Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz
doi.org/10.36950/edv-mem-2023.7
Niklaus Ingold

Karriere in einer Firma ohne Organigramm

Interview mit Giorgio Curradini

Toscolano-Maderno, 4.10.2022

Anwesend: Giorgio Curradini, Niklaus Ingold (Interview und Transkript)

Ingold: Ich habe Ihren Lebenslauf vor mir, Herr Curradini. 1952 geboren, wachsen Sie in der Toskana auf. Sie gehen dann 1969 in die Schweiz nach Bern, beginnen eine kaufmännische Ausbildung. Sie sind an der kaufmännischen Berufsschule in Bern und arbeiten ab dann in Schweizer Firmen, bevor Sie 1976 zu Protek stossen. Jetzt meine erste Frage: Wieso kamen Sie 1969 in die Schweiz zur weiteren Ausbildung?

Curradini: Ich ging aus Italien in die Schweiz, weil in Italien damals der Militärdienst von achtzehn bis zwanzig obligatorisch war. Ich wollte keinen Militärdienst machen und habe mir überlegt, wie ich da herauskomme. Die Idee war auszuwandern. In Bern wohnten bereits einige Dorfbewohner aus dem kleinen Dorf in der Toskana und somit bin ich im Oktober 1976 nach Bern gezogen.

Ingold: Im Oktober 1969.

Curradini: 1969.

Ingold: Sie haben dann unter anderem für eine Baufirma, Schmalz AG, gearbeitet. Wie kommt man von einer Baufirma zu einer Medizintechnikfirma wie Protek?

Curradini: Bei der Baufirma war ich Lehrling, weil ich die kaufmännische Berufsschule in Bern besucht habe. Wie Sie sicher wissen, ist das kombiniert mit einer Arbeitsstelle. Ich war bei der Firma Schmalz nötig, weil in diesen Jahren die Ausschreibungen für den Bau des Gotthardtunnels kamen. Die ganzen Ausschreibungen waren auf Italienisch. Die Firma Schmalz hat mich angestellt als Lehrling mit der Aufgabe, die Ausschreibungen vom Lot Airolo bis zur Mitte aus dem Italienischen zu übersetzen. Gleichzeitig habe ich das KV fertig gemacht.

Ingold: Und Protek? Dazwischen haben Sie noch für eine andere Firma gearbeitet?

Curradini: Als die Lehre fertig war, habe ich ein Jahr für die Firma Fehlmann Grundwasserbauten gearbeitet. Die gab mir die Möglichkeit, aus der Schweiz ein bisschen zu reisen, dorthin, wo wir Baustellen hatten, vor allem in Nordafrika. Als ich dann Professor Müller kennen lernte, hat er mir gesagt, wenn ich reisen wolle, sei bei ihm eine Stelle frei. Er suche jemanden, der seine Prothesen – ich wusste nicht einmal, was eine Prothese ist, aber ich wusste, dass ich reisen kann. So habe ich bei Protek angefangen.

Ingold: Jetzt haben Sie noch eine Liebesgeschichte unterschlagen, die der Grund war, weshalb Sie Professor Müller kennengelernt haben.

Curradini: Ja. Die Firma Protek hatte damals vier, fünf Mitarbeiter. Ich war frisch verheiratet. Meine Frau arbeitete stundenweise bei Protek als Hilfsbuchhalterin. Als die dann einen Chefbuchhalter gesucht haben, habe ich mich bei Professor Müller vorgestellt, den ich schon über meinen Schwiegervater mindestens namentlich kannte. Also ich wusste, wer das war.

Ingold: Ihr Schwiegervater war auch Arzt am Inselspital?

Curradini: Mein Schwiegervater war Arzt am Kinderspital und hatte eine Privatpraxis am Lindenhofspital, wo auch Professor Müller tätig war.1

Ingold: Sie haben gesagt, die Protek AG sei eine Firma von vier, fünf Personen gewesen. Können Sie ausführen, was für eine Firma Sie angetroffen haben? Gab es ein Organigramm und alle haben genau nach diesem Organigramm funktioniert?

Curradini: Nein, überhaupt nicht. Die Firma Protek war eine Zusammenarbeit von vier, fünf Personen. Jeder hatte seine Funktion. Zum Beispiel der Herr Küffer hatte die Funktion, die ganzen Instrumentarien und Prototypen in der Werkstatt fertigzustellen. Da war jemand im Lager und da war jemand in der Buchhaltung. Im Grunde genommen war die Firma Protek nicht strukturiert nach einem perfekten Organigramm. Ich war natürlich durch meine Aufgabe, das Wissen von Professor Müller in die Welt zu tragen und Filialen oder Ärzte zu besuchen, praktisch ein Geschäftsführer SDO, sans diplôme officielle. Ich war der Beziehungspunkt von Protek zu Müller, aber was die Technische Abteilung genau machte, wusste ich nicht.

Ingold: 1976, als Sie bei der Protek begannen, war noch Marcel Madl Geschäftsführer. Sie stiegen da in der Buchhaltung ein. Dann hat sich aber Ihr Aufgabenbereich ...

Curradini: Komplett geändert.

Ingold: Können Sie beschreiben, was Ihre Aufgaben am Anfang waren und wie sie sich entwickelt haben?

Curradini: Am Anfang habe ich die Buchhaltung gemacht, von Protek und von verschiedenen Instituten, die Protek nahestanden, zum Beispiel vom Labor für experimentelle Chirurgie in Davos. Da habe ich mich um die Finanzen gekümmert. Marcel Madl war ein Anwalt, der Protek geführt hat. Als ich zwei Jahre dort war, hat er plötzlich gekündigt und sich selbstständig gemacht in Bern.2 Es war praktisch natürlich, dass ich seine Stelle übernahm, weil ich der Einzige war, der die ganze Vertriebsorganisation kannte. Die anderen Mitarbeiter hatten keine Ahnung, wer was wo verkaufte. Durch die Tatsache, dass ich sprachlich ein bisschen mehr Vorteile hatte als andere, habe ich die ganze Kursorganisation, die Ausbildungsorganisation in Bern, angefangen und immer wieder eine Filiale oder Wiederverkaufsstelle gefunden. Das war nie eine Ernennung offiziell im Handelsamtsblatt zum Geschäftsführer. Es war eine natürliche Situation. Sie müssen einfach davon ausgehen, dass Protek nicht eine Firma war im Sinne, wie Sie das aus den Lehrbüchern verstehen. Protek war eine Gruppe von Personen, die Professor Müllers Ideen weiterbrachte. Somit kann man das nicht vergleichen mit einer strukturierten Firma, wo jeder seine Aufgabe hat. Die Nähe, die ich zu Professor Müller hatte, machte mich zum Delegierten des Verwaltungsrats, auch wenn ich das auf dem Papier erst später wurde.

Ingold: Max Steiner hatte damals diese Position.

Curradini: Max Steiner war ein Direktor der Firma Sulzer. Als wir immer mehr mit der Firma Sulzer zusammengearbeitet haben und die Produktion stieg, vertrat Müller die Ansicht, dass eine Verbindung von einem Mann der Firma Sulzer, der bei uns hereinschaute, nötig war. Aber die Liebesgeschichte hat nicht lange gedauert.

Ingold: Sie haben gesagt, dass Sie das Verkaufsnetz gut gekannt haben. Hatten Sie auch mit den Käufern direkt zu tun, mit den Kundinnen und Kunden, also den Ärzten, die Prothesen eingesetzt haben?

Curradini: Ja natürlich. Der Erfolg von Protek entstand durch die Ausbildungskurse. Ähnlich wie die AO in Davos haben wir in Bern jedes Jahr vier Hüftkurse gemacht in verschiedenen Sprachen, auch Kurse für das Operationspersonal. Natürlich entstanden an diesen drei Tagen, die die Kurse dauerten, immer wieder auch persönliche Beziehungen, die ich dann ausnützte: Wenn ich in den entsprechenden Ländern Wiederverkäufer oder Filialen aufbaute, hatte ich Bezugspersonen, die unsere Struktur kannten, die in Bern waren, die bei Professor Müller im Operationssaal waren. Die ganze Philosophie vom Müller bestand auf der Schulung, auf der Ausbildung. Er hatte auch immer die Idee, dass jemand, der etwas sagen kann, das auch schreiben können muss. Wenn du nicht in der Lage warst, niederzuschreiben, was dein Gedanke war, dann warst du für ihn nicht brauchbar. Unsere Referenzpunkte im Ausland waren vielfach Professoren, Uniprofessoren, Leute, die viel publiziert hatten und die selbst Leute ausbildeten. Die haben das Prinzip der Ausbildungssituation am besten verstanden.

Ingold: Weshalb kamen die Ärzte in die Hüftkurse nach Bern? Hing das mit dem Ruf von Müller zusammen? Hing das mit dem Produkt zusammen? Waren die künstlichen Hüftgelenke noch so etwas Neues damals, dass das einfach für Aufsehen sorgte und man da hin wollte?

Curradini: Ja, es war genau so. Wenn jemand vor vierzig Jahren mit Prothetik anfangen wollte oder die Idee hatte, mindestens reinzuschauen, hatte er nicht viele Bezugspunkte, wo er das lernen konnte. Im Grunde genommen gab es nur Professor Müller in Bern und Professor Charnley in London mit zwei verschiedenen Produktphilosophien. Aber wenn jemand anfangen wollte in der Hüftprothetik, kam er nach Bern an die Kurse und dann kam er immer wieder an einzelne Operationen im Lindenhof, wo er assistieren konnte, wo er an Professor Müller Fragen stellen konnte. Müller war auch bereit, vielfach in Europa zu reisen, um Demooperationen durchzuführen.

Ingold: Waren Sie dabei auf diesen Reisen?

Curradini: Ich war immer dabei.

Ingold: Sie waren auch im Operationssaal dabei?

Curradini: Ja.

Ingold: Was war Ihre Aufgabe im Operationssaal?

Curradini: Die Aufgabe im Operationssaal von mir war, das Personal, Instrumentierschwestern und Assistenzärzte, auf die Operation vorzubereiten: Wie Professor Müller arbeitet, wie man den Patienten auf dem Operationstisch positionieren muss. Es war meine Aufgabe, die ganzen Instrumente mit dem Personal durchzunehmen und zu sagen: «Du musst mit diesem Instrument anfangen.» Müller hatte nicht die Begabung, nach Instrumenten zu fragen. Er machte nur eine Handbewegung und erwartete, dass das richtige Instrument kam. So war meine Aufgabe, das OP-Personal auf die Operation vorzubereiten. Zum Beispiel, eine Kleinigkeit: Wenn man den Zement aus den zwei verschiedenen Komponenten vorbereitete, musste man wissen, wie viel Zeit verstreichen musste, damit die Liquidität des Zements genau richtig war, um ihn anbringen zu können. Ich hatte die Pflicht, Stunden vor der Operation die ganze Operation vorzubereiten. Ich war natürlich auch dafür verantwortlich, wenn etwas nicht funktionierte. Da war für Müller keine Diskussion, der Idiot war ich.

Ingold: Wie wurden Sie vom Buchhalter zu diesem Gehirn im Hintergrund, das schaut, damit die Abläufe für Herrn Müller stimmen? War das Learning by Doing?

Curradini: Nein, das war die Neugier. Wissen Sie, Bern, Inselspital, Müller – vor vierzig Jahren kamen die Leute nach Bern wie nach Lourdes. Die kamen, ohne laufen zu können, und gingen wieder aus dem Spital laufend. Das war für mich ein Wunder. Heute ist das normal. Damals war das wirklich ein Wunder. Ich war so fasziniert von dieser Medizin, die immediate Resultate brachte, ohne Pharmaprodukte oder langfristige Behandlungen. Es hat mich so begeistert, dass man so etwas machen kann. Natürlich hat auch mitgespielt, wie wir empfangen wurden, wenn ich als Müller-Begleiter ins Ausland ging. Da war jedes Mal das Fernsehen dabei, da war das Radio dabei, es war wirklich ein Erlebnis. Ich habe mich in diese Aufgabe so reingesteigert. Wissen Sie, im Grunde genommen ist eine Hüftprothesenoperation eine Schreinerarbeit. Es ist nicht eine Mikrooperation am Hirn oder am Herz. Es ist rein mechanisch. Was faszinierend war, war die Bedeutung, die Müller jeder kleinsten Passage oder für uns unwichtigen Situation beimass – ich mache Ihnen ein Beispiel: Ich bin farbenblind. Als wir im Operationssaal waren, hatte ich immer die Pflicht mit dem Instrumentierpersonal, den Assistenzärzten und den Anästhesisten die Verbindung zu haben. Ich merkte nicht, wenn das Blut wegen Sauerstoffmangel schwarz wurde. So konnte ich dem Anästhesisten nicht sagen: «Schau mal, da stimmt irgendetwas nicht.» Da kam Maurice Müller, und dann habe ich immer etwas gehört.

Ingold: Sie haben gesagt, dass Charnley in Grossbritannien und Müller zwei unterschiedliche Philosophien verfolgt hätten. Könnten Sie das noch ausführen?

Curradini: Ja, erstens gab Charnley den ganzen Instrumentarien keine Bedeutung. Für ihn war die Prothese das Problem. Zweitens waren die Prothesen von Professor Charnley Prothesen aus Stahl und Monoblock, also man konnte die verschiedenen Köpfe nicht darauf stecken, die Prothese war schon fertig. Wir hatten Prothesen, die modular waren, und konnten je nachdem, was wir für eine Länge brauchten, die verschiedenen Köpfe aufsetzen. Dazu kommt noch, dass der Professor Charnley beim Prothesenkopf an einen Durchmesser von 22 Millimetern glaubte und Professor Müller an einen 32-Millimeter-Durchmesser. Langfristig hatte dann die Literatur bewiesen, dass die 32er-Prothesen eine längere Lebensdauer hatten, weil sie sich an einer grösseren Oberfläche abstützen konnten.3 Aber in den ersten Jahren war ein richtiger Krieg: 22 oder 32. Wir haben dann eine Zeit lang auch 22er-Prothesen gemacht. Professor Müller hat immer gesagt: «Der Curradini, dä wott dä das, das brucht mer gar nöd.» Ich muss sagen, die Beziehung zwischen Charnley und Müller war eine sehr gute Beziehung. Die haben sich selbstverständlich respektiert. Charnley war vielfach bei uns Gast, und Müller war vielfach Gast bei ihm. Aber noch heute gibt es Länder, zum Beispiel die ehemaligen englischen Kolonien wie Indien, die sich noch auf diese Charnley-Gedanken stützen, und Länder wie Europa, die auf die Müller-Philosophie setzen.

Ingold: Den modularen Aufbau der Prothesen, den Sie erwähnt haben, gab es den 1976 schon, als Sie zu Protek kamen, oder haben Sie miterlebt, wie dieser Schritt ging?

Curradini: Das habe ich miterlebt. Am Anfang waren die Prothesen bei uns auch ein Monoblock. Wir hatten dann gemerkt, dass man für die Muskelspannung ab und zu einen grösseren Offset von der Prothese brauchte, damit die Muskulatur im richtigen Modul war. Wir hatten dann pro Schafttyp drei Schäfte mit drei verschiedenen Monoblockköpfen darauf. Der nächste Schritt war automatisch: «Wir machen einen Schaft mit einem Konus und drei Köpfen.»

Ingold: Wer hat gesagt: «Wir machen jetzt diesen Schritt»? Das war Müller oder das war bei Sulzer jemand?

Curradini: Das war bei Sulzer.

Ingold: Jetzt zeichnet auch der Preisunterschied die Prothesen von Charnley und Protek aus. Manfred Semlitsch hat mir gesagt, die Schweizer hätten ihm das Prozentrechnen beigebracht, weil bei einem Handwechsel zwischen dem Produzenten Sulzer und der Vertriebsgesellschaft Protek von einem Aufschlag von zwei Prozent gesprochen worden sei, faktisch aber zweihundert Prozent gemacht worden seien. Können Sie zu diesen Abläufen etwas sagen, wie der Preis der Protek-Prothesen zustande kam?

Curradini: Also, wenn wir vom Preis reden, müssen wir über den Endpreis diskutieren. Über den Endpreis im Land zu diskutieren, ist schwierig, weil jedes Land einen anderen Zahlungstermin hat. In Italien zum Beispiel ist der durchschnittliche Zahlungstermin 360 Tage. Der italienische Vertreter musste diese Kosten aufbringen. Dann kommt dazu, dass die Leute immer wieder den Fehler machen, dass sie sagen: «Ja, aber so ein Stück Metall, warum soll das jetzt zweitausend Euro kosten?» Es ist nicht genauso so. Man muss überlegen, was sehr teuer ist in der Branche. Das ist die ganze Logistik. Wir können nicht eine Prothese produzieren auf Bestellung, wir müssen die Prothese am Lager haben, und zwar am Lager bei Protek und am Lager beim Wiederverkäufer. Die Firma Sulzer hat am wenigsten gekriegt, aber die haben kein Lager gehabt, die haben nur produziert, was Protek bestellt hatte. Protek hat dann den weltweiten Verbrauch am Lager haben müssen. Die einzelnen Länder mussten innert 24 Stunden in der Lage sein, den ganzen Katalog zur Verfügung zu stellen. Abgesehen davon sind heute die Preise stark gesunken durch die ganze Politik der Amerikaner. Aber ich muss Ihnen sagen, die Fallpauschale für eine Prothese in Deutschland oder in Italien liegt bei rund 10 000 Euro. Das heisst, die Klinik, die eine Hüftprothese einsetzt, hat vom Staat 10 000 Euro. Dass das Implantat davon zwanzig Prozent kostet, wir aber innert 24 Stunden das gesamte Sortiment zur Verfügung stellen, zum Teil ein Jahr auf die Zahlung warten und somit das ganze Qualitätsrisiko tragen, finde ich im Verhältnis absolut nicht teuer.

Ingold: Protek war sehr erfolgreich trotz dem hohen Preis. Würden Sie da auch wieder sagen, die Ausbildung sei wichtig gewesen für die grosse Marktstellung von Protek?

Curradini: Die Ausbildung war wichtig, aber wissen Sie, vor vierzig Jahren war die Zahl der Prothesen, die man auf den Markt brachte, natürlich nicht in dieser Millionenhöhe von heute. Damals war ein Los von Prothesen so 500 000 Stück. Im Gesundheitssystem war das Produkt eine solche Innovation, die den Preis nicht zu einem Problem machte. Das kam erst später, als die Zahlen stiegen. Ich habe einmal gezählt, dass wir in Bern rund 7000 Orthopäden empfangen hatten. Auf unsere Kosten haben die drei Tage bei uns verbracht, waren im OP bei Professor Müller, Müller war vielfach bei ihnen im Land und so weiter. Protek hat den Wiederverkäufern zu Preisen verkauft, die – wie ich erst später gemerkt habe – so tief waren, dass die Wiederverkäufer mal fünf multipliziert haben. Sulzer hat auch erst Jahre später gemerkt, dass ich den Preis mal drei multipliziere.

Ingold: Wenn Sie mit den Wiederverkäufern zu tun hatten, mussten Sie die irgendwie instruieren? Wie hat man sich das vorzustellen, wenn man ein Verkaufsnetz aufzubauen versucht?

Curradini: Wenn wir ein Verkaufsnetz aufgebaut haben, haben wir uns immer zuerst einen Arzt ausgesucht, der, sagen wir, den Lokal-Müller gespielt hat. Wir hatten in Frankreich in Toulouse Professor Mansat, das war der, der bei uns zwanzig Mal war und alles wirklich wie Professor Müller kannte.4 Wir haben dann in der Nähe der Klinik von diesem Professor eine entsprechende Kleinfirma gesucht. In der Regel haben wir den gleichen Wiederverkäufer genommen, den Synthes auch hatte. Die war bereits in der Medizinaltechnik drin. Wir haben im Land also dasselbe wiederholt, was Müller weltweit gemacht hat: Die Franzosen mussten zu diesem französischen Professor gehen, bevor sie anfangen konnten, und so weiter und so weiter.

Ingold: Sie haben nicht nur die Verkaufsseite betreut, sondern waren auch bei der Produktentwicklung für eine gewisse Verbreiterung Anfang der 1980er-Jahre zuständig. Stichwort Spotorno. Der hat mit Protek Anfang der 1980er-Jahre eine Prothese entwickelt.5 Können Sie erläutern, was da die Hintergründe waren? Am Anfang hat Protek Müller-Prothesen gemacht. Wie kommt es dann dazu, dass man neue Entwickler sucht?

Abb. 1. Giorgio Curradini (Mitte) begann seine Laufbahn in der Protek AG als Buchhalter. Auf dem Bild aus dem Jahr 1990 ist er der Generaldirektor und unterhält sich mit dem Orthopäden Lorenzo Spotorno, der mit der Protek AG eine zementfreie Prothese entwickelt hat. Foto: U. Keller, Medizinsammlung Inselspital Bern

Curradini: Da waren verschiedene Überlegungen. Erstens kam damals plötzlich die Idee auf, dass man die Prothesen ohne Zement einsetzen könnte. Müller war nicht einverstanden. Für ihn war Zementieren ein Muss. Die Entwicklung von dieser CLS6, die dann einer der grössten Erfolge der Orthopädie wurde, habe ich angefangen, weil Spotorno damals schon rund tausend Prothesen im Jahr implantiert hatte. Mein erster Gedanke war: «Ich entwickle etwas mit ihm, damit er die tausend Prothesen mal mit mir implantiert.» Das war eine rein kommerzielle Überlegung. Ich hatte mir nicht überlegt: «Wie sage ich das Müller?» Für Müller war Protek seine eigene und einzige Firma. Es war für ihn unverständlich und unnötig, dass wir mit anderen Leuten irgendetwas entwickeln. Er hat mich dann machen lassen, weil er Spotorno unterschätzt hatte. Die Prothese hat ihn nicht interessiert. Aber der Autor, der dahinter war, war aufgrund seiner wenigen Publikationen, seiner Nichtbeteiligung an Kongressen und so weiter für ihn nicht in der Lage, einer Prothese zum Erfolg zu verhelfen. Sein Gedanke blieb immer noch bei der Ausbildung: «Das, was du machst, musst du auch schreiben können.» Und so weiter. Dazu kam, dass Spotorno ein Italiener war. Also vor vierzig Jahren war ein Italiener-Orthopäde ein Afrikaner, der irgendwo da etwas machte. Man wusste nicht genau, was.

Ingold: In der Schweiz war die Zeit nach der Schwarzenbach-Initiative.

Curradini: Die Schweiz war die Mutter der Prothetik, der Italiener, der konnte nach Müller nie fünf Meter weiterfahren. Ich habe dann einmal Müller in das Spital von Spotorno gebracht. Ich wollte wissen, was er von der Handfertigkeit von Spotorno denkt, was er jetzt sagt, wenn er sieht, dass Spotorno an einem Tag fünfzehn Prothesen macht. Das habe ich gemacht und Müller war entsetzt: «Das chan sicher nöd funktionierä.» Er hatte zum Beispiel Angst vor den Infektionen. Spotorno hatte keine Infektionen, weil er bei der Operation so schnell war, dass die Staphylokokken nicht die Zeit hatten, sich zu organisieren, der Patient war so schnell schon wieder zu. Dazu: Bei Spotorno war ein halber Zentimeter kürzer oder länger nicht so bedeutend. Müller dokumentierte alles, was er machte. Es gab keine Prothese, die nicht alle sechs Monate ein Röntgenbild erfasst hat, das bei uns im Archiv war. Spotorno, der operierte drauflos. Müller schaute den Erfolg von Spotorno als unwichtig an. Er brachte das an der Technische Kommission, die mir für den Vertrieb dieser Prothese die Freigabe erteilen musste. Das waren Momente, wo ich das Gefühl hatte, dass der jetzt einen Weg findet, um zu sagen: «Das brauchen wir nicht.» Aber in der Zwischenzeit kam die Firma Allo Pro und die produzierte eine zementlose Prothese. Ich habe gesagt: «Ja, aber Herr Professor, ich bin auch der Meinung, eventuell braucht man das nicht, aber wenn die das machen und wir nicht ... Wenn wir das mit Spotorno machen, riskieren wir nichts. Wenn es nicht funktioniert, funktioniert es nicht.» So hat er uns die Freigabe gegeben. Die Prothese von Spotorno war dann eine der meistimplantierten Prothesen und noch heute in Italien sowie weltweit eine sehr anerkannte Prothese. Man hat festgestellt, dass die Verbindung Titan zu Knochen ideal für das Knochenwachstum am Titan war. Der Zement war eigentlich bei einer eventuellen Revision eher ein Hindernis. Heute, so würde ich sagen, werden fünf Prozent der Prothesen zementiert und 95 Prozent der Prothesen sind zementlos.

Abb. 2. Zementfreie Prothese nach Lorenzo Spotorno aus dem Jahr 1987. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 15282

Ingold: Zwei interessante Stichworte für mich: Technische Kommission und Allo Pro. Zuerst zur Technischen Kommission. Waren Sie Mitglied in der Technischen Kommission? Oder waren Sie an den Sitzungen dabei?

Curradini: Ich war Mitglied der Technischen Kommission als Protokollführer. Ich hatte kein Stimmrecht. Im Grunde genommen hat man immer gewartet, was Müller sagt, und dann haben alle gestimmt, was Müller gesagt hat. Die Technische Kommission war aber ein Mittel, mit dem man uns bei Protek richtig Angst eingejagt hat. Wir wussten: «Wir haben jetzt bis heute entwickelt, wir haben tausend Stück implantiert, dokumentiert, wir haben Instrumente an Lager und jetzt riskieren wir, dass wir sie nicht verkaufen können, wenn die Technische Kommission Nein sagt.» Ich hatte die Perseveranz, wenn an einer ersten Sitzung das Produkt nicht durchging, es an der nächsten Sitzung wieder zu präsentieren. Ich sprach mit Mitgliedern der Technischen Kommission vor der Sitzung und erklärte ihnen, warum es für Protek wichtig wäre, dass wir uns jetzt ein bisschen öffnen. Bis dahin waren wir die Firma von Professor Müller. Am Schluss haben wir dann verschiedene andere Autoren im Sortiment gehabt. Müller aber hat sich so benommen, wie wenn die nicht existieren würden.

Ingold: Es kam also vor, dass in der Technischen Kommission Produkte abgelehnt wurden.

Curradini: Ja. Das kam vor. Zum Beispiel: Wenn ich von hundert implantierten Prothesen nach zwei Jahren die Resultate brachte. Wenn die Resultate so knapp bei Überlebensraten von 95 Prozent waren, dann war die Reaktion sicher ein Nein.

Ingold: Obwohl die kommerziellen Interessen von Protek ...

Curradini: Ja, ja klar.

Ingold: ... in eine andere Richtung gelaufen wären.

Curradini: Zum Teil hatte Müller während einer Operation festgestellt, dass ein Instrument zwei Millimeter zu wenig gekurvt war. Dann hat er plötzlich beschlossen: «Jetzt müssen wir das wegwerfen.» Ich habe gesagt: «Ja, aber Professor, wir haben eine so und so grosse Stückzahl am Lager! Man kann mit denen operieren. Zwei Millimeter ...» – «Keine Diskussion, was nicht funktioniert am Patienten, wird verschrottet.» Sage ich: «Aber Herr Professor, das sind so und so viele Euro.» – «Das wird verschrottet.» Das war gnadenlos.

Ingold: Das andere Stichwort: Allo Pro. Hinter Allo Pro waren ja Arnold Huggler und Bernhard Weber unter anderem als Orthopäden. Können Sie etwas zum Verhältnis zwischen Protek und Allo Pro sagen?

Curradini: Professor Weber war ja der Oberarzt von Professor Müller, als Müller in St. Gallen Chefarzt war. Als Müller dann nach Bern kam, hat er praktisch versucht, dasselbe zu tun wie Müller. Er hatte seine kleine Firma gegründet. Huggler war einer der Inventoren von einem guten Produkt der Firma Allo Pro. Ich muss aber ohne Überheblichkeit sagen, dass für uns Allo Pro ein so unbedeutender Konkurrent war, dass wir sie immer ein bisschen unterschätzt haben. Es waren zwei Parteien, es war die Partei Müller und die Partei Weber. Es war mehr eine persönliche Verbindung. Von den Produkten her hat Herr Professor Weber bei Allo Pro nicht gross Einfluss gehabt. Da waren andere Prothesen wie die Zweymüller- oder die Huggler-Prothesen wichtig. Allo Pro war im Grunde genommen immer die kleinere Firma. Die ist dann auch zuerst von Sulzer gekauft worden. Es war auch immer ein Streit, weil wir behauptet hatten, dass viele unserer Ideen über Sulzer an die Allo Pro gelangt waren. Im Nachhinein muss ich sagen, dass das nicht wahr war. Es gab ein paar Jahre ein bisschen Friktion. Wir haben immer wieder gesagt: «Ja, aber das Produkt ist im Grunde genommen von uns entwickelt worden.» Solche Diskussionen gab es. Auch die Beziehung Weber-Müller war nicht besonders eng. Müller hat uns immer wieder gesagt: «Wir müssen über die anderen Leute nicht reden, wir müssen gut arbeiten. Die anderen sollen machen, was die wollen.» Persönlich hatte ich zu den Leuten von Allo Pro, ob es Ärzte oder Mitarbeiter waren, immer sehr gute Beziehungen gehabt, sehr.

Ingold: Mit wie harten Bandagen wurde unter den Firmen um Marktanteile gerungen? Eine Auskunftsperson hatte mir gesagt, dass Paolo Bernasconi, der Tessiner Staatsanwalt war und danach ein bekannter Schweizer Anwalt, sie mal befragt hätte wegen Schmiergeldzahlungen.7 Sagt Ihnen das etwas?

Curradini: Der Name Bernasconi sagt mir natürlich etwas. Selbstverständlich weiss ich, dass der Bernasconi immer wieder Autoren aus Nachbarländern verteidigt hat, weil man diesen Ärzten stets aufs Neue den Vorwurf gemacht hatte, dass sie in ihrem Spital von ihnen entwickelte Produkte gebrauchen würden, weil sie Geld damit verdienen, Royaltys empfangen würden. Ich kenne den Fall von Professor Spotorno. Die italienischen Behörden haben die Geschäftsleitung unserer Filiale in Mailand gefragt: «Ja, aber da ist ein Produkt, da steht darauf Spotorno. Spotorno, verdient er etwas?» Der Geschäftsführer dort hat gesagt: «Das weiss ich nicht.» Die haben dann geforscht in der Schweiz und haben herausgefunden, dass tatsächlich Spotorno Royaltys von Protek gekriegt hat. Jetzt: Protek war nicht in Gefahr, weil es normal war, Royaltys an Autoren zu geben. Wir hatten normale Verträge in der Buchhaltung. Für uns war das absolut legal. Was für die italienischen Behörden war oder nicht war, wussten wir nicht. Ich weiss, dass dann die Geschichte mit einem Freispruch für Spotorno geendet hat. Die Verteidigung von Bernasconi war: Es ist ja logisch, dass Spotorno in seinem Spital das Produkt verwendet, das er erfunden hat. Das wäre ja nicht logisch, wenn er das nicht machen würde, erstens. Zweitens: Die Prothesen wurden im Spital mit einer öffentlichen Ausschreibung verkauft. Er hatte den Zuspruch von der Technischen Kommission des Spitals und hat die Ausschreibung gewonnen. Ich weiss sicher, dass Spotorno aus dieser Problematik herauskam. Ob sich Rolf Soiron auf diesen besonderen Fall bezieht oder nicht, weiss ich nicht. Mir ist nur der bekannt.

Ingold: Wir haben jetzt über den Konkurrenten Allo Pro gesprochen und da kam auch schon Sulzer ins Spiel, also die Produzentenseite. Da waren die Gebrüder Sulzer AG und die Mathys AG. Können Sie zum Verhältnis von Protek zu diesen beiden Produzenten etwas sagen. Gab es hier Schwierigkeiten?

Curradini: Am Anfang der Protek-Geschichte war unser Produzent die Firma Mathys in Bettlach. Als wir dann die Legierung der Prothesen von Stahl 360L zu Chrom-Kobalt oder Titan gewechselt haben, haben wir gemerkt, dass Mathys nicht in der Lage gewesen wäre damals, diese Technik zu gebrauchen. Die Firma Sulzer hatte keine medizinaltechnische Abteilung. Es wurde eine kleine Einheit kreiert innerhalb von Sulzer, die Medizinaltechnikprodukte entwickelt hat. Die haben für uns und für Allo Pro produziert. Aber natürlich war das so, dass Protek eine eigene Entwicklungsabteilung hatte. Wir gingen in die Produktion, wenn die Produkte fertig waren. Also Sulzer hat unter Lizenz produziert für uns, aber die Haftung für die Produkte lag bei uns. Als Müller mit amerikanischen Firmen über den Verkauf von Protek verhandelt hat, hat Sulzer vorgeschlagen, dass sie das Unternehmen kaufen würden, und hat dann diese Transaktion getätigt. Ich blieb darauf noch zwei Jahre bei Sulzer und ich muss sagen mit relativ viel Freiheit. Sulzer dachte natürlich schon ein bisschen mehr kommerziell als wir. Also Sulzer hatte schon einen Börsengang geplant, eine Erweiterung im Spinalbereich. Dort haben sich dann unsere Wege getrennt, weil Sulzer mehr nach amerikanischer Art gearbeitet hat, als wir das gewohnt waren. In den Anfangsjahren hatten wir zu Sulzer eine Beziehung, als wären wir praktisch eine Firma. Wenn Sulzer mir ein Produkt offeriert hat zu einem Preis, bei dem ich gemerkt hatte, dass ich mehr Marge habe, als es nötig war, habe ich gesagt: «Hier könnt ihr die Preise ein bisschen erhöhen, dafür gehen wir das nächste Mal, wenn ich etwas brauche, ein bisschen tiefer.» Sulzer hat mich immer wieder über Otto Frey, einen Ingenieur und wunderbaren Menschen, zu den Autoren begleitet und hat dann Prototypen hergestellt für uns und so weiter. Frey hat stets so viel investiert, bis der Punkt kam, wo er nicht mehr konnte und er gesagt hat: «Jetzt musst du zur Technischen Kommission, ich kann kein Geld mehr in Produkte hineinstecken, bei denen ich nicht weiss, wie das funktioniert.» Die Beziehung zur Firma Sulzer war hervorragend, bis zum Amerikagang – das hat uns ruiniert.

Ingold: … die kommerzielle Denkweise, die Sie dann vor allem nach dem Kauf durch Sulzer beobachtet haben. Sie sagen, bei Protek der 1970er- und 1980er-Jahre sei kommerzielles Denken nicht wichtig gewesen.

Curradini: Nein.

Ingold: Um was ging es?

Curradini: Professor Müller hatte Protek als Mittel zum Zweck gebraucht. Für ihn war Protek seine Werkstatt, die seine Ideen umgesetzt hat, die seine Ausbildungskurse finanziert hat. Ich habe mit Professor Müller nie eine Diskussion gehabt: «Wie viel haben wir verdient? Warum machen wir ...» Wir haben zum Beispiel in verschiedenen Ländern Wiederverkäufer genommen. Wir hätten natürlich mit Filialen viel mehr verdient in der Konsolidierung. Müller hat immer wieder gesagt: «Du musst leben und leben lassen.» Er war auch der Meinung, dass das Geschäft in Italien die Italiener machen müssen und in Frankreich die Franzosen, nicht die Schweizer. Er betrachtete sich mehr als Arzt als Erfinder, als Philanthrop, als genialer Ideengeber. Heute weiss ich, was wir für ein finanzielles Potenzial gehabt hätten. Hätte Müller nur vier, fünf Jahre mit dem Verkauf gewartet, hätte er zehnmal mehr erhalten. Aber es war ihm nicht wichtig. Man hat das gesehen mit dem Klee-Museum. Was er dort gespendet hat, das hätte niemand gemacht. Er hat die Firma Protek verkauft und mit dem Geld ein Museum aufgestellt. Ich weiss nicht, wie ich das sagen soll. Ich glaube, sein Ego war ihm wichtiger als das Geld, viel, viel wichtiger. Er hat auch recht. Ob sie fünfzig Millionen haben oder siebzig oder neunzig, ändert an der Sache gar nichts. Wissen Sie, zwischen null und hundert ist viel, aber zwischen siebzig und achtzig ist nichts. Er war so.

Ingold: 1983 bis 1987 war Rolf Soiron der Direktor der Protek AG. Er versuchte, Unabhängigkeit von den Produzenten Sulzer und Mathys zu erreichen in der Produktion. Zum Beispiel wurde in Frankreich die Firma Vecteur Orthopédic aufgebaut, die 1987 den Betrieb aufnahm. Waren Sie da involviert in diese Vorgänge?

Curradini: Ja. Rolf Soiron, den ich sehr schätze und als hochintelligenten Manager anschaue, kam, so wie ich das verstanden habe, als erweitertes Mitglied der Familie Müller zu Protek. Ich habe das verstanden und habe die Operation als eine Strukturierung von Protek für die Nachfolger von Müller betrachtet. Die genauen Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern kenne ich nicht. Ich weiss, dass er versucht hat, in Paris eine kleine Firma zu gründen über eine Holdinggesellschaft in Luxemburg. Er hatte den Eindruck, dass das niemand merkt. Der Herr Deloison als Besitzer von Vecteur kam immer wieder nach Bern und hofierte Professor Müller. Die haben davon geträumt, im Versteckten über luxemburgische Besitzer eine eigene Linie zu fahren. Das hat sich dann aber nicht bewährt. Rolf Soiron hat den Fehler gemacht, dass er nur an die Prothesen gedacht hat: «Da musst du einfach eine Prothese nehmen und sie stanzen und dann ist sie da.» Das Problem war jedoch, es fehlten die ganzen Instrumentarien dazu, es fehlte die Schulung, es fehlte die Ausbildung. Die Frage war: «Warum soll ich die Prothese bei der Firma in Frankreich kaufen, wenn ich ein Schweizer Produkt habe?» – «Ah, die französische kostet 50 Euro weniger, das interessiert mich nicht.» Der Arzt bezahlt die Prothese nicht, das war nicht der Zweck. Soiron hatte auch die Idee, die Wiederverkaufsgesellschaften, also nicht die Filialen, die Vertriebsgesellschaften, an Protek zurückzukaufen. Aber er war der Meinung, dass die nichts wert seien, weil sie nur die Verkäufer von Protek waren. So entstanden sofort mit ein paar Ländern ein bisschen Probleme. Diese Leute sind zu Müller gegangen und haben gesagt: «Wir arbeiten seit zwanzig Jahren mit Ihnen, und jetzt kommt einer und will alles, was wir aufgebaut haben, gratis.» Soiron hat auch Ärzte angegriffen in einer Art und Weise – wie soll ich sagen – von relativ arrogant. Diese Ärzte waren mit Müller eng befreundet. Dann munkelte man, dass einzelne Familienmitglieder angefangen hätten zu fragen: «Ja aber, wo bringt der uns hin?» Plötzlich war die Geschichte vorbei. Ich weiss nicht mehr als das.

Ingold: Sie sind bei Protek geblieben, Sie haben die Übernahme durch Sulzer miterlebt. Das heisst, Müller war fast zwanzig Jahre Ihr Chef. Wie erinnern Sie sich an ihn als Chef?

Curradini: Wenn ich mir das herausnehmen darf, war die Beziehung zwischen mir und Müller mehr eine Vater-Sohn-Beziehung. Müller wusste genau, dass ich Protek geführt habe, wie wenn das meine Firma gewesen wäre, immer. Ich habe nie diskutiert oder nie widersprochen, ich habe höchstens meine Ideen auf den Tisch gebracht. Die hat er sofort abgelehnt – natürlich, und nach drei Tagen ist er wieder gekommen mit meinen Ideen und hat gesagt, es seien seine Ideen. Es war nicht eine Chef-Angestellter-Beziehung. Für Müller war ich der Geschäftsführer, der Ausläufer, der Chauffeur – ich war einfach alles –, so wie Sie heute Aldo gesehen haben, war ich das für Müller. Ich war da. Für ihn gab es keinen Sonntag, keinen Samstag, keinen Abend, keine Diskussion. Wenn ich gesagt habe: «Ich möchte mit Ihnen reden», hatte er geantwortet: «Also, isch guet, hüt am Abä am halbi zähni.» Ich habe von ihm viel gelernt. Natürlich hat die Welt, die um ihn war, ihn zu einer Figur überhöht – wie soll ich sagen –, man hat ihn so hochgehoben, dass er nicht mehr in der Realität gelebt hat. Es war nicht eine Gelddiskussion, es war immer eine Egodiskussion. Ich glaube, ich war sein Gewissen in vielen Bemerkungen. Zum Beispiel kamen Leute aus Portugal und haben gesagt: «Herr Professor, wir wollen eine Stiftung gründen auf Ihren Namen, die Stiftung Müller. Wir geben Ihnen dann den Doktor h. c. in Coimbra» und alle diese Geschichten.8 Da war der Müller hell begeistert. Ihn hat nicht interessierte, die Prothese zu verkaufen, sondern sein Ego zu befriedigen. Das war mein Nachteil, aber das war auch mein Vorteil. Ich habe mir sehr wahrscheinlich in der Geschäftsführung viele Fehler geleistet, die ich mit einem normalen Besitzer nicht überlebt hätte. Bei Müller war das problemlos. Ich ging zu ihm und habe gesagt, jetzt komme irgendein Problem, das wirklich ein Problem war. Er hat trotzdem von ganz anderen Sachen gesprochen. Es ist schwierig für Aussenstehende, nachzuvollziehen, warum wir so nicht verstanden haben, was wir für ein Potenzial hatten. Wir haben Wochenenden damit verbracht, einen Kadaver zu zerschneiden, in dieser Zeit hätten wir Millionen verdienen können irgendwo. Nein, das hat ihn nicht interessiert. Er war auch sehr nachtragend. Ich habe ihn erlebt mit Leuten wie Hansjörg Wyss. Plötzlich war der Hansjörg Wyss überall, der war in jedem Verwaltungsrat, der war in jeder Technischen Kommission, überall, und am nächsten Tag haben die zusammen nicht mehr gesprochen.

Ingold: Im Verwaltungsrat von Protek war Hansjörg Wyss auch einmal, Anfang der 1980er-Jahre?

Curradini: Ja.

Ingold: Er ging aber schnell wieder – das war die Zeit, als die AO reorganisiert wurde. Sie lachen.

Curradini: Es ging schnell. Er kam rein, kam zu mir, zu Protek, und wollte einen Schrank, in den er seine Sachen einschliessen konnte. Den habe ich ihm gegeben, und zwei Wochen später hat er mir wieder den Schlüssel gebracht. Der Hansjörg Wyss, hochbegabt, hochintelligent, praktisch mit null Franken hat er die Vertriebsrechte in Amerika gekauft von der AO-Synthes, dann hat er mit ein bisschen Geld Mathys gekauft und Stratec. Am Schluss hat er ein Riesenbusiness gemacht. Ich habe gerechnet, er hat 80 000 Franken investiert. Aber er war ein Geschäftsmann und hatte alles mit Leuten zu tun, die nicht Geschäftsleute waren. Müller, als er begriffen hatte, was das Spiel von Wyss war, hat versucht, Wyss wieder hinauszuwerfen. Aber es war zu spät. Die Figur Wyss war auch immer einer der Streitpunkte zwischen mir und Müller. Er hat aber und abermals versucht, Wyss schlechtzumachen. Ich habe immer wieder gesagt: «Intelligent ist er schon.» Und das hat ihm nicht gefallen.

Ingold: 1993, als Sie Protek verlassen, sind Sie Geschäftsführer der Italpro SPA, also der italienischen Vertriebsgesellschaft von Hüftgelenkprothesen, geworden. Sie hatten ja Italien verlassen, weil Sie keinen Wehrdienst leisten wollten. Das heisst, Italien hat ihnen inzwischen verziehen. Sie konnten zurück.

Curradini: Das dauert, bis man 26 Jahre alt ist. Man kann zwischen 18 und 26 nicht nach Italien. Ich konnte zum Beispiel nicht an die Beerdigung meiner Grosseltern gehen. Aber nach 26 ist es vorbei. Italpro – das Geschäft gehörte mir. Die Abmachung mit Müller war: «Du baust mir Protek auf und du kannst die Vertriebsrechte in Italien haben.» Ich habe ihm immer wieder gesagt: «Mein Traum ist, irgendwann nach Italien zurückzukehren.» So war Italpro meine Firma. Da ich als Präsident von Protek und Besitzer der Wiederverkaufsfirma in Italien Angst hatte, dass jemand denken könnte, ich tue dieser Filiale irgendwelche Gefallen, habe ich für Italpro immer die höchsten Transferpreise benützt. Ich habe bei Protek nie von Verträgen oder Abmachungen mit Italpro profitiert. Als wir dann zurück nach Italien kamen, hatte ich ein Gesundheitsproblem mit drei Kollapsen und ich wollte mein altes Leben nicht mehr. Das war ein Leben von zwanzig Nächten Hotel pro Monat. Also habe ich gesagt: «Ich habe Italien, das funktioniert perfekt, und gehe zurück.» Ich bin dann nach Italien zurückgekehrt, meine Frau ist nach Italien gegangen mit den Kindern, wir sind alle umgezogen. Ich habe das im Lebenslauf nicht geschrieben, ich bin in diesen drei Jahren drei Mal wieder zurück nach Bern, weil der Nachfolger, den sie als CEO gesucht hatten, nicht geeignet war, und ich musste wieder für sechs Monate einspringen, bis sie den nächsten gefunden hatten, und so weiter. In der Zwischenzeit vergingen vier, fünf Jahre, in denen ich weder in Italien noch in der Schweiz war, noch am Gardasee, sondern irgendwo, bis ich dann Sulzer gesagt habe: «Ich bin nicht mehr bereit, weiter hin- und herzufahren.» So bin ich wieder nach Italien gekommen. Dann hat mich aber Sulzer in unfairer Weise gezwungen, die Filiale in Italien an sie zu verkaufen. Sie hatten ja Allo Pro bereits gekauft, und mit Italpro hatten sie in Italien zwei Filialen, Italpro und Allo Pro. Die haben mir gedroht, wenn ich nicht verkaufe, liefern sie nur noch an Allo Pro und nicht mehr an Italpro. So habe ich die Firma in Mailand an Sulzer praktisch ausverkauft. Den Preis haben die gemacht, ich habe das Unternehmen verkauft. Dann haben sie dieses Produktproblem gehabt in Amerika, und Zimmer hat das Ganze unfreundlich an der Börse gekauft. Ich bin darauf bei Zimmer geblieben, aber es war eine kurze Liebe mit den Amerikanern. Ich war insgesamt 28 Jahre im Geschäft von Sulzer, Protek. Ich hatte auf jede Abgangsentschädigung verzichtet, war von heute auf morgen bei Zimmer ausgestiegen. Es war nicht meine Art und Weise. Kommt hinzu, dass ich zwar Präsident von Zimmer war, aber keine Verantwortung hatte. Bei den Amerikanern bist du wohl auf dem Papier Präsident, aber die Entscheidungen werden in Amerika getroffen.

Ingold: Wir haben eine Stunde zwanzig Minuten miteinander gesprochen.

Curradini: Ab jetzt kostet es etwas.

Ingold: Ich bin mit meinen Fragen durch.

Curradini: Ich auch, mich hat es gefreut, dass wir uns getroffen haben. Ich war gespannt, ich habe zu meiner Frau gesagt: «Ich weiss nicht, was die von mir wollen.»

Notes

1Es handelt sich um Alfred Daetwyler, der im Jahr 1961 in Liebefeld seine Privatpraxis eröffnet hatte. Vgl. Daetwyler: Daetwyler [Inserat], 1961. ↩︎
2Die Protek AG hob die Unterschriftsberechtigung von Madl 1980 auf. Gegenüber Kuttruff nannte Madl das Jahr 1983 als Datum seines Rücktritts. Vgl. Kuttruff: Anwender, 1996, S. 232; Protek AG: Protek AG, 1980, S. 3838. ↩︎
3Peter E. Ochsner schrieb: «Die Situation ist etwas komplexer. Der lineare Abrieb der 22er- und der 32er-Köpfe ist erstaunlicherweise ähnlich, was bedeutet, dass der effektive Abrieb wegen der grösseren Kontaktfläche bei 32er-Köpfen deutlich grösser ist. Andererseits ist die Luxationsrate wegen des im Verhältnis zur Kopfgrösse dickeren Halses bei 22er-Köpfen grösser.» E-Mail an Niklaus Ingold, 14.03.2023. ↩︎
4Zu Mansat siehe Kapitel «Die Protek AG und die Konsolidierung der Medizintechnikindustrie». ↩︎
5Zu Lorenzo Spotorno siehe Kapitel «Der Beitrag der Werkstoffforscher», Anmerkung 32. ↩︎
6 «CLS» steht für «cementless Spotorno». ↩︎
7Siehe Kapitel «Die Protek AG und die Konsolidierung der Medizintechnikindustrie». ↩︎