissenschaftlern wirklich gesprochen, Maurice hat auch mit Orthopäden, die Bewegungsstudien gemacht haben et cetera, nicht wirklich gesprochen. Sie waren für ihn gut, damit man nachher Prospekte machen konnte, aber sie hatten keine voix au chapitre. Mit Gesundheitswissenschaftlern zu sprechen, die sich zum Beispiel die Frage stellen, wie denn das in ein Gesundheitssystem eingebaut werden soll, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Das meint meine polemische Aussage: Der operierende Orthopäde war für ihn das Zentrum des Universums.

Ingold: Die Technische Abteilung von Protek, wie hat die mit der Forschung und Entwicklung bei Sulzer zusammengearbeitet? Bei Sulzer war ja Manfred Semlitsch, der, soweit ich weiss, die ganzen Legierungen entwickelt hat ...

Soiron: Ein wirklich hervorragender Materialwissenschaftler, und Otto Frey!

Ingold: … und Otto Frey. Was war da die Arbeitsteilung?

Soiron: Maurice hat die Expertise von Semlitsch anerkannt. Semlitsch war in einer gewissen Art ein typischer Deutscher: Semlitsch hat Autorität nie infrage gestellt, und das hat Maurice gemerkt.9 Die wirkliche Bezugsperson bei Sulzer war für ihn aber zunächst Max Steiner, weil der sagte: Es wird produziert, wurst, wie viel die Maschinen kosten. Und dann vor allem Otto Frey.

Otto Frey war ein nicht akademischer Ingenieur, der drei oder vier Dinge ausserordentlich gut beherrscht hat. Zunächst einmal war er im Kontakt mit Maurice nie arrogant, sondern hat immer Maurice’ Überlegenheit und Autorität total akzeptiert, auch wenn Maurice unrecht hatte. Zweiter Punkt: Frey war ein genialer Produktionsexperte, der in der Lage war, Kleinserien in Grossserien umzubauen. Bei Sulzer sind damals vermutlich Fortschritte in der Massenproduktion von Prothesen gemacht worden, die säkular waren.

Es ging nicht nur um Präzisionsarbeiten, sondern um Kugelköpfe, die Idealkugeln im Sinne eines Brunelleschi10 sein mussten. Es sind damals erste multidimensionale Produktionsapparate gemacht worden, die für Sulzer generell unglaublich viel Know-how aufgebaut haben, auch für andere Abteilungen. Das ist Freys Werk. Frey hat diese multidimensionalen Kabinen, die man daran erkennt, wie diese Schmierflüssigkeit von allen Winkeln her eingespritzt wird, entwickelt.

Das hat Maurice natürlich Eindruck gemacht, und es hat uns erlaubt, eine steile Wachstumskurve zu sinkenden Kosten zu durchlaufen. Das war auch meine Philosophie: Unser Ziel muss es sein, die Produktionskosten auf Proteks Seite überproportional zu senken. Als ich eintrat, war Sulzers Meinung, mit der Familie Müller kann man es anders machen. Mit der Familie Müller kann man steigende Produktionszahlen mit steigenden Produktionskosten verbinden. Am Anfang hat das funktioniert. Curradini und Madl haben gesagt: «Ja, isch scho blöd», aber sich kaum gewehrt. Sobald die Müllers dann kapiert haben, dass man genau anders herum verhandeln muss, dass man sagen muss: «He, steigende Produktionszahlen führen zu überproportional sinkenden Produktionskosten», war das für die so etwas wie das fünfte Evangelium. In meinem ersten Verwaltungsrat habe ich auf dem Flipchart eine Kurve gezeichnet und gesagt, das sei nicht etwas Ideologisches, sondern Economies of Scale. Maurice schaute zum Celio: «Gsesch, da isch de Vizediräctor vom Sandoz.»

Ich komme zurück. Frey: ein unglaublicher Produktionsmann. Und jetzt das dritte Talent von Frey: Frey ist so oft in den Operationssälen der Welt gewesen, dass er mit der Zeit auch ein Experte wurde, was von der Form her und der Anatomie her infrage kam. So hat Frey in seinen späten Jahren mit Maurice über Zugänge gesprochen je nach Form und hat dann auch gesagt, was das instrumentell bedeuten könnte. Aber er tat das in einer so unambitiösen Form, dass es für Maurice akzeptabel war.

Namen wie Allo Pro waren Anathemata für uns, fast pornografische Begriffe. Aber Frey hat natürlich auch für Allo Pro gleich gut gearbeitet. Frey hat nie gelogen, aber in seiner, ich sage jetzt aufrechten Zürcher Art Ehrlichkeit verkörpert und gesunden Menschenverstand, den auch Maurice akzeptiert hat. Den Ehrendoktor hat Frey zu Recht bekommen. Das war kein Ehrendoktor, wie ihn die Schmidheinys oder die Angela Merkel serienweise bekommen. Er bedeutete für den Nichtakademiker Frey: «Mein Leben hat einen Sinn bekommen und es ist anerkannt worden.» Es ging nicht nur um Wissenschaft. Hier ist ein Ehrendoktor jemandem gegeben worden, der ihn als abgerundeter Mensch wirklich verdient hat.

Ingold: Das war die Sulzer Seite jetzt. Die Technische Abteilung von Protek, woran hat die getüftelt?

Soiron: Sie war zuerst nur die Verbindungsabteilung. Punkt. Dass ich auf die Idee gekommen bin: «Wir müssen ein Produktportfolio aufbauen», war fast unerhört. Allerdings hat es ein Gebiet gegeben, wo die Technische Abteilung von Anfang an eine wirkliche In-nuce-Forschungs- und -Entwicklungsabteilung war, das war das Knie. Weil sich Maurice fürs Knie nicht interessiert hat. Darum durften wir mit einem Typ wie Freeman11 in England, ein genialer, aber auch schwieriger Mensch, zusammenarbeiten. Aber nur mit ihm. Sogar mit Werner Müller12 durften wir nicht wirklich, weil Werner Müller ja Prothesen von Allo Pro eingesetzt hatte. Es gab damals den Glaubenskampf «zementfrei oder Zement?». Maurice hat bei den zementfreien Prothesen lange nicht mitgemacht. Es war eine Glaubensfrage: «Wüsst ihr, die wo nid Zement wey, die chöinen nöd arüere.» Das war seine Antwort. Werner Müller, der hatte aber zementfreie Prothesen von Allo Pro eingesetzt und sprach mit Weber in St. Gallen. Werner Müller war ein Genie beim Knie! Nur mit Freeman durften wir am Knie weitertüfteln und vielleicht herumschauen, was es sonst noch beim Knie gab.

Abb. 2. Entwicklungsmöglichkeit für die Protek AG: die Knieprothese nach Michael Freeman, 1984. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 14849, 14850

Bei der Hüfte durfte man das nicht. Darum war dort die Technische Abteilung a) eine Verbindungsabteilung; b) wenn es Qualitätsprobleme gab, musste man sie lösen, und c) wenn man besonders schnell irgendwelche neuen Spezialinstrumente brauchte oder Spezialgrössen, dann war das die Sache der Technischen Abteilung. Es war anfänglich keine R[esearch]&D[evelopment]-Abteilung für Hüftprothesen.

Ingold: Was heisst ...

Soiron: Das hat dann erst geändert mit der Prothese, die Sie kennen: der Spotorno-Prothese, die eine gewisse Bedeutung bekommen hat.13

Ingold: Was heisst, wenn es Schadensfälle gab, mussten wir es mit der Technischen Abteilung machen? Die mussten abklären, was das Problem war?

Soiron: Ja.

Ingold: Es gab auch noch eine Technische Kommission, die entschieden hat – oder die technische Details diskutiert hat und dann entschieden hat, wann ein Produkt auf dem Markt eingeführt wird. Waren Sie als Generaldirektor Mitglied dieser Technischen Kommission?

Soiron: Ja, aber das ist eine Fiktion. Die Technische Kommission war eine Kopie der Organisation von Synthes, wo sie eine Riesenrolle gespielt hat und wo auch Maurice eine Riesenrolle gespielt hat. Die Technische Kommission bei Protek ist vielleicht einmal pro Jahr einberufen worden.14 Vielleicht täuscht mich jetzt auch mein Gedächtnis, aber ich meine, dass sie überhaupt keine Rolle gespielt hat. Über neue Produkte haben Maurice und ich entschieden.

Ingold: Dann das Verhältnis der Protek AG zur Maurice-Müller-Stiftung. Zunächst war da die Protek-Stiftung, 1965 gegründet, noch vor der Protek AG, 1974 wird die Fondation Maurice E. Müller gegründet. Die Protek-Stiftung verschwindet aus dem Handelsamtsblatt. Die Protek AG zahlte Lizenzgebühren an die Protek-Stiftung. Hat sie in den 1980er-Jahren dann Lizenzgebühren an die Maurice-Müller-Stiftung bezahlt? Wie war das Verhältnis zwischen Protek AG und Maurice-Müller-Stiftung?

Soiron: Die finanziellen Beneficiaries von Protek waren die Aktionäre. Ich habe übrigens auch zwei Prozent der Aktien bekommen. Das tönt nach wenig, aber die Firma hatte einen solchen Wertzuwachs bekommen, dass das für mich persönlich, der ich kein Vermögen hatte, etwas sehr Bedeutendes war. Wie gesagt: Die Beneficiaries waren die Aktionäre, also die Familie, zu der ich gehörte.

Die Maurice-Müller-Stiftung hat diejenigen bezahlt, die Maurice bezahlen wollte. Da gehörten natürlich seine Sekretärinnen dazu, die eine grosse Rolle gespielt haben. Zum Beispiel war eine dieser Sekretärinnen die Einzige, die einen Überblick hatte über die Tausenden von Dias. Das Ordnen von Dias für Maurice, für einen seiner Vorträge, war eine gigantische Vorbereitung. Wenn heute jemand in einem Grossunternehmen einen Stab von Assistenten hat, der eine Rede vorbereitet, war das dort eine einzige Sekretärin. Da war auch eine Fotografin, die Lotti, die ihn auf Tausenden von Reisen begleitet hat und die wirklich wusste, wie man die Kamera halten musste, um ein Bild zu machen, das anderen Orthopäden etwas sagte. Maurice hat, wenn ich das jetzt auch noch sage, als Genie einen Blick gehabt für andere Genies, und dass sie ein fotografisches Genie war, hat er gesehen, genauso wie diese Sekretärin ein Genie war im Überblick. Er hat manchmal allerdings auch Nichtgenies, Scharlatane, in die Reihe der Genies gesetzt, bis er es gemerkt hat, und dann war seine Rache unerbittlich. Aber, er hat zum Beispiel auch den Trompeter Maurice André sehr früh quasi entdeckt. Die beiden haben, ohne dass sie von ihrer gegenseitigen Kunst etwas verstanden haben, den anderen als genialen Künstler erspürt. Ich spreche hier ein bisschen poetisch, aber ich glaube eben, dass es eine Dimension ist, die etwas schildert, was ich damals erlebt habe.

Maurice hat in dieser Stiftung auch viel Geld gebraucht, um andere Orthopäden in der Welt zu finanzieren, die entweder seine Botschafter waren oder so taten. Da gehört Orozco in Barcelona dazu.15 Drittens hat dann Maurice dort auch sein Lieblingsprojekt, die sogenannte Klassifikation, vorangetrieben. Ich erinnere daran, dass ein grosser Teil der Verdienste, die Maurice zusammen mit anderen in der Bruchfixierung erworben hatte, auf dem «Manual»16 beruhen und dessen Voraussetzung war die Klassifikation.

Neben der Klassifikation insistierte er auf praktischer Ausbildung, die es vorher so nicht gegeben hatte. Die Kurse in Davos, bei denen meine Frau als junges Mädchen noch Pferdeknochen mit den anderen Frauen gereinigt hat, während am Nachmittag die Chirurgen Ski liefen, damit sie am nächsten Morgen wieder unter Anleitung von Allgöwer, Maurice Müller und den andern üben konnten. Diese Idee der dauernden Ausbildung, hands-on, ist Maurice' Verdienst. Das haben wir dann auch bei Protek übernommen. Diese Kurse sind ein zentrales Marketinginstrument gewesen, aber auch ein Qualitätssicherungsinstrument.

Das dritte Verdienst bei Maurice ist das Manual der AO, später Synthes, weil das Manual auch wieder sinnlich, mit Zeichnungen und präzisen Operationsanleitungen, gezeigt hat, wie man diese Schrauben und Platten hier fixiert, hier, hier und wo auch immer. Bei diesem Manual hat Maurice erkannt, dass eine ganz klare Klassifizierung der verschiedenen Einsatzmöglichkeiten nötig ist, also: Unterarm, proximal, lateral, alles numerisch geordnet. Maurice hat ja gemerkt: Der Computer kommt und der Computer braucht Zahlen, damit er es ordnen kann. Darum war sein grosses Ziel, für die Orthopädie eine ganz klare Klassifizierung von möglichen Einsätzen der Prothese, Stellungen, Indikationen et cetera zu machen. Dort hat er unglaublich viel Geld investiert, auch in Computerprojekte.

Die Maurice-Müller-Stiftung ist dann auch zum Financement für Operationssäle hier und dort in der Welt geworden. Auch die Medizinische Fakultät in Bern hat immer wieder Geld bekommen. Die Stiftung ist ein Topf gewesen für vieles. Für Maurice war sie der Topf, aus dem sein Staff bezahlt wurde, aber auch seine Lieblingsprojekte.

Ingold: Das Geld dazu kam aus Protek.

Soiron: Alles aus Protek. Das war erhebliches Geld. Obwohl dieses Geld meiner Meinung nach nicht immer zielgerecht eingesetzt wurde, sondern in alle Richtungen ging, habe ich eigentlich kein grosses Problem damit gehabt, weil es auch in meinem Narrativ gegenüber aussen ein willkommenes Argument war: Protek verdient Geld nicht einfach nur für die Familie, wir finanzieren damit eine wissenschaftliche Stiftung.

Ingold: Kommen wir mehr zu Protek in Ihrer Zeit als Generaldirektor. Wir haben schon über das Interne gesprochen. Vielleicht doch noch einmal die offene Frage: Was haben Sie im Sommer 1983 als die grossen Herausforderungen betrachtet?

Soiron: Als ich es antrat, hatte ich keine Ahnung, keine Ahnung. Jetzt ist es vielleicht in der Reihenfolge falsch, aber im Inhalt richtig: Wir hatten damals kaum Tochterfirmen im Ausland, unser Verkauf lief über Distributoren, die taten, was sie wollten. Meine erste Aufgabe war, Ordnung in diesen Verkauf zu bringen, und zwar nicht im Sinn von Ordnung wie ein Feldweibel, der seine Wolldecken so gefaltet haben will und die Schanzknochen so aufgeschichtet, sondern Ordnung im Sinn von: Was wird überhaupt verkauft? Was verkauft ihr neben unseren Produkten? Ich musste dort zum Teil Bedingungen setzen, die der Kannibalisierung mit Konkurrenzprodukten ein Ende gemacht haben. Aber auch vor allem der Art und Weise: Was ist das Narrativ hinter unserem Produkt? Was sind die Bedingungen? Zum Beispiel: Es wird keinem Orthopäden verkauft, der nicht weiss, wie man diese Dinger braucht. Es war schwer, die unabhängigen Distributoren zu einem de facto von uns geführten Verkaufsnetz zu machen.

Ingold: In den USA hat Maurice Müller 1981 mit DePuy gebrochen und dann Protek USA gegründet ...

Soiron: ... die er seinem Schwiegersohn17 gab, den ich später entlassen habe.

Ingold: Okay.

Soiron: Familiär war das nicht ganz ohne Risiko, aber ich musste.

Ingold: Das USA-Geschäft war nach dem Bruch mit DePuy am Boden.

Soiron: Ist immer am Boden geblieben. Das ist ja die grosse Leistung von Hansjörg Wyss. Denn für Schweizer Firmen ist es selten, mit Schweiz-konzipierten Produkten in den USA erfolgreich einen Markt aufzubauen. Hansjörg Wyss konnte das! Er hat das – heute auch ein enger Freund von mir, damals ein Feind – fertiggebracht. Nach dem Bruch mit DePuy sind wir eine Null gewesen und später nur eine Null-Komma-zwei oder Null-Komma-drei geworden. Unsere USA-Verkäufe hat es zwar gegeben, aber sie blieben subkritisch.

Ingold: Noch eine Nachfrage zu Hansjörg Wyss. Ich komme mit meinem Handelsamtsblattwissen: Er war 1983 – noch, sage ich jetzt – im Verwaltungsrat der Protek AG und ist dann ausgetreten?18

Soiron: Nein. Er hat bei Protek keine Rolle gespielt, denn er ist ein Intimfeind von Martha Müller und Maurice Müller gewesen.

Ingold: 1976 taucht er im Handelsamtsblatt nicht auf, 1983 kommt er zweimal vor und dann wieder nicht mehr.

Soiron: Tatsächlich? Okay.

Ingold: Ich habe Sie bei den Herausforderungen unterbrochen.

Soiron: Zweite Herausforderung war, Dynamik hineinzubringen, das heisst, verkaufen wollen, auch dort, wo wir nicht sind. Marktanteilsdenken. Das Dritte: Wir hatten zum Teil gute Mitarbeiter, aber niemand war in seinem Geschäft ein Profi. Es galt, Professionalität hineinzubringen, Funktion um Funktion und gleichzeitig Zusammenarbeit, Prozesse. Wir haben damals angefangen, im Jahr zweimal ein Ausbildungsseminar für die Top-Ten-Leute der Firma durchzuführen, irgendwo in einem Bad im Emmental, die ich persönlich geführt hatte all diese Jahre. Ich bin ja ehemalig Lehrer gewesen und habe das liebend gerne gemacht. Das hat viel gebracht. Also: Das Erste war das Verkaufsnetz, das Zweite war Dynamik, das Dritte war Professionalität und Zusammenarbeit. Das Vierte war, und dort bin ich gescheitert, das Vierte war, dass ich gesagt habe: «Diese Industrie verändert sich, Firmen, die nur die Verkäufer eines einzigen Starchirurgen sind, werden nicht überleben, wir müssen ein Portefeuille aufbauen, das in der Lage ist, das Wachstum des Marktes abzubilden.» Das Fünfte war, und auch dort bin ich gescheitert, die Produktionshoheit zu gewinnen – uns also von Sulzer zu trennen oder die Produktion bei Sulzer in ein Joint Venture zu bringen, bei dem wir auf Augenhöhe mitbeteiligt gewesen wären.

An diesen beiden letzten Punkten bin ich gescheitert. Sie sind Teil der Spannungen mit Maurice gewesen, die ich nicht gelöst habe, weil Maurice sich nicht zugetraut hat – Martha, seine Frau, hätte es mir zugetraut –, dass wir uns von einem Giganten wie Sulzer trennten.

Haben Sie von Vecteur Orthopédic gehört?

Ingold: Nein.

Soiron: Vecteur Orthopédic war eine Firma in Frankreich gewesen, im Val de Marne, direkt neben dem Disneypark, die ich über eine komplizierte Schachtel in Luxemburg aufgebaut hatte.19 Wir durften ja Sulzer nicht sagen, dass wir «Ehebruch» begingen. Dort haben wir nämlich geübt, Prothesen herzustellen nach modernsten Designs. Interessant, dass die Geheimhaltung bis heute funktioniert hat!

Ingold: Haben gerade die letzten zwei Herausforderungen, die Sie angesprochen haben, auch mit Veränderungen auf dem weltweiten Prothesenmarkt zu tun? Die US-Pharmaindustrie steigt in den 1970er-Jahren in die US-Prothesenherstellerfirmen ein und geht dann auch langsam in Europa auf Einkaufstour.

Soiron: Jaja. Sulzer und Boehringer Mannheim, oder. Sulzer hat über Corange eine Zeit lang die alten Boehringer-Prothesen übernommen.

Ingold: Zu dieser Entwicklung wollten Sie sich verhalten.

Soiron: Ich gehörte zu denen, die gesagt haben: «Hey, ich will diese Strömungen beeinflussen.» Mein Ziel war – und ich bin heute noch überzeugt davon, dass wir auf dem Weg waren, es zu tun – eine Familienholding zu machen, die Protek als chasse gardée für Maurice sicherte, weil ich immer wusste, dass er nicht einfach seine Produkte neben denen anderer Chirurgen dieser Welt sehen wollte. Die Holding hätte ein zweites und drittes Standbein in der Medizintechnik gehabt, sodass wir in Bern zum aktiven Player in der Medizinaltechnik geworden wären, der die Weltentwicklung mitmachen könnte. Das wäre mein Ziel gewesen: Holding, mit einer professionellen strategischen Führung, zweitens ein wachsendes Portfolio, das auch mit Akquisitionen in den USA in der Lage gewesen wäre, dort mit einem anderen Portfolio-Schwerpunkt eine Position aufzubauen, die uns anständig abgebildet hätte.

Ingold: Könnten Sie diese Holding-Pläne noch zeitlich etwas einordnen?

Soiron: Das war 1985/86. Damals vor allem auch unter der Führung von ATAG in Bern. Dann kamen Spannungen, nicht mit Janine, aber mit Denise20, und sie hat ihrem Vater wohl gesagt: «Der Rolf, der will sich diese Firma unter den Nagel reissen.» So habe ich kurz vor meinem Austritt einen Brief von Maurice bekommen, er unterstütze die Holding-Pläne, aber ich würde in der Holding keine Rolle spielen, sondern das seien er und Denise, die diese Holding dann führen wollten.

Das ist der eine Anlass gewesen. Der andere passt zur Medizinaltechnik: Ich war vom Kniesegment fasziniert damals, vor allem von den damaligen Ideen künstlicher Kniebänder. Wir haben mit Otto Frey bei Sulzer eine Initiative losgetreten, Prototypen für künstliche Kniebänder zu entwickeln. Wir haben mit Professor Christian Mansat in Toulouse einen Chirurgen gefunden, auf den Maurice viel hielt, ein feuriger Südfranzose. Er war Arzt der französischen Skinationalmannschaft und hat bei diesen Skifahrern Knieband um Knieband eingesetzt. Das tönt ein bisschen unethisch und es war es auch aus heutiger Sicht. Ich habe dann Statistiken verlangt und gesehen, dass diese Bänder nach drei Monaten gebrochen waren. So habe ich verlangt, dass die Versuche abgesetzt würden. Aber Mansat ist sich bei Maurice beklagen gegangen. Dazu hat es eine Auseinandersetzung mit Mansat gegeben, er Südfranzose, ich, vielleicht auch aus verletztem Stolz, habe leidenschaftlich, um nicht zu sagen überheblich, dem Chirurgen gegenüber reagiert. Mansat hat sich bei Maurice beklagt: Dieser Manager behandle die Chirurgen wie Dreck. Die französische Vertreterin, eine ganz enge Vertraute von Maurice, hat Mansat unterstützt: Ich würde Kunden vergraulen.

Die Kombination des Holding-Konflikts, mein mangelnder Respekt gegenüber Starchirurgen und drittens meine Meinung, dass nicht der Chirurg entscheide, sondern die Statistik, ob ein Produkt vertretbar sei oder nicht, hat dann zum Zerwürfnis vom Mai 1987 geführt.

Ingold: Stichwort Statistik. Maurice Müller hatte mit der AO und, soviel ich weiss, dann auch mit der Protek-Stiftung beziehungsweise der Maurice-Müller-Stiftung auf die Dokumentation sehr Wert gelegt. Er hat also eigentlich von den 1960er-Jahren an die Voraussetzungen dafür geschaffen, damit man Statistiken zu seinen Produkten haben konnte.

Soiron: Sie haben völlig recht. Aber er hat das als Argument für unsere Entwicklungen so nicht akzeptiert, vor allem nicht von Nichtmedizinern. Es wäre vielleicht anders gewesen, wäre ich ein Mediziner gewesen und dadurch auf Augenhöhe, aber das war ich eben nicht.

Das war übrigens die Haltung einiger grosser Chirurgen. Morscher21 hier in Basel war zwar viel anständiger, und Morscher hat auch auf Leute wie einen Otto Frey gehört. Nur Allgöwer hat im späten Leben Hansjörg Wyss auch als orthopädischen Innovator akzeptiert. Hansjörg Wyss hat übrigens trotz seinem grossen Selbstbewusstseins immer gewusst, dass jede wissenschaftliche Leistung eine ist, wo einer auf den Schultern des andern steht. So hat er eng mit anderen zusammengearbeitet, unter anderem mit Frigg22: Man denke an den Schraubenkonus, der nicht fixiert ist in der Platte, sondern sich verschieben kann, sodass die Schraube leichte Winkelabweichungen machen kann, je nach Knochenstärke oder nach Willen des Chirurgen. Geniale Kleinstverbesserungen, die zum Verkaufspreis von Synthes an Johnson & Johnson von über zehn Milliarden beigetragen haben!

Ingold: In den 1980er-Jahren ändert sich in dieser AO-Welt auch etwas, nicht nur bei Protek. Es wird die AO-Stiftung gegründet. Die Produzenten, also Synthes USA, Straumann und Mathys, sind in einem Führungsgremium der AO-Stiftung vertreten. Die Stiftung besitzt die Synthes AG, Chur. Maurice Müller hat sich, so entnehme ich das der bestehenden Literatur, gestört an dieser Vertretung der Produzenten in der Stiftung.23 Hat das seine Haltung zu Ihren Plänen beeinflusst oder sind das zwei Welten?

Soiron: Nein, es kommt letztlich aus der gleichen Weltsicht heraus: Produzenten haben nichts im obersten Gremium zu suchen, Produzenten sind ja nur Produzenten. Maurice hat die Entwicklung der AO tatsächlich ganz schlecht erlebt. Er hat sie als einen Verrat an der ursprünglichen Idee, welche die Chirurgendominanz war, betrachtet. Dazu ist gekommen, dass – und da ist auch die Janine nicht unschuldig – Hansjörg Wyss weiter als Erzfeind der Familie angeschaut wurde. Letztlich ist ja diese Reorganisation der AO Hansjörg Wyssens Werk. Er ist der Spiritus Rector dahinter.

Ingold: Das hat er zusammen mit Allgöwer Anfang der 1980er-Jahre aufgegleist.

Soiron: Ja, wobei Allgöwer immer bei allem auf Hansjörg Wyss gehört hat. Hansjörg Wyss hat stets seinen Respekt für Allgöwer als den grossen Chirurgen spüren lassen. Aber Hansjörg Wyss ist der Sagende gewesen.

Ingold: Ich komme zu meiner «Pornografiefrage». Sie haben Allo Pro schon erwähnt. Gesellschafter bei Allo Pro waren Arnold Huggler, Bernhard Weber, sie alle haben eine gemeinsame Vergangenheit mit Müller24 – Arnold Huggler als derjenige, der Müller überhaupt bei Sulzer eingeführt hat, Bernhard Weber, der bei Charnley in England gewesen war, meines Wissens dann eigentlich Müller über das Charnley-Prothesen-Projekt ins Bild gesetzt hat und dann als Oberarzt bei Müller in St. Gallen aber nicht eigene Prothesen entwickeln durfte. Das hat eben Müller gemacht. Wie kamen diese drei Prothesenpioniere miteinander aus?

Soiron: Huggler und Weber sind beides hervorragende Ärzte gewesen, hervorragende Operateure. Huggler ist ein interessanter Mensch gewesen, ein bisschen ein Bergler und besonders sympathisch. Weber ist nicht frei gewesen von der Überzeugung, dass auch er etwas wert ist, um das einmal so zu sagen. Weber hat ein gut entwickeltes Ego gehabt und es ist neben Maurice nicht immer einfach gewesen. Ob er dann immer geschickt agiert hat, sei dahingestellt. Er war kein geborener Diplomat.

Weber und Huggler haben gesagt, Zement könne Probleme machen, darum wäre es gut, wir hätten zementfreie Prothesen. Das hat Maurice am Anfang prinzipiell nicht akzeptiert, später im Leben allerdings schon. Er ist zwar nie zur Glaubensrichtung übergetreten, es müsse alles zementfrei sein, aber er hat anerkannt, dass es Fälle gibt, wo es möglicherweise sinnvoll ist; vielleicht sollten die Chirurgen selbst entscheiden. Weber hat damals nicht aufgegeben. Frey, der für Sulzer gedacht hat und für niemanden sonst, hat gesagt: «He, ich lasse mir doch diesen Markt nicht entgehen.» Die Ärzte hätten Allo Pro nie gründen können ohne die aktive Hilfe von Sulzer. Dort hat auch Max Steiner kein ehrliches Spiel gespielt. Konnte er auch nicht. Weber und Huggler waren Abtrünnige, die waren doch eigentlich einmal unter Maurice.

Ingold: Wie hat dieses Verhältnis die Zusammenarbeit mit Sulzer beeinflusst? Maurice Müller musste ja, so habe ich das gelesen, sein Einverständnis geben, dass Metalllegierungen, die in Protek-Prothesen zum Einsatz kommen, dann auch in Allo-Pro-Prothesen ...25

Soiron: Ich glaube nicht, dass er je dieses Einverständnis gegeben hat. Das hat er sicher nie gegeben. Was ich vermute, aber ich weiss das nicht, ist, dass man diese Legierung vielleicht ein ganz klein wenig geändert hat, und dann hat Frey rasch ein Patent geholt oder eine Zulassung für diese Legierung. Zulassungen waren ja damals eh nicht das, was sie heute sind. Es brauchte keine Tierversuche. Es brauchte nur Plausibilitätsgutachten. Ich vermute also, dass Frey zusammen mit Semlitsch – über den Maurice klagte, dass der jetzt ja Legierungen für Allo Pro mache – Allo Pro mit eigenen Legierungen versorgte.26

Ingold: Hat man auch versucht, aktiv Sulzer als Zulieferer von Allo Pro auszuschalten?

Soiron: Wir waren sehr abhängig von Sulzer. Ich habe das also nie versucht. Es ist sicher so gewesen. Ich habe aber einige Male gesagt: «Das dürft ihr nicht für Allo Pro verwenden!» Dort hat es dann immer wieder Diskussionen gegeben. Zum Beispiel bei Produktionsfortschritten, die Sulzer mit unserem Material gemacht hat. So habe ich ein paar Mal gesagt: «He, aber Allo Pro bekommt diese tollen Maschinen nicht!» Dann hat mich Frey manchmal zur Ordnung gerufen und gesagt: «Das entscheidest jetzt nicht du, das bezahlen wir», und so weiter. Das Thema ist dort gewesen, es ist auch beim abendlichen Bier oder Wein oft, wie das so ist, ein Thema gewesen für Sarkasmus, Gespött, es war dauernd präsent. Wir haben die Grenzen markiert, aber wir haben Sulzer nicht davon abbringen können.

Ingold: Sulzer hat Ende der 1970er-Jahre auch versucht, neue Orthopäden, also zum Beispiel Karl Zweymüller, mit diesen zementfreien Prothesen zu engagieren.

Soiron: Klar.

Ich will noch beifügen, dass ich mit der obersten Firmenspitze bei Sulzer ein paar Mal über Joint Ventures verhandelt habe. Das war Fahrni.27 Die Spitzen bei Sulzer waren interessiert. Wir hatten einige Eckwerte, ohne dass das formal festgenagelt wurde. Ein Joint Venture war ein mögliches Thema, aber es kam immer die Warnung: «Maurice Müller ist unberechenbar und mit einem Unberechenbaren wollen wir nicht zusammenarbeiten.» Ich habe dann gesagt: «Aber das ist genau der Grund, warum wir diese Holding wollen!» Dort hat man mir dann bei Sulzer immer wieder gesagt: «Ja, okay. Aber unsere Angst vor der Unberechenbarkeit von Maurice bleibt.» Mein Rauswurf hat die Angst vor der Unberechenbarkeit des genialen Künstlers bestätigt.

Ingold: Wenn die Holding zustande gekommen wäre, hätte das eine ganz andere Zukunft eröffnet.

Soiron: Ich bin der festen Überzeugung. Ich hätte auch einen Weg gefunden mit Hansjörg Wyss, der damals nur für die USA verantwortlich war und in Europa riesige Probleme hatte. Eine Achse von Synthes USA und einer Medizinaltechnik in Europa unter unserer Führung, eine Achse von uns beiden wäre une force redoutable gewesen. Sie wissen, dass ich später in den Verwaltungsrat zu Hansjörg Wyss kam und eine starke Rolle hatte – das tönt jetzt arrogant und ich bedaure, dass diese Arroganz noch auf Tonband festgehalten wird, aber es ist ein Faktum: Hansjörg und ich hätten eine andere Geschichte geschrieben.

Wir würden vielleicht auch nicht Johnson & Johnson gehören. Einer meiner Gründe, warum ich aus diesem Verwaltungsrat ausgeschieden bin, war nämlich, weil ich sah, dass Hansjörg Wyss Richtung Johnson & Johnson gehen würde. Als Erbstück der müllerschen Zeit war meine Ambition für Synthes, eine Riesenstiftung zu errichten, der die Firma gehört hätte. Diese Stiftung hätte von den Royaltys gelebt. Sie hätte zur wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Orthopädie beigetragen, aber nicht auf rein kommerzieller Basis, sondern mehr sozial-gesundheitspolitisch ausgerichtet. Es geht ja um bezahlbare Medizin, ich hätte das gepusht, nicht, weil ich mich als späten Enkelsohn von Karl Marx anschaue, sondern aus Marketinggründen. Firmen, die sagen können, dass sie gesellschaftspolitisch eine Rolle spielen, haben heute ein völlig anderes Standing, auch in den Bemühungen der Regulatoren und in der Preisfestsetzung. Ich hätte das mit Hansjörg Wyss vielleicht fertiggebracht. Wir hätten auch fertiggebracht, dass dieser Übergang der Aktiengesellschaft in das Eigentum einer Stiftung so gemacht worden wäre, dass Hansjörg Wyss genug Geld herausgezogen hätte für sich selbst. Vielleicht hätte er nicht so viele Wälder für die amerikanische Nationalparkstruktur kaufen können, wie er es heute macht, aber selbst hätte er gut leben können.

Die Geschichte hätte eine andere Wendung genommen, wenn wir es damals so gemacht hätten. Straumann wie auch Mathys waren familienkonstellationsmässig in schwierigen Situationen. Wir wären aber so wohl organisiert gewesen, dass wir sie nach unseren Bedingungen in die Organisation hätten einbinden können. Dieser Zug ist abgefahren.

Ingold: Sie haben Johnson & Johnson erwähnt. Ich möchte nochmals auf diese Konsolidierungsphase und ihre Auswirkungen auf die Geschäftswelt zurückkommen. Weil: die Pharmafirmen, die amerikanischen, die hatten einen Vorsprung von vierzig Jahren. Die werden nach dem Zweiten Weltkrieg mit Penizillin gross und wissen, wie man mit Spitälern verhandeln muss, damit die eigenen Produkte dort eingesetzt werden. Man versucht, Exklusivverträge zu machen und so weiter. Wie hat Protek versucht, sich in diesem Markt durchzusetzen? Waren solche Exklusivverträge auch ein Thema oder was waren da Geschäftspraktiken?

Soiron: Die Zeit ist ja insofern anders gewesen, als wir Anfang der 1980er-Jahre einen Marktanteil im reinen Prothesengeschäft von dreissig Prozent hatten ...

Ingold: Weltweit?

Soiron: Weltweit.

Ingold: Und Europa Spitze?

Soiron: Das heisst Europa etwa sechzig, USA unbedeutend, aber in Upcoming-Märkten wie Japan, das war der einzige Upcoming-Markt – Thailand ein bisschen –, auch enorm. In Japan interessanterweise wegen eines «Nebenproduktes», der sogenannten CDH-Prothese. CDH ist kongenitale Hüftdysplasie, die genetisch an ein paar wenigen Orten der Welt, Oberitalien, Venetien und so weiter, vorkommt. Dort gibt es diese hyperkleinen Hüften, für die man hyperkleine Modelle haben muss und das war unsere CDH. Geschäftsmässig hier unbedeutend, aber plötzlich ein geniales Produkt in Japan. Bei kleineren orthopädischen Konstitutionen war das die Prothese der Wahl, und die Japaner fingen an zu sagen: «Mensch, da gibt es Europäer, die an uns denken.» Wir hatten dort also ein enormes Potenzial. Das Gleiche gilt für Thailand und Singapur, nicht aufgrund des endogenen Marktes, sondern weil sich damals in den 1980er-Jahren ein Tourismusmarkt entwickelt hat, in dem gute Geschäftsleute in Bangkok und in Singapur erkannt haben, dass die Japaner liebend gerne in der Sonne liegen. Sie begannen, «Operationstourismus» zu machen, und dort hatten wir Ideen, vielleicht mitzuspielen. Alles Dinge, die Maurice zum Kopfschütteln brachten: «Ja, aber ...» Wie sind wir darauf gekommen?

Ingold: Die Geschäftspraktiken, Exklusivverträge mit Spitälern.

Soiron: Nein, daran haben wir damals nicht gedacht. Meine Geschäftspraxis oder meine Prinzipien, die mich geleitet haben, waren drei: Erstens müssen wir immer in der Lage sein, total überzeugende Statistiken unseres Produkts zu zeigen, und die hängen nicht von unserem Produkt ab, sondern vom Können der Orthopäden. Darum muss die Schulung der Orthopäden unser Hauptanliegen sein; hier müssen wir klotzen und nicht kleckern. Wir müssen bekannt sein für die Schulung der Orthopäden, das zahlt sich aus, weil die dann was können. Und weil es auch einen ganzen Rattenschwanz von Beziehungen auslöst. Wenn Sie der Schulende sind, dann ruft der Orthopäde Sie auch an, wenn er ein Problem hat.

Zweites Prinzip: Wir wissen nicht, was die Nachfrage von morgen ist, darum müssen wir ein lebendiges Portfolio aufbauen, wo man wie bei verschiedenen Töpfen schaut, welche Suppe zu kochen anfängt. – Portfolio.

Mein drittes Prinzip: Qualität der Mitarbeiter. Es hat wenig Zweck, grosse detaillierte Strategien zu machen. Aber wir müssen Mitarbeiter haben, die alert sind, diese Welt lieben, die die Nase vorn haben und sehen, was sich entwickelt, und dann zupacken.

Das waren die Dinge, die mich beschäftigt haben. Vielleicht hätte man viel stärker auch auf Exklusivverträge pochen müssen. Aber damals haben die Chirurgen bestimmt: «Wir kaufen bei Protek.»

Ingold: Die Schulung, die Sie erwähnt haben, das waren die Hüftkurse an der Murtenstrasse in Bern.

Soiron: Ja, aber zum Teil auch Hüftkurse, die wir quer durch die Welt gemacht haben mit einer fliegenden Fakultät. Das war dann für viele junge Schweizer Ärzte eine Opportunität, nach Mexiko zu gehen oder anderswohin. Wir haben also auch Hüftkurse quer um die Welt gemacht.

Ingold: Das war von Protek organisiert oder von der Stiftung?

Soiron: Das war von der Stiftung organisiert. Sie haben recht, mich daran zu erinnern. Aber es war de facto Geldwäscherei. Protek durfte ja nicht die Ärzte einladen, die wissenschaftliche Stiftung durfte das.

Ingold: Seit wann wurde darauf geachtet, wer die Ärzte ...

Soiron: Seit ich da war. Das Narrativ kam damals auf: «He, passt auf, ihr müsst genau wissen, wer sich als was präsentiert.»

Ingold: Die Statistiken, die Sie erwähnt haben, da hat die Protek AG eigene Dokumentationen von den Kunden, von den Orthopäden, verlangt oder lief das auch über die Stiftung?

Soiron: Nein, das haben wir selbst verlangt. Maurice hat nämlich gesagt: «Ja, die Klassifikation isch noni sowiet, wäisch, und die choi das sowieso nid.» Er wollte nicht, dass wir da etwas mitmachen, das war eine rein wissenschaftliche Angelegenheit. Aber ich habe gesagt: «Wir brauchen das kommerziell!»

Ingold: Wie eng war die Zusammenarbeit allgemein mit Universitäten? Heute ist ja die Translationale Medizin ein grosses Schlagwort.

Soiron: Das hat damals erst angefangen. Man hat immer wieder versucht, mit einzelnen Orthopäden, vor allem auch mit universitären Orthopäden, eine enge Zusammenarbeit zu machen. Diese Zusammenarbeit hatte aber meistens als Titel – und das war ein grosses Problem – «Entwicklung einer eigenen Prothese». Morscher wollte eine Prothese, dann wollte in Frankreich einer eine Prothese, in den USA wollte einer eine Prothese. Die Krux war, wie man dann die Kannibalisierung verhindert hat. Damals wollte jeder seine eigene Prothese.

Ingold: Sind die 1980er-Jahre vielleicht auch der Umschlagpunkt, wo nicht mehr Orthopäden zu Firmen oder zu Technikern kommen und sagen, wir wollen diese Prothese entwickeln, sondern die Firmen beginnen, Orthopäden zu holen, und sagen: «He, gib uns deinen Namen für eine Prothese.»

Soiron: Ja. Die Mitte-1980er-Jahre sind medizingeschichtlich, medizinindustriegeschichtlich ein Umbruch. Das Zweite ist: Damals war die Prothese ja eigentlich so etwas wie der natürliche Wurmfortsatz eines jeden Orthopäden. Es war etwas Natürliches. Dass Orthopäden zu Anwendern einer vereinbarten, weltweit akzeptierten Technologie wurden, ist ein neues Konzept. Dass dann auch die Zusammenarbeit mit Universitäten nicht mehr heisst, für Clermont-Ferrand und für Boston Spezialprodukte zu entwickeln, sondern gemeinsame Fragestellungen zu lösen, kam später: Welches sind die besseren Zugänge? Welches sind jetzt wirklich die Desinfektionspraktiken, die wirken? Haben wir je nach Alter verschiedene Zugänge? Die Firmen mussten lernen, dass kein direkter produktbezogener Return dabei war, aber dass das zur Entwicklung gehörte. Dinge, die heute selbstverständlich tönen.

Ingold: Ja. Andererseits klingt das für mich so, wie wenn die Firmen in Grundlagenforschung investieren würden. Die Translationale Medizin ist eine produktorientierte Übung. Das Ziel ist, die Grundlagenforschung schneller wieder in marktfähige Produkte zu übersetzen. – Zur Preisgestaltung noch eine Frage. Manfred Semlitsch hat mich das Prozentrechnen gelernt.

Soiron: Lebt er noch?

Ingold: Er lebt noch, ja.

Soiron: Und ist noch aktiv?

Ingold: Ja, ich habe mich vier Stunden mit ihm unterhalten.

Soiron: Und gute Unterhaltung, interessant?

Ingold: Ja, interessant. Er hat gesagt, die Schweizer Prozentrechnung sei so gegangen: Man habe von zwei Prozent gesprochen, wenn die Prothese von Sulzer zu Protek gegangen ist, faktisch wurde der Preis verdoppelt.

Soiron: So ist es.

Ingold: Er hat gesagt, das habe sich mit keinen Herstellungskosten rechtfertigen lassen.

Soiron: Ist so.

Ingold: Thackery in England, die mit Charnley produziert haben, natürlich in einem staatlichen Gesundheitswesen, in einer ganz anderen Umgebung, aber die wollten möglichst billige Prothesen auf den Markt bringen. Können Sie dazu etwas sagen, auch wieso das im Schweizer Gesundheitswesen möglich war, dass man Produkte viel teurer verkauft hat, als es die Herstellungskosten gerechtfertigt hätten?

Soiron: Ich bin in engem Kontakt mit Thackray gewesen. Das war fast wie in einem Jane Austen-Roman, es ist ja auch nicht in London, sondern die sind irgendwo, ich glaube in Leeds oder so. Ich hatte einen gewissen Ehrgeiz, der aber nicht konkret war, mit diesen Thackrays in eine engere Verbindung zu kommen. Weil sie den Nimbus von Charnley hatten, und zweitens aber auch, weil sie in einem sozialisierten Gesundheitswesen lebten und nicht schlecht lebten. Das interessierte mich.

Zweiter Punkt: Ich habe merkwürdigerweise nie moralische Skrupel wegen des schweizerischen Zwei-Prozent-Systems gehabt, nie. Ich habe allerdings auch nie den Ehrgeiz gehabt, die Preise noch zu erhöhen, und zwar auch hier nicht, weil ich der heilige Franz gewesen wäre, sondern weil mir vor allem die Vertreter in England, Holland und in Schweden immer wieder unter die Nase gerieben haben: «Mit euren Preisvorstellungen kommt ihr nicht durch.» Wir waren unter praktischem Druck, dass das so nicht ging.

Drittens: Ich wollte ja Akquisitionen machen, und der Aufbau eines grossen Eigenkapitals, das mir geholfen hätte, auch gegenüber den Banken als ernst zu nehmender Partner aufzutreten, gab mir eine gewisse intellektuelle Rechtfertigung dieser damaligen Margen. Aber Sie finden Kommentare dazu in diesem Bericht28, diese Margen waren gigantisch. Warum war das möglich? Die Schweiz hat den Kapitalismus nicht erfunden. Aber die Schweiz ist eine höchst begabte Anwenderin des Kapitalismus gewesen. Und sie hat sich halt keine grossen Gedanken darüber gemacht.

Ingold: Hat die Stiftung hier auch nochmals eine Rolle gespielt, indem man sagen konnte, die Marge ist letztlich zugunsten einer Stiftung?

Soiron: Natürlich, das ist auch in der Rechtfertigung gewesen: «Unsere Preise, wir finanzieren die Stiftung, die macht Ausbildung und so weiter und Forschung», klar. Aber es ist trotzdem viel hängen geblieben.

Ingold: Ich bin mit meinen Fragen durch, Herr Soiron.

Soiron: Das ist aber gut, perfektes Timing.

Ingold: Haben wir etwas ganz Wichtiges nicht angesprochen?

Soiron: Lassen Sie mich das kurz durchblättern. Sie sehen auch, wie vergleichsweise klein die Zahlen damals waren. Ich meine 1987, als ich gegangen bin, war der Umsatz 115 Millionen, das ist nicht viel. Aber das waren dreissig Prozent des Weltmarktes.

Ingold: Und viel grösser als Allo Pro.

Soiron: Und viel grösser als Allo Pro. Und es ist natürlich auch so: 115 Millionen damals, das ist wahrscheinlich eine Milliarde heute, das ist nicht nichts. Aber es war erst ein Anfang. Ja, Sie haben hier Kapitel wie Ausgangslage, 1983, wenn das ja nicht telquel publiziert wird, sondern ...

Ingold: Das kommt ins Archiv und Forschende dürfen es einsehen.

Soiron: Das hat noch niemand gesehen, aber Sie können es haben.

Ingold: Sehr gerne.

Soiron: Diese persönlichen Notizen über Preisverhandlungen und Vertragsverhandlungen mit Sulzer, Seminare bei Protek, Strategie Protek, Aufbau Vecteur Orthopédic in Frankreich, das ist eben industriegeschichtlich sexy.

Ingold: Super, über das Archiv wird es zugänglich für die Forschung und dann kommt es auch mal in Publikationen.

Soiron: Dort wird man Charakterbilder schreiben, die dann nicht so schmeichelhaft sind.

Ingold: Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Soiron.

Soiron: Ich habe an diesen Dingen gedanklich seit Jahren nicht mehr gerührt, aber es ist interessant, wie wenn das mal anfängt, wie viel wieder hochkommt. Das ist total interessant.

Notes

1Zu Max Steiners (1914–1991) Werdegang bei Sulzer vgl. Bálint: Sulzer, 2015, S. 322–327. ↩︎
3Zu Giorgio Curradini siehe Kapitel «Karriere in einer Firma ohne Organigramm». ↩︎
4Paolo Bernasconi war von 1969 bis 1985 Tessiner Staatsanwalt und arbeitete danach als Anwalt in Lugano. ↩︎
5Zu Niederer siehe Kapitel «Der Beitrag der Werkstoffforscher», Anmerkung 12. ↩︎
6Werther Lusuardi. ↩︎
7Zu Willi Frick und Hermann Taaks siehe Kapitel «Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz». ↩︎
8Zu Peter Koch siehe Kapitel «Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz», Anmerkung 33. ↩︎
9Manfred K. Semlitsch ist Österreicher. Zu seiner Sichtweise der Arbeit mit Maurice E. Müller siehe Kapitel «Der Beitrag der Werkstoffforscher». ↩︎
10Filippo Brunelleschi (1377–1446) war ein italienischer Baumeister und Bildhauer. Er ist berühmt für die Kuppel der Kathedrale von Florenz. ↩︎
11Zu Freeman siehe Kapitel «Der Beitrag der Werkstoffforscher», Anmerkung 35. ↩︎
12Werner Müller hatte die Orthopädische Abteilung des Kantonsspitals Bruderholz, Baselland, aufgebaut. 1982 habilitierte er sich an der Universität Basel und veröffentlichte ein Standardwerk zum Knie. Vgl. Müller: Knie, 1982. ↩︎
13Zu Lorenzo Spotorno siehe Kapitel «Der Beitrag der Werkstoffforscher», Anmerkung 32, und Kapitel «Karriere in einer Firma ohne Organigramm». ↩︎
14Peter E. Ochsner schrieb: «Zwischen Mai 1978 und Juni 1990 fanden 40 Sitzungen der Technischen Kommission (TK) statt.» E-Mail an Niklaus Ingold, 14.03.2023. ↩︎
15Rafael Orozco hat ein Buch zur AO-Frakturbehandlung in spanischer Sprache veröffentlicht. Vgl. Orozco: Fracturas, 1983. ↩︎
17Gemeint ist Ueli Aebi-Müller. Siehe Kapitel «Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz». ↩︎
20Gemeint sind Janine Aebi-Müller und Denise Spörri-Müller, die Töchter von Maurice E. Müller und Martha Müller-Lüthi. ↩︎
21Zu Morscher siehe Kapitel «Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz», Anmerkung 31. ↩︎
22Robert Frigg war Forschungs- und Entwicklungschef bei der Synthes, Inc. ↩︎
26Rückfragen Ingold an Semlitsch: «1. Gab es eine Abmachung zwischen Sulzer und Müller, dass für Müller-Prothesen entwickelte Werkstoffe auch für Prothesen von Allo Pro verwendet werden durften? 2. Kam es überhaupt vor, dass die Gebrüder Sulzer AG Prothesen für die Protek AG und für die Allo Pro AG aus demselben Werkstoff fertigte? 3. Was sagen Sie zur Vermutung, dass Sulzer Legierungen jeweils wenig veränderte, um sie für Prothesen der jeweils anderen Firma verwenden zu können? 4. Lässt sich Ihre Liste der MT-Werkstoffe ergänzen um Angaben zur Firma, zu deren Prothesen die Werkstoffe eingesetzt wurden?» E-Mail an Semlitsch, 03.05.2022. Semlitsch antwortete: «Ad 1[:] Eine derartige Abmachung hat nie bestanden. Ad 2[:] Aus den in Winterthur unter meiner Leitung konzipierten, entwickelten und national/international normierten Implantatwerkstoffen wurden Gelenkprothesen sowohl für Protek als auch Allo Pro hergestellt. Ad 3[:] Diese Vermutung trifft absolut nicht zu. Ad 4[:] Deshalb kann auch so eine Liste nicht erstellt werden.» E-Mail an Ingold, 04.05.2022. ↩︎
27Fritz Fahrni arbeitete ab Ende 1976 für Sulzer. Zunächst in Führungspositionen in den Bereichen Gasturbinen und Webmaschinen tätig, war er von 1988 bis 1999 CEO der (Gebrüder) Sulzer AG. Vgl. Bálint: Sulzer, 2015. ↩︎