Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz
doi.org/10.36950/edv-mem-2023.3
Niklaus Ingold et al.

Der Beitrag der Werkstoffforscher

Interview mit Manfred K. Semlitsch und Claude B. Rieker

Dorf, 20.8.2021

Anwesend: Manfred K. Semlitsch, Claude B. Rieker, Peter E. Ochsner (Interviewer), Niklaus Ingold (Interviewer, Transkript)

Ingold: Herr Semlitsch, 1966 traten Sie in die Gebrüder Sulzer AG in Winterthur ein als Gruppenleiter Metallkunde.1

Semlitsch: Nein, das stimmt nicht. Gruppenleiter war Doktor Thomas Geiger.

Ingold: Dieser Thomas Geiger legte Ihnen eines Tages eine gebrochene Prothese auf den Tisch, die Herr Müller …

Semlitsch: 1969.

Ingold: Das war 1969?

Semlitsch: 1969.

Ingold: Müller hatte die Prothese einem Mitglied der Familie Sulzer eingepflanzt und dann wieder herausnehmen müssen …

Semlitsch: … in gebrochenem Zustand.

Ingold: Das war 1969 und das war das erste Mal, dass Sie mit einer Hüftgelenkprothese in Kontakt gekommen sind?

Semlitsch: Mit Hüftgelenkprothesen in Kontakt gekommen bin ich 1967 durch Herrn Doktor Hans-Georg Willert.2

Ingold: Wie startete die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Herrn Willert?

Semlitsch: Ich wurde von Doktor Geiger zugezogen. Er hatte eine Anfrage von Herrn Straehl, Doktor Willert zu unterstützen bei der Abklärung von histopathologischen Untersuchungen an Gewebeproben, die aus Patienten stammten mit implantierten Hüftprothesen, 1962 durch Herrn Doktor Huggler an der Balgrist-Klinik. Zum damaligen Zeitpunkt, 1967, war ja Doktor Huggler schon in Chur. Aber Doktor Willert hat in Zürich vorher am Pathologischen Institut sehr intensiv gearbeitet, bevor er zur Balgrist-Klinik gekommen ist, und das war für Herrn Willert ein gefundenes Fressen, dort diese reoperierten Prothesen mit Gewebe drum herum in grossen Gläsern vorzufinden. Dort hat Herr Willert dann die Gewebeschnitte, die Dünnschnitte, gemacht und hat mit seinem persönlichen Mikroskop mit Ein-Okular-Einblick die Gewebe sehr genau untersucht und ist auf Strukturen im Gewebe gestossen, die er sich nicht erklären konnte. Was das für Gelumpe sei – das war sein Ausdruck –, er möchte von Sulzer wissen, was das für Gelumpe sei, das er da sieht. Herr Straehl sagte, er möchte, nachdem Sulzer die metallischen Komponenten, sprich Schaft plus daran anschliessender 22-Millimeter-Kugel, hergestellt hatte – nicht die Pfannen –, möchte Herr Straehl, dass Sulzer dem Herrn Doktor Willert Unterstützung bietet. Und da hat Herr Geiger gesagt: «Der geeignetste Mann für diese Untersuchungen bei Herrn Doktor Willert wäre der Herr Doktor Semlitsch, der jetzt gerade fünf Jahre in Schweden auf dem Gebiet gearbeitet hat mit Röntgenfeinstruktur und Rasterelektronenmikroskopie. Sie können mit Herrn Semlitsch einen Termin vereinbaren zu einem Besuch an der Balgrist-Klinik in Zürich.» So hat das angefangen.

Ingold: Die Geräte, die Sie für diese Untersuchung brauchten, die waren bei Sulzer vorhanden oder die waren am Balgrist?

Abb. 1. Rasterelektronenmikroskop von Cambridge Scientific Instruments in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Sulzer 1973: Das Gerät diente der Untersuchung von Gewebeproben. Manfred K. Semlitsch hatte es vom Lieferanten mit zusätzlichen Instrumenten ausrüsten lassen, die der Analyse der chemischen Zusammensetzung der sichtbar gemachten Strukturen dienten. Eine Leica-M3-Fotokamera erlaubte unter anderem Aufnahmen vom Bild des Rasterelektronenmikroskops. Die Sulzer-Mitarbeiter nannten das modifizierte Gerät «Suleica» für «Sulzer-Leica-Cambridge». Foto: M. K. Semlitsch

Semlitsch: Nein. Ich hatte bei Sulzer im Metallkundelabor Metallmikroskope zur Verfügung, ausserdem Röntgenapparaturen zur Röntgenfeinstrukturuntersuchung, und Herr Geiger hat mir freie Hand gelassen, Untersuchungen mit der Elektronenstrahlmikrosonde an der EMPA3 zu machen in Mikrobereichen von fünf Mikrometern. Wenn es um rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen ging, hatte ich Zugang zur ETH am Hönggerberg. Diese vier Geräte, Röntgenfeinstruktur, Metallmikroskopie, Elektronenstrahlmikrosonde und Rasterelektronenmikroskopie, neben den chemischen Analysen von Gewebeproben, die habe ich alle zusammengeführt und Herrn Willert in einem Gespräch in einem Zürcher Park auf einer schönen Bank bei Sonnenschein auseinandergesetzt und erklärt, wie ich gedenke, dass wir das Problem angehen mit den Dünnschnitten, die kein Deckblättchen haben dürfen, weil ich sonst mit dem Elektronenstrahl nicht dazu komme. Da haben wir die Arbeitsmethode entwickelt von drei Dünnschnitten. Der unterste Schnitt und der oberste Schnitt waren für die Lichtmikroskopie mit Deckblättchen und der mittlere Schnitt war ohne Deckblättchen geeignet zur Untersuchung mit dem Elektronenstrahl in der Elektronenstrahlmikrosonde und im Rasterelektronenmikroskop. Das war mein Vorschlag, um an das Problem heranzugehen. Nachdem die Dünnschnitte sehr dünn waren, war man sicher, dass das Gelumpe sich über alle drei Schnitte gleich verteilt, sodass man lichtoptisch die Kontrolle darüber hat, was sich dazwischen befindet. Diese Methode hat sich bewährt.

Ingold: War diese Elektronenstrahlmikrosonde, die Sie eingesetzt haben, war das eine neue Technologie damals?

Semlitsch: Das war eine metallkundliche Entwicklung aus England und aus Frankreich. An der EMPA hat man sich für eine Mikrosonde aus Frankreich namens CAMECA entschieden. Die CAMECA-Mikrosonde hatte einen sehr flachen Abnahmewinkel an der Stelle, die man untersucht hat. Dadurch konnte man das ganze Periodensystem praktisch abdecken. Also der Elektronenstrahl ist senkrecht auf die Probe gefallen und die Röntgenfluoreszenzstrahlung, die von der Probe ausgegangen ist, wurde dann mit Detektoren je nach den Elementen, die man untersuchen wollte oder vermutet hatte, analysiert und bildlich dargestellt.

Ingold: So kamen Sie dem Gelumpe auf die Spur?

Semlitsch: Ja. Absolut.

Ochsner: Was war dann das Gelumpe?

Semlitsch: Das Gelumpe waren Glimmerpartikelchen, die man dem Teflon für die Pfanne zugesetzt hatte, damit sie verschleissfester wird. Diese Glimmerpartikelchen haben abrasiv auf die hochglanzpolierte Metallkugeloberfläche gewirkt, sodass man Glimmer nachweisen konnte, also Silikat und Kobalt-Chrom von der Metallkugel.

Ochsner: Und Teflon?

Semlitsch: Teflon war immer vorhanden in Form von Fluor.

Ingold: Wie lange haben Sie gebraucht für diese Untersuchung?

Semlitsch: 1967 habe ich den Besuch in der Balgrist-Klinik gemacht. Herr Willert hat mich mit dem Lift in sein Büro im obersten Stockwerk geführt. Mit einem Griff unter sein Bett hat er das Zeiss-Mikroskop hervorgezogen, es auf seinen Tisch gestellt, die Proben daruntergeschoben und mir dann das Problem erklärt, welches Gelumpe er gerne untersucht hätte. Das war 1967. Die erste Publikation war 1971 mit einem Vortrag von mir in Graz an einer mikrochemischen Tagung – das war 1970. 1970 war der Vortrag und 1971 ist es publiziert worden, «Gewebsveränderungen im Bereich metallischer Hüftgelenke. Mikroanalytische Untersuchungen mittels Spektralphotometrie, Elektronenmikroskopie und der Elektronenstrahl-Mikrosonde».4 Wir hatten damals dieses Modell von Huggler, nämlich reoperierte Prothesen mit Gewebe drum herum in Form von Gewebestücken. Und dann hatten wir noch Prothesen mit Metall-Metall-Paarung. Dort hatte es fast keinen Abrieb gegeben. Das konnten wir auch nachweisen. Das war praktisch eine Sensation. Aber die ist gar nicht wahrgenommen worden.

Ochsner: Ach ja?

Semlitsch: Nein.

Ingold: Weshalb nicht?

Semlitsch: Weil sie hier publiziert worden ist.

Ingold: Am falschen Ort, in einer Zeitschrift für Mikrochemie und nicht in einem medizinischen Zusammenhang. Jetzt sind wir vom Jahr 1967 zum Jahr 1970 gesprungen. Wir waren vorher noch kurz im Jahr 1969, weil meines Wissens Thomas Geiger Ihnen da eine gebrochene Prothese, die Müller eingepflanzt hatte, auf den Tisch …

Semlitsch: Implantiert bei einem …

Ingold: Mitglied der Sulzer-Familie.

Semlitsch: Das hat natürlich einen enormen Ausschlag gegeben für die oberen Manager in der Sulzer-Leitung, dass es auch uns treffen kann, mit so etwas konfrontiert zu werden.

Ingold: Das war für Sulzer zu diesem Zeitpunkt etwas komplett Neues, dass man in die Medizintechnik einsteigt und dass Produkte, die man hergestellt hat, im Menschen zu Problemen führen können. Das war für die Sulzer-Konzernleitung eine komplett neue Problemlage?

Ochsner: Oder eigentlich ein Glücksfall.

Semlitsch: Ich würde sagen, mit der Produktpalette, über die Sulzer damals verfügt hat, späte 1960er-Jahre, 1970er-Jahre, das war die Hochblütezeit von Sulzer überhaupt, war man verwöhnt, grosse Dinge zu schaffen. Und eine Hüftprothese mit einer Kugel, die liegt sehr nahe an Weihnachtsbaumkugeln, wie sich der Giessereileiter ausgedrückt hat: «Diesen Christbaumschmuck müssen wir nicht produzieren.» Das war seine Aussage. Herr Straehl, der Leiter der Präzisionsgiesserei war, hat null Unterstützung von seinem obersten Chef gehabt. Der Giessereileiter hat ihm sogar eine Kündigung geschrieben und Herrn Straehl durch einen anderen Mann aus der Giesserei ersetzt. Aber Herr Straehl wusste, dass der Giessereileiter nicht korrekt gehandelt hatte, ist bis an die Leitung Georg Sulzer gegangen und dort wurde der Giessereileiter dann zurechtgewiesen, dass es so nicht geht.

Ingold: Wie haben Sie die gebrochene Prothese dieses Mitglieds der Familie Sulzer untersucht?

Semlitsch: Metallkundlich.

Ingold: Das heisst?

Semlitsch: Das heisst: Stimmt die chemische Analyse des eingesetzten Werkstoffes? Ist die Gefügestruktur in Ordnung? Beides konnte ich mit Ja beantworten. Dann ist es darum gegangen, die Art der Bruchoberflächen zu untersuchen. Ist es ein Gewaltbruch oder ein Ermüdungsbruch? Es war ein Ermüdungsbruch zufolge Überbeanspruchung der Prothese im gelockerten Zustand im Zementbett. Für diese Untersuchung habe ich ungefähr zwei Monate gebraucht, einen dicken Bericht geschrieben. In der Konsequenz der Untersuchungsresultate war die abschliessende Bemerkung in der Zusammenfassung: «Gusslegierungen sind für derart hoch beanspruchte Teile im Patienten ungeeignet und müssen durch geschmiedete Strukturen ersetzt werden.»

Ingold: Sie zeigen mir eine Prothese, das heisst, man hat bei Sulzer diesen Befund aufgegriffen und entsprechend die Produktion geändert – nein?

Rieker: Zu einfach.

Ochsner: Es ging damals um die Bogenschaftprothese.5 Nicht um die, die war erst 1977.

Abb. 2. Müller-Bogenschaftprothese mit einem Kopfdurchmesser von 22 Millimetern. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 14823

Semlitsch: Bogenschaftprothese.

Ochsner: Genau. Und dann war es ja immer so: Die Prothesenspitze wurde im festen Zement festgehalten und brach oberhalb. Auch der Wechsel der Gusslegierung – von Protasul-1 auf Protasul-2 – brachte die Ermüdungsbrüche nicht zum Verschwinden.6

Semlitsch: Wie Huggler zu Sulzer gekommen ist 1961, hatte die Präzisionsgiesserei eine Legierung, Kobalt-28%Chrom-6%Molybdän-0,2%Kohlenstoff [Co-28Cr-6Mo-0,2C], als Gusslegierung mit der Bezeichnung WF101, WF für warm-feste Legierung. Die ist eingesetzt worden für Komponenten, die hohen Temperaturen ausgesetzt worden sind. Unter anderem für Maschinengewehrläufe – wenn Sie ein Maschinengewehr für die Schweizer Armee sehr stark beanspruchen, dann kann der Maschinengewehrrohrlauf bis zur Rotglut erhitzt werden. Dann haben Sie die Möglichkeit entweder den Beschuss zu unterbrechen oder darauf zu urinieren. Mit der WF101-Legierung hat Herr Straehl dem Herrn Huggler die ersten zwanzig Hüftprothesen 1961 geliefert, die dann Herr Huggler ab 1962 im Balgrist implantiert hat. Diese Legierung hat Herr Straehl für die Prothesen nicht WF101 genannt, sondern Vitasul. «Sul» für Sulzer und «Vita» für das Leben. Herr Straehl hatte einfach schon in den 1950er-Jahren einen Bezug zu Hüftprothesen von Hausmann in St. Gallen, welche die Firma Hausmann zur damaligen Zeit von der Firma DePuy aus den USA bezogen hat. Und nachdem Herr Straehl damals zu wenig Aufträge hatte für die Präzisionsgiesserei, hat er einen Vorstoss bei der Firma Hausmann in St. Gallen gemacht in den 1950er-Jahren und stellte Muster her, die Hausmann aber nicht befriedigt haben.

Ingold: Ich glaube, Kuttruff schreibt über diesen Vorgang.7

Semlitsch: Der schreibt darüber, ja.

Ingold: Sie erwähnen verschiedene Akteure: Straehl, Huggler, Sie selbst dann später, Müller, Willert. Was mich hier interessieren würde, ist, wie man sich konkret die Zusammenarbeit zwischen diesen Menschen mit unterschiedlichen Expertisen vorzustellen hat. Also als Motoren hinter dem Ganzen stell ich mir die Orthopäden vor. Leute wie Huggler, Weber, Müller treten auf und sagen: «Wir wollen jetzt – Charnley hat es in England gemacht – auch Hüftgelenkprothesen, Totalprothesen, einpflanzen können.» Und sie beginnen mit eigenen Entwicklungen. Wie geht das dann weiter, von diesem Willen, eine Prothese zu entwickeln, bis die entsprechenden Produkte auf den Medizintechnikmarkt gebracht werden? Wer arbeitet wie zusammen? Wer beginnt? Wann kommt wer dazu? Wann kamen Sie dazu?

Abb. 3. Charnley testete die Reibung zwischen seinen Hüftgelenkkomponenten mit einem Pendelversuch. Die Implantate befinden sich im oberen Bildbereich. Foto: M. K. Semlitsch

Semlitsch: Gehen wir zurück in die 1950er-Jahre. In den 1950er-Jahren sind bevorzugt in England die ersten Totalhüftprothesen entwickelt worden. Der erste war McKee in Norwich und der zweite war Charnley in Wrightington, der McKee Schotte, Charnley Engländer. McKee hat am Anfang mit der Firma Down Brothers zusammengearbeitet. Und Charnley hat mit Thackray zusammengearbeitet. Ich gehe jetzt zu Charnley über. Charnley war der Ansicht, McKee ginge einen falschen Weg, weil die Metall-Metall-Paarung eine höhere Reibung hat, die ungünstig ist für die Bewegung der Hüftprothese im implantierten Zustand beim Patienten. Charnley hatte immer die Vorstellung, es muss Low Friction sein, also möglichst niedrige Reibung, damit sich die Prothese im Körper leicht bewegt. Teflon wurde nach Information Charnleys durch Techniker bevorzugt im Brückenbau eingebaut. Zum Ausgleich von Temperaturunterschieden zwischen Brückenelementen wurden Teflonplatten eingelegt zwischen die Metallplatten, weil sich das leicht, mit geringer Reibung, verschoben hat. Das war die Idee von Charnley: Wenn das dort funktioniert, müsste es auch bei Prothesen funktionieren. Charnley hat meines Wissens, so wie ich durch die Literatur informiert bin, sich selbst Teflonstücke implantiert, um zu beobachten, ob sich das negativ im Körper auswirkt. Es hat sich nicht negativ ausgewirkt. Deshalb hat Charnley ungefähr dreihundert Prothesen mit Teflonpfannen implantiert.

Wichtig für ihn war, dass die Kugel möglichst klein war. Je kleiner die Kugel, desto weniger Abrieb gibt es. Er hat diese 22-Millimeter-Stahlkugeln gegen die Teflonpfannen laufen lassen und hat Thackray in unzähligen Briefen immer bearbeitet, wie teuer diese Komponenten sein dürfen. Also Charnley hat bestimmt, welchen Preis Thackray für die Teile verlangen darf, damit auf einer vernünftigen finanziellen Basis sich das Ganze abspielt. So hat Charnley Thackray praktisch im Griff gehabt. Charnley war der Meinung, eine Hüftprothese darf nicht teuer sein. Deshalb die Wahl von rostfreiem Stahl mit der Bezeichnung AISI-316L – das war praktisch der Stahl, der im Körper einigermassen korrosionsbeständig war. Charnley musste aber dann feststellen, dass es seinen Patienten im Laufe von einigen wenigen Jahren nicht gut gegangen ist. Im Röntgenbild hat er dann ein katastrophales Fortschreiten der kleinen 22-Millimeter-Kugel in der Teflonpfanne in die Hauptbeanspruchungsrichtung festgestellt. Seine Frau schilderte anderen Orthopäden, dass er schweissgebadet in der Nacht aufgewacht ist, dass er jetzt 300 derartige Fälle zu reoperieren hat: «Was hab ich angestellt!»

Zu dem damaligen Zeitpunkt, das war 1960/61, hat Charnley natürlich nicht grosse Propaganda gemacht dafür, dass er da eine neue Totalprothese nach McKee entwickelt hat, sondern Charnley hat das Ganze so betrachtet, dass es sein eigener Versuch ist, und hat diese Prothesen, solange er nicht selbst überzeugt war, während mindestens fünf bis sieben Jahren nicht freigegeben. Zu dem Zeitpunkt sind aber Orthopäden wie Weber zu Charnley gegangen. Weber wusste damals nicht, wo er Fuss fassen sollte, hat als Schiffsarzt gearbeitet, mit seiner Frau Reisen gemacht und aus der Literatur von der Charnley-Prothese gehört. Er ist zu Charnley nach Wrightington hingefahren, hat dort mitgearbeitet im Operationssaal, sich alles zeigen lassen und ist nach einigen Monaten, nachdem er dann durch Maurice Müller nach St. Gallen als Oberarzt engagiert worden war, nach St. Gallen gefahren. Er hat Maurice Müller von dem, was er in Wrightington bei Charnley gesehen hat, erzählt mit Fotos, alles dargestellt. Müller war interessiert. Weber sagte Maurice Müller: «Ich hab auch schon eigene Ideen, wie man eine Prothese nach Charnley modifizieren könnte, dreiteilig», und hat seine Skizzen Maurice Müller hingelegt mit einer rotierenden Kugel. Wenn sie verschleisst, kann man den Verschleissteil austauschen und durch eine neue Kugel ersetzen. Maurice Müller sagte: «Du hast mit Prothesen nichts zu tun, das ist Chefsache.» Maurice Müller hat als Gründungsmitglied der AO mit Willenegger, Allgöwer, Robert Schneider und wie sie alle heissen Mathys, der die AO-Produkte am Anfang produzierte, kontaktiert und hat sich in den 1960er-Jahren aufgrund der Bilder, die ihm Hardy Weber gezeigt hat, Charnley-ähnliche Prothesenschäfte machen lassen aus rostfreiem Stahl mit Teflonpfannen, und hat 1961 bereits als erster Orthopäde in der Schweiz implantiert – vor Huggler, der auch in den 1960er-Jahren bei Charnley war im Auftrag von Francillon, seinem Chef an der Balgrist-Klinik, um sich Ratschläge für sein Arbeitsgebiet zu holen, wie Huggler in seinem Buch beschreibt.8

Ingold: Darf ich nochmals auf den Kontakt Weber-Müller zurückkommen? Müller startet in St. Gallen im November 1960 und implantiert die erste Hüftgelenkprothese im Februar 1961. Weber kommt auch per Anfang November 1960 nach St. Gallen zu Müller, vorher konnte Müller die Leute gar nicht einstellen. So wie Sie das von Weber gehört haben, hatte Müller, bevor Weber ihm die Skizzen von Charnley gezeigt hatte, noch keine eigenen Entwürfe für Prothesen. Also hat eigentlich Weber Müller weitergebracht oder überhaupt angestossen …

Semlitsch: Angestossen.

Ingold: Sie sagen, Weber hat Müller angestossen, eine Prothese zu entwickeln.

Semlitsch: Es wurde Weber von Müller verboten, nach der Skizze, die er auf der Reise von Wrightington nach St. Gallen angefertigt hatte, eine eigene Prothese zu entwickeln.

Ingold: Robert Mathys war in der Lage innerhalb von drei Monaten eine Prothese …

Semlitsch: Das war für Mathys kein Problem.

Rieker: Ich habe das etwa so gehört: Damals hatte G[eneral] M[otors] eine Autofabrik in Biel gehabt. Eine solche Artikulation wie bei einer Prothese hat man auch beim Rückspiegel eines Autos. Ich habe gehört, dass Mathys damals ein Unterlieferant für GM in Biel gewesen sei, um diese Artikulation für Rückspiegel zu machen. Deshalb war es für ihn ein relativ kleiner Schritt von einer Stange zu einer Prothese. Ob das stimmt, weiss ich nicht.

Semlitsch: Mathys war extrem flexibel, weil er der Inhaber der Firma war, der alles bestimmt hat und selbst Hand anlegte. Wenn er einen weit entfernten Ort besuchen musste, hat er sein Flugzeug genommen und ist mit dem Flugzeug hingeflogen. Mathys war der ideale Partner für Maurice Müller, um Sachen zu realisieren.

Ingold: Dann entstand diese erste Müller-Prothese durch den Kontakt zwischen einem Orthopäden und einem Mechaniker. Später kamen aber solche Leute wie Sie dazu, die viel mehr Wissen über Materialien und neue Testverfahren einbringen konnten.

Semlitsch: Ich möchte jetzt noch einmal zurückgehen. Anscheinend war Weber vor Huggler bei Charnley. Huggler sollte Probleme abklären, die sie an der Balgrist-Klinik hatten mit einer Operationsmethode an der Hüfte, die Charnley eingeführt hatte. Charnley hat ihm wertvolle Tipps gegeben, wie er das besser machen kann. Bei der Gelegenheit hat Huggler dann auch noch von Charnley gezeigt bekommen, was Charnley sonst noch macht, und wurde plötzlich mit der Charnley-Prothese konfrontiert – er hat grosse Augen gemacht, hat alles fotografiert, hat sich im Labor alles zeigen lassen. Charnley hat zu dem Zeitpunkt zu seiner zweiten Serie Teflonpfannen Glimmer beigemischt und hat diese Pfannen Flurosint genannt. Diese Flurosintpfannen waren dann noch schlechter als die Teflonpfannen, weil sie zusätzlich Metallabrieb produziert haben. Flurosintpfannen: Mit der Idee ist Huggler nach Zürich gegangen, hat das Francillon gezeigt und hat von Francillon freie Hand bekommen, eine ähnliche Charnley-Prothese für die Balgrist-Klinik zu realisieren, nachdem sich Charnley geweigert hatte, die Prothese von Thackray an jemanden Dritten zu liefern. Er wollte das bei sich behalten, solange er unsicher war. Also hat der Huggler einen Partner gesucht, der ihm so etwas produziert. Kuttruff beschreibt das nach dem Interview von Huggler sehr genau in seiner Dissertation, wie er durch Zufall bei einer Neujahrsparty einen Sulzerianer trifft und ihn fragt, wen er da bei Sulzer kontaktieren soll. Da wird ihm der Doktor Felix, der war der Vizedirektor von der Abteilung Forschung und Entwicklung bei Sulzer mit 300 Personen, empfohlen. Huggler nimmt Kontakt auf, 1961, zum Zeitpunkt, wo Müller bereits die Charnley-Typen, hergestellt bei Mathys, implantiert.

Ingold: Wir können an dieser Stelle auf Kuttruff verweisen.9 Wie der Kontakt von Huggler zu Sulzer zustande kam, ist da sehr gut beschrieben. Ich möchte auf etwas anderes fokussieren: Wir haben das Gespräch damit begonnen, dass Herr Willert Ihre Hilfe braucht und dass Sie angesprochen werden wegen einer gebrochenen Müller-Prothese. Aber das waren Einzelfälle. Wann wurden Sie sozusagen standardmässig in die Entwicklung – nicht in die Problemlösung oder Problemanalyse – von Prothesen einbezogen? Wann waren Sie und Ihre Expertise standardmässig mit dabei, wenn Müller, Huggler oder Weber einen neuen Entwurf umgesetzt haben wollten. Ab wann durften Sie da mitreden? – Wie hat man sich die Arbeitsteilung vorzustellen zwischen …

Semlitsch: Also, ich komm nochmal auf die Orthopäden zu sprechen. Ich habe die Charaktere der verschiedenen Orthopäden sehr genau miteinander verglichen. Die Charaktere waren wie Tag und Nacht. In der Schweiz hat es einen Huggler gegeben, in der Schweiz hat es einen Weber gegeben, in der Schweiz hat es einen Müller gegeben, einen Gschwend, einen Scheier,10 einen Schneider – die waren so grundverschieden. Wenn ich sie verglichen habe mit den Engländern, das war nochmal wie Tag und Nacht. Die Engländer waren immer darauf bedacht, die Produkte niedrig im Preis zu halten, und bestimmten, wie teuer eine Prothese zu ihnen geliefert werden darf vom Hersteller aus. Das war in der Schweiz anders. Die Schweizer waren gut im Prozentrechnen. Da hat die sogenannte Zwei-Prozent-Regel gegolten – in Anführungszeichen. Doppelter Preis ist zwei Prozent. Das sagt alles. Deshalb waren die Schweizer Prothesen immer so teuer. Ich stand stets zwischen Hammer und Amboss, weil sich die Leute immer beschwert haben: «Wieso müssen die Prothesen aus der Schweiz so teuer sein?» Die Vertreter der Firmen Protek und Allo Pro haben sich bei mir beschwert, warum sie die Prothesen nicht billiger verkaufen können. Dann sagte ich: «Schlagt einfach bei Protek und Allo Pro nicht zwei Prozent auf, dann sind sie gleich preiswerter.» Also das war bei englischen Prothesen nie der Fall, darum konnte man mit einer Charnley-Prothese überhaupt nie konkurrieren. Es ging oft so, dass eine Bestellung von Sulzer in einem grossen Paket nach Bern geschickt wurde, dort wurde nur umgepackt und mit dem doppelten Preis an die Klinik weitergegeben. Von diesen zwei Prozent haben sie gut gelebt. Mit diesem Problem, mit diesen Jammereien war ich immer konfrontiert. Ich habe gesagt: «Ganz einfach, ihr müsst nicht den doppelten Preis verlangen.» Ich habe das unfair gefunden, den Patienten gegenüber.

Ingold: Wenn ich Sie richtig verstehe, war die Kalkulation: Es gibt Produktions- und Entwicklungskosten und die hat man verdoppelt.

Semlitsch: Und in der Klinik vielleicht noch einmal den Patienten gegenüber. Zum Beispiel ist eine Keramikkugel bei Feldmühle in Plochingen hergestellt worden, nach Winterthur gekommen, geprüft, dokumentiert, wir mussten sie steril verpacken und das hat einen gewissen Preis gegeben. Die Kugel ist in Winterthur mit hundert Franken weitergegeben worden. In Hongkong bin ich gefragt worden: «Können Sie mir erklären, Herr Doktor Semlitsch, wieso eine Keramikkugel 3000 – dreitausend – Dollar kosten muss.» «Ja», habe ich gesagt, «wissen Sie, die Keramikkugel ist so schwierig zu bearbeiten, das erklärt am Schluss den Preis.» Etwas anderes ist mir nicht eingefallen. Es hat zum Beispiel den Fall gegeben, dass eine Keramikkugel bei Protek für 600 Franken verkauft worden ist, und die Firma Zimmer in den USA hat sie für 300 Dollar verkauft, weil die Firma Zimmer die Kugel direkt von Plochingen bezogen hat, die Firma Protek hat die Kugel über die Firma Sulzer Winterthur bezogen und die ist dann für 600 Franken an die Klinik weitergegangen. Also es waren haarsträubende Methoden in der Kalkulation am Tun.

Rieker: Ich habe das auch in den frühen 1990er-Jahren erlebt. In Frankreich merkte die Securité Sociale, dass die gleiche Prothese manchmal – ich sage das jetzt in Euro, obwohl es damals in Franc war – am Unispital Lille 500 Euro kostete und am Unispital Marseille 1200 Euro. Das war so, weil ein Orthopäde in Marseille mit Freunden oder mit seiner Frau eine kleine Firma gegründet hat. Das heisst, wir von Protek verkauften an unsere Distributoren. Zwischen Distributoren und Spital schob sich aber noch diese Zwischenfirma des Orthopäden und die hat auch mit dieser Zwei-Prozent-Regel oder mit einer anderen Regel gerechnet. Deshalb waren die Preise von Prothesen in Frankreich sehr unterschiedlich. Vermutlich 1994/95 hat die Regierung in Frankreich gesagt: «Jetzt basta.» Sie haben Kategorien gemacht, zementierte Prothesen, Monoblock und so weiter, und Maximalverkaufspreise festgelegt, um diese Zwischenhändler neutralisieren zu können. Aber das war häufig, dass Leute so etwas gemacht haben. Da war Willi Frick, der hat die gleiche Übung gemacht mit Korea.11 Das war eine wilde Zeit und die Preise gingen in alle möglichen Richtungen.

Ingold: Gab es in der Schweiz auch einen Moment, wo eine solche Regulierung von staatlicher Seite …

Rieker: Nein, ich vermute nicht.

Ochsner: Man muss das relativieren. Ich kann mich nicht erinnern, dass nach der Übernahme von Protek und Allo Pro durch Sulzer die Prothesen auch nur einen Franken billiger wurden. Das stimmt nicht.

Semlitsch: Kann ich Ihnen erklären.

Ochsner: Ja, die wollten den Profit selbst behalten.

Rieker: Natürlich.

Semlitsch: Kann ich Ihnen erklären. Das war immer ein Dorn im Auge der Sulzer-Manager: «Wieso sollen wir nicht auch den eigentlichen Gewinn bei den Prothesen auf unser Konto schreiben? Übernehmen wir doch Allo Pro und Protek in Sulzer Medica.»

Ochsner: Das weiss ich alles auch. Nur verstehen Sie, es gibt natürlich einen zweiten Aspekt. Dass grundsätzlich die Weiterentwicklung enorm viel kostet.

Semlitsch: Bei wem?

Ochsner: Bei der Firma Protek hat man enorme Gelder investiert für Institute und so weiter, bei denen Forschung gemacht wurde, relativ frei gegenüber der Produktion von Prothesen. Aber es wurde reinvestiert.

Semlitsch: Aber nicht in Prothesen.

Ochsner: Also das MEM-Institut für Biomechanik in Bern hat Forschungsaufträge für Protek erledigt.

Semlitsch: Mit Herrn Niederer?12

Ochsner: Die hatten eine Zusammenarbeit.

Semlitsch: Hm?

Ochsner: Die hatten eine Zusammenarbeit, Herr Niederer mit dem MEM-Institut für Biomechanik.

Semlitsch: Also Herr Niederer hat relativ bescheidene Beiträge geleistet.

Ingold: Herr Semlitsch, könnten wir etwa in das Jahr 1970 zurückspringen. Jetzt waren wir schon bei den Übernahmen, schon in den späten 1980er-Jahren. Ab wann wurden Sie standardmässig einbezogen, wenn Sulzer einen neuen Prothesentyp entwickeln wollte?

Semlitsch: Also, Herr Straehl hat als Erster erkannt, Ende der 1960er-Jahre, dass es so nicht weitergehen kann. Wenn wir uns schon mit Endoprothesen engagieren wollen, dann müssen wir mehr Forschung und Entwicklung bei uns in das Produkt, in die Werkstoffentwicklung, investieren. Herr Straehl war durch diese Tätigkeit, die ich mit Herrn Willert von 1967 bis 1971 und dann bis zum Jahre 1997 betrieben habe – total dreissig Jahre –, so beeindruckt, dass er mich gefragt hat Ende der 1960er-Jahre, ob ich die Leitung der Entwicklung von Werkstoffen in der zu gründenden Abteilung Medizinaltechnik übernehmen würde. Ich habe zugesagt, war aber blöd genug, nicht das doppelte Salär als Ausländer zu verlangen.

Ingold: Keine zwei Prozent.

Semlitsch: Nein. Die Zwei-Prozent-Rechnung hatte ich nie verinnerlicht, für mich am allerwenigsten. Ich habe zugesagt und habe mit dem Bericht über die gebrochene Prothese, die 1969 in meine Hände gekommen ist, dann den Auftrag bekommen, das zu realisieren, was ich vorgeschlagen habe. Die Prothesen nicht in einem wie bisher wirtschaftlich interessanten Gussprozess herzustellen, wo man mit einem Guss gerade zwei Dutzend Prothesen am Giessstamm hat und sie nur abschneiden muss, sondern sie einzeln, aus einem Stangenabschnitt zu schmieden in mehreren Schritten. Das war meine erste Leistung, die ich zur Rettung der Medizinaltechnik eingeleitet hatte. Sonst wäre sie damals bachab gegangen.

Ingold: Gab es bestimmte Verfahren, mit denen Sie getestet haben, ob die nach den neuen Vorgaben gefertigte – geschmiedete – Prothese tatsächlich das hält, was Sie sich versprochen haben? Wie haben Sie diesen neuen Prothesentyp getestet?

Semlitsch: Nachdem ich mich als Chemiker in Schweden fünf Jahre metallurgisch schlau gemacht hatte neben meiner Röntgenfeinstruktur-Untersuchungstätigkeit, wusste ich, dass im Prinzip bei der gleichen Legierung der geschmiedete Zustand, wenn er perfekt gemacht worden ist, die doppelte Ermüdungsfestigkeit hat wie jeder Gusszustand. Das wusste ich. Also war die Chance gross mit einer hochfesten Schmiedelegierung aus den USA, das war die Legierung MultiphaseAlloy35N [MP35N Alloy] von der Firma Latrobe: Kobalt-35%Nickel-20%Chrom-10%Molybän [Co-35Ni-20Cr-10Mo]. Ich habe dann noch darauf bestanden, dass ein Prozent Titan dazukommt, zu besseren Verschmiedbarkeit. Der Herr Straehl hat in Konkurrenz zur Firma Straumann einen Exklusivvertrag in den USA abgeschlossen zur Verwendung von dieser Legierung für Implantate in Europa. Er ist Straumann zuvorgekommen um ungefähr einen Monat. Ich habe die ersten Stangen bekommen, und da ich neben meinem Studium 36 Monate Werkstudent in der steirischen Industrie gewesen war, unter anderem auch in Metall verarbeitenden Industrien, wusste ich mit Arbeitern in der Produktion gut umzugehen. Ich bin einfach in die Schmiede gegangen, zum Werkmeister Burren, und habe gesagt: «Das ist ein hochfestes Material aus Amerika. Machen Sie mir aus dem Stangenabschnitt diese Prothese.» Der Meister Burren hat sich hingestellt, hat das frei geschmiedet. Ich habe gesagt: «Nehmen Sie ungefähr eine Temperatur von 750 Grad.» Der hat das frei geschmiedet, ich bin mit etwa zwanzig Stück von diesen frei geschmiedeten Schäften ins Labor gegangen, habe im Sulzer Forschungslabor Kontakt aufgenommen mit Herrn Panic, der war in der Abteilung Festigkeit, und der hat mir aus den Proben, die Herr Burren geschmiedet hatte, Umlauf-Biegeproben gemacht. Diese Umlauf-Biegeproben werden in eine Testmaschine getan, welche die Proben unter Belastung zig Millionen Mal rotiert, bis sie brechen. Da nimmt man dann eine Wöhlerkurve auf, und diese Kurve zeigt, wo die Ermüdungsfestigkeit liegt. Bei allzu hoher Beanspruchung brechen die Proben vorher. Wenn die Beanspruchung dann etwas abnimmt, läuft die Kurve horizontal aus, und das ist die Ermüdungsfestigkeit. Wenn ein Gussschaft eine Ermüdungsfestigkeit von zweihundert Newton pro Quadratmillimeter hat, hat ein Schmiedeschaft sechshundert Newton pro Quadratmillimeter. Das war meine Vision, zwei- bis dreifache Ermüdungsfestigkeit. Mit einem Schmiedeschaft aus Protasul-21WF, den ich für Weber entwickelt hatte, bin ich sogar auf achthundert Newton pro Quadratmillimeter gekommen. Das war dann die Meisterleistung meiner Entwicklungen. Da wusste ich: «Das ist der Weg, den wir gehen müssen.» Danach wurde der erste Auftrag von Herrn Straehl an Latrobe gegeben, in grösserer Menge waren das Tonnen. Darauf wurden die ersten Hüftprothesen geschmiedet. Der Produktionsleiter, Otto Frey, Gott habe ihn selig, ist Sturm gelaufen gegen die Schmiedeprothese. Weil er hundertprozentiger Giesser war. Von dem Zeitpunkt an, wo ich die Schmiedeprothese empfohlen, entwickelt und propagiert habe, war innerhalb der Sulzer Medizinaltechnik der Herr Otto Frey mein absoluter Kontrahent. Alles, was ich vorgeschlagen habe, hat er abgelehnt, weil das seinen Produktionsablauf wieder gestört hat. Ich habe das ungefähr so gelöst, dass ich zu jeder Neuentwicklung einen Bericht geschrieben habe und bei den wöchentlichen Konferenzen, die wir in der Medizinaltechnik hatten, habe ich dann beim Hinausgehen ein Exemplar von dem Bericht dem Herrn Frey gegeben, und so konnte er das «nacherfinden». Wenn er sich daraufhin identifiziert und seine Ideen entwickelt hat, was man daraus eventuell machen könnte, hat sich das so langsam eingespielt. Das war mein Trick.

Ingold: Hat die erste Schmiedeprothese einen Namen? Als was kam sie auf den Markt?

Rieker: Die Müller-Banane.13

Tab. 1. Medizintechnische Werkstoffe der Gebrüder Sulzer AG.

Jahr

Markenname

Komposition

Pfanne

Kugel

Schaft

1961

Vitasul

CoCrMoC-Gusslegierung

+

+

1963

Protasul

CoCrMoC-Gusslegierung

+

+

+

1965

Chirulen

Polyethylen

+

1968

Ertacetal

Polyacetal

1969

Sulester

Polyester

1971

Protasul-10

CoNiCrMo-Schmiedelegierung

+

1971

Protasul-2

CoCrMoC-Gusslegierung

+

+

1973

Sulfix-6

Akrylatzement

+

+

1975

Biolox

Al2O3-Keramik

+

1977

Protasul-21WF

CoCrMoC-Schmiedelegierung

+

+

+

1978

Protasul-64WF

TiAlV-Schmiedelegierung

+

1982

Tribosul-TiN

TiAlV-Legierung, TiN-Beschichtung

+

+

+

1982

Protasul-S30

FeCrNiMnMoNbN-Legierung

+

+

1983

Protasul-Ti

Reintitan

+

1984

Chirulen

Polyethylen in Stickstoffatmosphäre sterilisiert

+

1984

Sulmesh-S

Stahlgitter

+

1985

Protasul-100

TiAlNb-Schmiedelegierung

+

+

1985

Sulmesh-Ti

Reintitangitter

+

1986

Osprovit

Hydroxylapatit-Beschichtung

+

1988

Metasul

CoCrMoC gegen CoCrMoC

+

+

1990

Sulfix-60

Akrylatzement

+

+

1991

Tribosul-ODH

TiAlNb mit Oxygen Diffusion Hardening

+

1992

Protasul-20

CoCrMo-Schmiedelegierung

+

+

1993

Sulox

Al2O3-Keramik

+

+ = bewährt / − = nicht bewährt

Semlitsch: Schauen Sie: Das waren die Werkstoffe der 1960er-Jahre.14 Da war ich nicht beteiligt. Das habe ich sozusagen als Hypothek vorgefunden. Das war die Vitasul-Legierung, ursprünglich WF101, für die Huggler-Prothesen. Die wurde in der Folge von Howmedica mit ihrem Markennamen Vitalium sofort attackiert. Herr Straehl hat darauf Vitasul auf Protasul abgeändert. Dann war Polyethylen, Teflon hatte Sulzer nie gehabt, das hat Huggler in seiner eigenen Werkstatt produzieren lassen. Polyacetal war ein Werkstoff für die erste Weber-Rotationshüftprothese für die rotierende Kugel. Die ist verschlissen, wurde ersetzt durch die Sulester-Kugel aus Polyester. Die ist später verschlissen. Ein Jahr bevor das Desaster mit ungefähr 30 000 Rotationsprothesen zutage getreten ist, hauptsächlich in der Schweiz, Österreich und Deutschland, hatte ich während eines schönen Ferienaufenthaltes in Mariapfarr im Salzburgerland die Idee: Wieso sollte man eigentlich diese rotierende Kunststoffkugel nicht durch eine rotierende Metallkugel ersetzen, damit die Weber-Prothese auch eine von Orthopäden höher geschätzte Polyethylenpfanne bekommen kann? Das war meine Idee.

Der Herr Willert hat die Rotationsprothese immer abgelehnt, weil sie eine Metallpfanne hatte. Nachdem ich mit Herrn Willert praktisch dauernd in Kontakt war – wir haben sehr viel miteinander publiziert –, hat er dann aber trotzdem die Rotationsprothese nie implantiert bei sich in Frankfurt. Immer Müller-Prothesen. Er hat gesagt, die Polyethylenpfannen sind mir sympathischer. Die Rettung der Weber-Rotationsprothese mit der Polyesterkugel war mein Vorschlag an Herrn Straehl, dem Herrn Doktor Weber als Alternative eine rotierende Metallkugel, Durchmesser 32 Millimeter, zu offerieren. Der Herr Weber hat das zwar zuerst abgelehnt, hat es aber dann ein Jahr lang ausprobiert und abwechslungsweise rotierende Metallkugeln und rotierende Polyesterkugeln implantiert bei seinen Patienten, jeden Tag, ein Jahr lang. Später erhielt ich plötzlich einen Telefonanruf von Doktor Fritz Magerl. Als Oberarzt von Professor Weber sagte er: «Herr Semlitsch: Katastrophe, ich muss in letzter Zeit Rotationsprothesen mit rotierenden Polyesterkugeln reoperieren und hinter den Pfannen kann ich löffelweise Zahnpasta entfernen.»

Ochsner: Stühmer wurde dann auch damit beauftragt.

Semlitsch: Ja, der war der Hauptreoperateur, der Hauptleidtragende, aber dadurch hat er viel an Erfahrung gesammelt.

Ochsner: Und ein schönes Prothesenentfernungsinstrumentarium entwickelt.

Semlitsch: Ja. Ich habe dem Doktor Fritz Magerl am Telefon gesagt: «Wann machen Sie die nächste Reoperation? Morgen in der Früh!» Um sieben war ich im OP. Dann hat er mir demonstriert, wie er löffelweise diese Zahnpasta hinter der gelockerten Metallpfanne entfernt. Darauf habe ich gesagt: «Das ist der Tod der Rotationsprothese mit Polyesterkugeln. Schicken Sie mir Gewebeproben von der Hüftgelenkkapsel und die ganze Zahnpasta und die Polyesterkugeln. Ich brauche mindestens sechs Fälle, die gehen express an Herrn Willert.» Der Herr Willert hat innerhalb von einem Monat sechs Berichte geschrieben, ich habe die sechs Berichte dem Herrn Magerl geschickt, damit er sie sofort unbedingt dem Weber übergibt. Drei Tage später wurde eine Sitzung in Chur, im ersten Stock vom Bahnhofrestaurant, einberufen, Krättli, Lötscher,15 Straehl, Frey, Semlitsch, Weber. Ich musste über diese Berichte von Herrn Willert referieren. Anschliessend sagte Weber: «Die Polyesterkugeln müssen sofort gestoppt werden, alles verschrottet, ich habe Gott sei Dank jetzt einjährige Resultate mit rotierenden Metallkugeln und die können wir nun bei den Reoperationen einsetzen.» Das war die Rettung von Allo Pro, deren Hauptgeschäft damals die Weber-Rotationshüftprothese war.

Ingold: Wir sind beim Thema Misserfolge. War das der grösste Misserfolg, den Sie erlebt haben?

Semlitsch: Der erste grosse Misserfolg, und ich hatte einen Riecher, eineinhalb Jahre davor. Meine Frau hat immer mitgezittert, weil sie auch Chemikerin ist. Das war die Rettung von Allo Pro. Die zweite Rettungsaktion war die Verschrottung aller Müller-Gussschäfte.

Abb. 4. Rotationsprothese nach Huggler und Weber. Der Kopf kann frei auf dem Hals der Prothese drehen. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 14796

Ingold: In welchem Zeitraum bewegen wir uns jetzt ungefähr?

Semlitsch: Also, das war der Zeitraum, nachdem der Protasul-10-Schaft, zuerst extern hergestellt, zu einem Schmiedeprozess geführt hatte, der meinen Empfehlungen nicht entsprochen hat, weil ein Mitarbeiter von Herrn Straehl, Herr Richner, damit beauftragt war, und der hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung. Der war Politiker im Zürcher Kantonsrat. Der Schmiedeprozess wurde dann auf meine Empfehlung umgestellt in der Sulzer-Schmiede. Dort wurde das gemacht, was ich empfohlen hatte und wo mir die Ermüdungsfestigkeit von sechshundert Newton pro Quadratmillimeter gewährleistet war. Nachdem diese Prothesen von der Sulzer-Schmiede in grösserer Stückzahl vorhanden gewesen waren, teilte Herr Straehl Herrn Frey mit, dass alle Gussprothesen verschrottet werden müssen. Da hörte ich einmal per Zufall, nachdem ich mich auf der Toilette etwas entlasten musste: «Wegen des ‹Schiess›-Semlitsch müssen wir da Riesenmillionen mit Gussprothesen verschrotten.» Also die Leute, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten, haben mir einen Vorwurf gemacht, weil ich die Schmiedeprothese eingeführt hatte zur Rettung der Sulzer Medizinaltechnik. Ein Grossteil der Gussprothesen in unzerstörtem Zustand wurde aber nicht verschrottet, sondern diese wurden zum Teil einfach in Kisten einem Schrotthändler nach Berlin verkauft, und die haben sie zu Prothesen weiterverarbeitet. Ein Teil der Gussprothesen wurde gegen meine dringende Warnung an Herrn Straehl sogar nach den USA an DePuy verkauft ...

Rieker: Keine gute Idee.

Semlitsch: … anstatt DePuy direkt mit Schmiedeprothesen zu beliefern.

Ingold: Das war das falsche Vorgehen, um in den amerikanischen Markt hineinzukommen.

Semlitsch: Das hat mir eine Unzahl von Unannehmlichkeiten bereitet, indem ich bei Gerichtsfällen zu gebrochenen Gussprothesen bei Patienten ins Kreuzverhör genommen wurde. Zwanzig Fälle …

Ingold: In den USA.

Semlitsch: In den USA. Also, ich musste immer gegen die Unvernunft der Manager und gegen die Unvernunft von Otto Frey ankämpfen, dreissig Jahre lang. Man war froh, nachdem ich schliesslich 1996 in Frühpension gegangen war mit 63 Jahren, da waren mich die Manager los und konnten schalten und walten, wie sie wollten, was letztlich zu 3000 gelockerten Pfannen in den USA geführt hat, weil ein Manager bei der Herstellung einer amerikanischen Pfanne beim Produktionsablauf einige aufwendige Prozesse weggelassen hat. Das hat dann zu Verunreinigungen geführt, die aus den Pfannenoberflächen nicht entfernt werden konnten. Es kam zu 3000 Fällen und einem Regress von über einer Milliarde US-Dollar.

Rieker: Das habe ich erlebt.

Ingold: Genau, da sind wir Ende der 1990er-Jahre.

Semlitsch: Sind wir vom Thema abgekommen?

Ingold: Nein, wir sind mitten im Thema drin. Sie haben früher erwähnt, dass Herr Müller Herrn Weber in St. Gallen verboten hat, seine eigene Weber-Prothese zu entwickeln, solange Müller Chef war. Weber hat darauf sieben Jahre in St. Gallen unter Müller gearbeitet und war wahrscheinlich auch mit ihm danach noch in Kontakt. Wie hat man sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Männern vorzustellen? Weber kommt mit diesen neuartigen Totalprothesen aus England zurück in die Schweiz zu Müller, Müller übernimmt das dann und beginnt seine Serien zu entwickeln, stoppt gleichzeitig Weber – wie ist Weber damit umgegangen?

Semlitsch: Also Weber, Weber ist Basler mit allen Basel-typischen Merkmalen.

Ingold: Die da wären?

Semlitsch: Humor, bis geht nicht mehr, Baslerhumor. Weber kann aber auch, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, ausrasten, bis geht nicht mehr. Über den Umstand wusste Müller Bescheid. Also, Müller ist eigentlich immer vorsichtig mit Weber umgegangen, hat ihn aber stets für sich benützt, weil er von seinen orthopädischen Fähigkeiten, seinem Vorstellungsvermögen, sehr komplizierte Frakturen zu sanieren, vollkommen überzeugt war. Darum hat Maurice Müller Weber zum Teil sogar mit nach Bern genommen, um dort Operationen auszuführen, und hat Weber dann als seinen Nachfolger vorgeschlagen in St. Gallen, als Müller von St. Gallen nach Bern gegangen ist. Ich würde sagen, was die Ausstrahlung Müllers in der orthopädischen Welt angeht, waren die Jahre in St. Gallen extrem erfolgreich für Maurice Müller. Ich spreche jetzt hauptsächlich von seinen AO-Entwicklungen. Weber war bis zum Schluss zusammen mit Fritz Magerl bei jedem AO-Kurs in Davos im Dezember die mittragende Säule für die AO-Technik. Müller hat es allerdings einmal fertiggebracht, bei seinen Hüftkursen in Bern in dem eigenen Gebäude – Murtenstrasse 35, wurde extra für ihn gebaut, vier Stockwerke, zuoberst sein Büro mit riesiger Terrasse, grossem Hörsaal, die Toiletten blau gekachelt mit Spiegel. Als ich das erste Mal dort war, ich war immer zu Hüftkursen eingeladen für Vorträge zur Unterstützung der Müller-Prothesen, bin ich zurückgekommen und habe dem Herrn Frey gesagt: «Herr Frey, das müssen Sie sich unbedingt anschauen, so einen Hüftkurs.» Dann ist der Frey beim nächsten Hüftkurs hingefahren. Ich habe Herrn Frey gefragt: «Na, wie war es, Herr Frey?» Sagte er: «So schön hat mies Gigerli nonie brünzlet.»

Rieker: Vielleicht kann ich eine kleine Bemerkung zur Beziehung Weber-Müller hinzufügen. Während der Fusion zwischen Sulzer Medizinaltechnik, Protek und Allo Pro war für mich die grosse Frage: Was mache ich? Ich habe gesagt, ich gehe direkt von Protek zu Sulzer. Wir [Semlitsch und Rieker] haben sehr kurz zusammengearbeitet. Ich habe die Stelle von Robert Streicher als Leiter Tribologie übernommen. Die Metall-Metall-Paarung war damals am Anfang. Einmal sagte er: «Claude, du musst unbedingt zu Professor Weber gehen, er hat ein paar Fragen an dich.» Ich war ein bisschen nervös, weil ich gewusst habe, dass die Beziehung zwischen den beiden Professoren suboptimal war. Ich habe auch erlebt, dass es riesige Spannungen zwischen Protek und Allo Pro gab. Das war wirklich ein Kampfzustand …

Semlitsch: Kampfzustand?

Rieker: Ja. Als wir zum Beispiel das erste Mal Prothesen in Chur verkaufen konnten an Heinz Bereiter, mit MS30, war das für uns ein riesiger Erfolg, weil Chur war Allo Pro. Wir haben sogar Champagner getrunken und und und. Die Beziehungen waren extrem angespannt. Ich kam nach St. Gallen und ich sprach ein bisschen mit Professor Weber. Er fragt: «Ja, was haben Sie oder was hast du» – er war sehr schnell mit duzen – «gemacht?» Ich habe erklärt, was ich gemacht habe. Er fragt mich: «Wie lange hast du mit Müller gearbeitet?» Ich sage: «Fünf Jahre.» – «Hast du überlebt?» – «Ja.»

Semlitsch: Hast du überlebt!

Rieker: Er sagte: «Du bist gut, bienvenue chez moi.» Ich war erstaunt. Er hat wirklich gesagt: Weil ich fünf Jahre mit Müller arbeiten konnte, okay, bienvenue.

Semlitsch: Ich möchte bei Weber noch eine Sache anführen. Müller hat es fertiggebracht, Weber zu einem Hüftkurs einzuladen, um über die Rotationsprothese zu berichten. Wobei Maurice Müller wusste, dass 30 000 Rotationsprothesen bachab gegangen sind. Trotzdem lädt er Weber zu einem Vortrag über die Rotationsprothese zum Hüftkurs nach Bern ein. Ich dachte: Wie wird Weber diesen Vortrag überstehen? Weber hat das super elegant gemacht. Er hat kurz seine Skizze gezeigt nach dem Besuch bei Charnley, seine Handskizze …

Rieker: Die ist berühmt, man sieht sie von Zeit zu Zeit in Publikationen.

Semlitsch: … hat dann die ersten Prothesen, hergestellt bei Sulzer, und die zweite Serie mit den Polyesterkugeln gezeigt, hat darauf einige Röntgenbilder mit Schadenfällen vorgeführt, mit der Zahnpasta, ist sofort dazu übergegangen, wie er die Reoperationen ausgeführt hat mit der rotierenden Metallkugel, die ich sozusagen ein Jahr vorher initiiert hatte, und hat weiter den Erfolg der Rotationsprothese mit der Metallkugel, weiterentwickelt mit Keramikkugel, voll dargestellt. Maurice Müller ist praktisch nicht auf seine Kosten gekommen, weil er gedacht hat, der Weber wird sich mit seinem Desaster mit der Rotationsprothese total blamieren vor versammeltem Publikum. Also Maurice Müller war Weber gegenüber nicht immer sehr fair.

Ingold: Sie haben mit beiden zusammengearbeitet.

Semlitsch: Darf ich Folgendes sagen: Mit Maurice Müller habe ich nicht viel zusammengearbeitet, weil Maurice Müller um mich immer einen Bogen gemacht hat. Ich war ihm zu geradlinig. Ich war zum Beispiel von der Bogenschaftprothese nie überzeugt und habe ihm das direkt auf den Kopf zugesagt: «Die Bogenschaftprothese überlässt dem Orthopäden zu viel Freiheiten, wie er sie positioniert.» Ich bin oft zu deutschen Orthopäden gerufen worden, zum Beispiel zu Professor Beck in Erlangen. Ich bin einen Tag vor Weihnachten zu Beck gefahren und der hat gesagt: «Herr Semlitsch, Sie brauchen aber sehr lange, bis Sie mich einmal besuchen, nachdem ich so viel Müller-Bogenschaftbrüche hatte erleiden müssen.» Da habe ich gesagt: «Gestern habe ich ein Telefon von Herrn Madl bei Protek bekommen und heute bin ich bei Ihnen.» Dann hat mir Professor Beck eine Prothese aus seiner Vitrine genommen, eine Müller-Bogenschaftprothese, die war dunkel gefärbt, so leicht grün dunkel, und sagt: «Schauen Sie sich mal diese Prothese an, wie die rauskommt.» Darauf habe ich meine Zehnfachlupe aus meinem Hosensack genommen, habe mir das angeschaut, habe gesagt: «Kann Ihnen sagen, von was das kommt, die war im Krematorium.» Sagte er: «Sie haben Recht, ich wollte Sie nur auf die Probe stellen.» Dann habe ich ihm gesagt: «Herr Professor Beck, können Sie mir Röntgenbilder von diesen gebrochenen Müller-Bogenschaftprothesen zeigen.» Hat er gesagt: «Was werden Sie schon von Röntgenbildern verstehen.» Sagte ich: «Zeigen Sie sie mir bitte.» Dann hat er mir die Röntgenbilder gezeigt, die waren alle falsch positioniert – er hat zu hoch reseziert. Die waren so, wie heute die Miniprothesen implantiert werden, ungefähr so hat Beck die Müller-Bogenschaftprothesen implantiert. Ich sagte: «Herr Professor Beck, die Prothesen, die Sie mir da in Röntgenbildern gezeigt haben, sind alle falsch implantiert, so implantiert man keine Müller-Bogenschaftprothesen.» Hat er gesagt: «Sie haben Recht, ich habe in der Zwischenzeit auf ein Konkurrenzprodukt umgestellt und das sind Geradschaftprothesen von der Firma Howmedica.» Sagte ich: «Na gut, da komme ich zu spät mit der Schmiedeprothese, aber ich wünsche Ihnen Erfolg mit der Geradschaftprothese von Howmedica.» Seit der Zeit hat mich der Professor Beck bei jedem Kongress herzlichst begrüsst und mich zum Mittagessen eingeladen, weil er gefunden hat, mit dem Semlitsch kann man vernünftig reden, und das hat Professor Müller mit mir nie gemacht. Weil ich ihm immer die Wahrheit auf den Kopf zugesagt habe und dafür war er super allergisch.

Abb. 5. Manfred K. Semlitsch im Jahr 1978, Selbstporträt. Foto: M. K. Semlitsch

Ochsner: Das ist offenbar personenabhängig. Er hat von der Geradschaftprothese eine nicht zementierte Variante mit Schlitz und Kragen entwickelt. Das ist eigentlich wie ein vierbeiniger Tisch mit ungleich langen Beinen, es hat nämlich zu viele Fixpunkte. Er hat mich gefragt, ob ich ihm eine Kontrollserie zu seinen Ergebnissen parallel in Liestal machen würde. Habe 36 implantiert. Ich hatte da immer die jüngeren Patienten ausgewählt, weil ja nicht zementiert wurde, aktive Leute. Viele von ihnen gingen nicht mehr zur Arbeit, weil sie immer Schmerzen hatten. Ich habe diese Fälle unter den Arm genommen und bin zu ihm gegangen und habe zunächst nach zwei guten Ergebnissen die schlechten Fälle gezeigt, einen nach dem anderen, bis er weggelaufen ist.

Semlitsch: Bis er weggelaufen ist.

Ochsner: Ja. Drei Monate später hat er mich aufgerufen, um mit an der Technischen Kommission teilzunehmen. Von da an hat er mich dort integriert, hat gesagt: «Ja, der Ochsner dokumentiert gut und beobachtet genau, deshalb wird er jetzt auch in diese Kommission integriert.» Da ist eigentlich gegenteilig passiert.

Semlitsch: Also mich hat er nie in die Technische Kommission nur mit einer Spur eingeladen. Aber ich kann Ihnen zu dieser zementlosen Prothese noch etwas sagen. Im Jahre 1977 oder 1978 hätte ich in Wien verschiedene Kliniken besuchen sollen mit dem Allo-Pro-Vertreter. Zu Mittag hat er mir gesagt: «Herr Semlitsch, aus diesen Besuchen wird nichts. Am Abend wird von Ihnen vor zweihundert Orthopäden in Wien ein Vortrag erwartet.» Da habe ich gesagt: «Das ist eine Überraschung.» Aber beim Mittagessen war ein Ecktisch und hinter dem Ecktisch war eine Beleuchtung mit einer beleuchteten Glasplatte drum herum. Ich bin immer mit Dias gut assortiert auf Dienstreise gefahren. Da habe ich anstatt Mittag zu essen innerhalb von einer halben Stunde den Abendvortrag mit Dias zusammengestellt und am Abend war der Vortrag. Am Schluss hat mir der Allo-Pro-Vertreter, der Herr Doktor Anton Wurzinger, gesagt, die Orthopäden hätten ihn gefragt, ob ich jetzt Allo Pro oder Protek vertrete. Dann habe ich gesagt: «Dann war mein Vortrag gut.»

Bei der Gelegenheit hat auch ein gewisser Herr Zweymüller16 einen Vortrag gehalten über zementlose Hüftprothesen, die er mit dem Institut Rizzoli entwickelt hatte. Er hat das publiziert. Ich habe ihn damals noch nicht gekannt und habe vorher einen Brief aufgrund der Publikation nach Wien geschickt, ans Lorenz-Institut, da war er in der alten Klinik, und habe ihm gesagt: «Ich möchte ihm empfehlen, diese Rizzoli-Prothesen auf Ermüdungsfestigkeit vom Biomechanischen Institut in München vom Doktor Plitz untersuchen zu lassen. Es besteht Gefahr, dass diese Prothesen brechen, weil sie aus Reintitan sind.» Später hat mir Zweymüller gesagt, er hat das gemacht, und die Prothesen sind tatsächlich gebrochen, und er hat sofort eingestellt. Nach meinem Vortrag habe ich den Herrn Zweymüller angesprochen und habe gesagt: «Herr Zweymüller, falls Sie Interesse haben, zementlose Prothesen zu entwickeln, Winterthur ist nicht weit weg von Wien, kommen Sie doch.» Er hat seine Habilitationsschrift zu uns nach Winterthur geschickt, war ein halbes Jahr später bei uns und hat zusammen den zementlosen Zweymüller-Schaft entwickelt, 1979 die ersten Implantationen gemacht, das waren verschiedene Weiterentwicklungen in Stufen, 1986 hat er eine neu abgestufte Serie, stufenlos in den Abmessungen, vorgelegt. Ich habe zu dem Zeitpunkt bereits eine Nachfolgelösung zur Titan-Aluminium-Vanadin-Legierung [Ti-6Al-4V] entwickelt gehabt. Das [Protasul-64WF] war die erste Legierung, die wir für die Zweymüller-Prothese verwendet haben. Die habe ich für Einzelfälle für Weber im geschmiedeten Zustand für nickelallergische Patienten eingesetzt.

Ingold: Protasul-64WF.

Semlitsch: Protasul-64WF.

Ochsner: Ich übersetze, bei Weber waren das die zementierten Schäfte.

Semlitsch: Hm?

Ochsner: Ich übersetze Ihre Aussage: Das waren Webers zementierte Schäfte.

Abb. 6. Soll die Prothese in den Oberschenkelhals zementiert werden? Diese Frage spaltete die Orthopäden. Das Bild zeigt eine zementlose Prothese nach Karl Zweymüller, vierte Generation 1986, die bei einer Wechseloperation herausgeschlagen wurde. Auf der Oberfläche sind Knochenlamellen sichtbar. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 15632

Semlitsch: Zementierte Schäfte, ja. Er hat das zweimal gemacht. Aber für die zwei Fälle habe ich diese Legierung sozusagen in der Schublade gehabt. Was mich immer gestört hat, war das nicht körperverträgliche Vanadin. Da waren bei einer Tagung in Wien die Mitarbeiter von Plansee, die Niob und Tantal für sehr hohe Temperaturen verwendet haben, die wollten Hüftprothesen aus Niob und Tantal herstellen. Sie haben drei Vorträge gehalten, und jeder Vortrag war praktisch gleichen Inhalts. Das hat mich so genervt, aber mir ist das Niob im Kopf hängen geblieben, und auf der Rückreise mit meiner Frau habe ich gesagt: «Die Vorträge gehen mir nicht aus dem Kopf, ich werde das Vanadin in einer neuen Titanlegierungsentwicklung durch Niob ersetzen.» Bin zu Hause angekommen und habe dann 1985 die Titan-6%Aluminium-7%Niob-Legierung [Ti-6Al-7Nb] fertig entwickelt gehabt …

Ingold: Protasul-100.

Semlitsch: Protasul-100. Diese Legierung haben wir für den stufenlos konzipierten Zweymüller-Schaft eingesetzt. Die ersten Stangen von dieser Legierung haben wir aus England von IMI kommen lassen. Herrn Frey hat es wieder einmal gestört, dass diese Legierung jetzt für Allo Pro für Zweymüller eingesetzt wird. Er hat nichts Besseres zu tun gewusst, als die Müller-Geradschaftprothese in einer Serie aus Protasul-100 zu machen. Müller, nicht faul, hat das zementierbare Modell, hergestellt in Protasul-100, zementlos implantiert und gewartet, was passiert. Was war passiert? Alle Müller-zementierbaren Schäfte aus Protasul-100 hatten sich gelockert. Daraufhin hat er das nächste Modell gemacht.

Ochsner: Eben die weiter oben erwähnte nicht zementierte Kragenprothese mit Schlitz.

Semlitsch: Ja.

Ochsner: Aber das war eben auch kein Erfolg.

Semlitsch: Eben. Aber Sie sehen nur diese Unvernunft von Otto Frey. Er war fähig, jeden Orthopäden mit seinen Ideen, und selbst wenn es Schnapsideen waren, zu begeistern, sodass der Orthopäde am Schluss überzeugt war, das sei seine Idee.

Ochsner: Da muss man aber sagen: Wie war die Zusammenarbeit zwischen dem Metallurgen, den technischen Entwicklern und den Orthopäden? Es war eigentlich keine zwischen allen dreien.

Semlitsch: Nein, man war nie an einem Tisch und das war mein persönliches Martyrium, das ich dreissig Jahre lang ausgehalten habe.

Ochsner: Sie haben es ausgehalten, das Martyrium.

Semlitsch: Ich bin jetzt 88. Ich habe es ausgehalten. Ich bin stolz, dass in Winterthur noch über tausend Personen auf dem Gebiet mit den Werkstoffen Implantate herstellen, die ich in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren entwickelt habe und die für die Firma Zimmer für drei Milliarden Dollar hoch attraktiv waren.

Ingold: Es geht hier um die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen.

Semlitsch: Das ist meine persönliche Genugtuung.

Ingold: Die Geradschaftprothese von Herrn Müller …

Semlitsch: Die war in Ordnung.

Ingold: Sie hatten mir am Telefon gesagt, dass hier eine Kommunikation zwischen Weber und Müller vorausging. Weber hat in St. Gallen die Patienten von Müller übernommen und hat gealterte Prothesen von Herrn Müllers ersten Setzholzprothesen reoperiert oder gesehen …

Semlitsch: Gesehen.

Ingold: ... und konnte ihm berichten über den Zustand dieser Prothesen. Und weil sie eben immer noch in einem guten Zustand waren, hat er diese Mitteilung an Müller gemacht …

Semlitsch: Im Röntgenbild.

Ingold: Im Röntgenbild. Müller habe dann darauf die Geradschaftprothese als Wiederaufnahme von Gedanken aus den 1960er-Jahren entwickelt.

Semlitsch: Das stimmt, ja. Weber war immer loyal. Weber hat nur einmal von meinem Standpunkt aus eine sehr negative Reaktion an den Tag gelegt. Nachdem Herr Zweymüller über die Sulzer-Entwicklung bei Allo Pro gelandet war, hat Herr Lötscher, das war der Leiter von Allo Pro von Anfang 1968 an, als Allo Pro noch in Winterthur war, dem Professor Weber anlässlich eines Mittagessen zu zweit beichten müssen, dass jetzt ein Herr Zweymüller mit einer zementlosen Hüftprothese bei Allo Pro einsteigt, hergestellt bei Sulzer. Weber ist ohne Antwort aufgestanden und hat das Lokal verlassen. Also, Sie sehen nur, die Herren Orthopäden dulden im Prinzip niemanden anderen neben sich.

Ochsner: Es gibt auch bei uns Alphatiere.

Semlitsch: Ja. Aber es ist unfair.

Rieker: Die Anzahl Alphatiere unter den Orthopäden ist unbegrenzt.

Semlitsch: Müller hat zum Beispiel nie einen persönlichen Kontakt mit Zweymüller gehabt. Professor Müller hat einmal jemanden gefragt: «Zweymüller, was ist denn Zweymüller überhaupt?» Ich habe ein Röntgenbild gehabt, das habe ich dem Herrn Willert gezeigt. Er sagte: «Davon muss ich mir unbedingt ein Bild machen. Das kann ich nämlich in einem Vortrag verwenden, in dem ich sage: Links sehen Sie eine Müller-Prothese und rechts eine Zweymüller-Prothese.»

Rieker: Meine Grossmutter hat auch eine Müller und eine Zweymüller gehabt.

Semlitsch: Tatsächlich!

Rieker: Nein, falsch, eine Grossmutter hat eine Müller gehabt und die zweite eine Zweymüller.

Ochsner: Nicht die gleiche Person, zwei Personen.

Rieker: Die Grossmutter von Genf hat eine Müller gehabt, das war damals Professor Vasey.17 Die zweite Grossmutter aus dem Wallis – ich weiss nicht, wer der Operateur war – hat eine Zweymüller gehabt.

Ingold: Sprechen wir noch einmal über Materialkombinationen. Da fällt auf, dass auch immer wieder Metall-Metall aufkam. Also in den 1960er-Jahren, haben Sie mir gesagt, hätte Huggler seine Probleme mit Metall-Metall das erste Mal zu lösen versucht.

Semlitsch: Ja, und das hat er.

Ingold: Das hat er?

Semlitsch: Huggler ist 1965, nach seinem ersten Versuch mit den katastrophalen Flurosintpfannen, zum zweiten Mal an Herrn Straehl gelangt und hat gesagt, er möchte gern den gleichen Schaft wie bisher, aber mit einer 42er-Kugel, und aus dem gleichen Material, das damals Protasul geheissen hat, und daraus möchte er gerne eine Metallpfanne haben, das sogenannte Sennenkäppli. Diese Prothesen sind darauf bei Sulzer in Winterthur auch in einer Kleinserie hergestellt worden. Da ist Huggler von der Balgrist nach Chur mit Allgöwer als Chef und hat dann, nachdem er die ersten Metall-Metall-Prothesen implantiert hatte, Allgöwer das gezeigt. Allgöwer, der ja mit ein AO-Gründungsmitglied mit Maurice Müller war, hat Maurice Müller sofort informiert und gesagt: «Der Huggler bei mir macht eine interessante Sache.»

Ingold: Müller hatte zu diesem Zeitpunkt keine Metall-Metall-Paarung gemacht, sondern Metall-Kunststoff, Teflon?

Semlitsch: Metall-Polyethylen.

Ingold: Polyethylen.

Semlitsch: Nachdem Charnley auf Polyethylen umgestellt hatte, hat Müller Mathys angewiesen, auch Polyethylen zu gebrauchen. Das waren die Setzholzprothesen. Diese Setzholzprothesen hat Maurice Müller dicker gemacht, weil ihm einige Stahlschäfte gebrochen waren. Allgöwer hat zu Huggler gesagt: «Nehmen Sie Kontakt mit Müller in St. Gallen auf und laden Sie ihn nach Chur ein.» Maurice Müller hat zusammen mit Huggler zwei Metall-Metall-Prothesen implantiert. Bei der Gelegenheit haben sie beobachtet, als sie zwei Prothesen geöffnet haben, dass eine Kugel nicht in die andere Pfanne hineingeht, weil die Kugel etwas grösser war als der Pfannendurchmesser, da Otto Frey die Kugeln in jede Pfanne eingeläppt hat.

Ochsner: Also wie eine Glasflasche mit Glaszylinder.

Semlitsch: Ja, ungefähr so, ja. Daraufhin hat sich Huggler bei Frey beschwert, dass das passiert ist, wie er mit Maurice Müller zwei Prothesen implantiert hat. Otto Frey hat sofort geschaltet: «Das erleichtert mir meine Produktion, ich mache ein Spiel zwischen Kugel und Pfanne von Zweizehntelmillimeter.» Das wurde sofort in die Produktion für die Huggler-Prothesen eingeführt. Das war dann die Lösung für die Metall-Metall-Prothese bei der Huggler-Prothese. Maurice Müller war, jetzt total begeistert von Huggler, nach St. Gallen gefahren, hat Kontakt mit Straehl aufgenommen und gesagt, er möchte auch Metall-Metall-Prothesen produzieren lassen. Huggler ist zusammen mit Müller zu Straehl nach Winterthur gefahren. Der Huggler hat Müller bei Straehl eingeführt, und dann musste Straehl wochenlang immer wieder zum Mittagessen privat zu Müller fahren, und da hat der Müller gesagt: «Ich will eine eigene Müller-Metall-Metall-Prothese.» Die hat er dann am SICOT-Kongress vorgestellt.18McKee hat am SICOT-Kongress in Paris seine Metall-Metall-Prothese vorgestellt, Charnley seine Polyethylen-Ausführung mit der 22er-Kugel und Müller seine Bogenschaftprothese mit der Metallpfanne. Nachdem er mit Straehl diese Prothese einigermassen durchbesprochen hatte, hat er gesagt: «So, jetzt schicken Sie mir den Konstrukteur und dann machen wir die Konstruktionszeichnungen.» Daraufhin hat Otto Frey ihm noch gesagt: «Wir könnten ja eine in Low Friction machen mit drei Gleitlagern aus Polyethylen.» Maurice Müller, nicht faul, hat am nächsten Tag das Patent auf seinen Namen angemeldet. Er hat alles auf seine Mühle geleitet. Da war er ein Meister sondergleichen. Mit seinem Charme konnte er alles erreichen, aber wirklich alles.

Abb. 7. Maurice E. Müller nach der Hüftgelenkoperation mit John Charnley im Jahr 1970 in Wrightington. Foto: M. K. Semlitsch
Abb. 8. Alexandre J. Boitzy, langjähriger Assistenz- und Oberarzt von Maurice E. Müller, 1970 in Wrightington. Foto: M. K. Semlitsch

Maurice Müller soll einmal gesagt haben: «Und wenn ich morgen am Hüftkurs sage, man soll meine Prothese zuerst mit der Kugel in den Markraum implantieren, die Leute machen es.» So überzeugt war Maurice Müller von sich. Er war ein Charmeur, aber ein Motor. 1970 haben wir das Greenhouse von Charnley besucht, und ich musste als Leica-Fotograf mitfahren und alles dokumentarisch festhalten. Jedenfalls, aufgrund dieser Mappe, wurde dann dem Maurice Müller das Greenhouse in Bern gebaut.

Ochsner: War der Müller dabei?

Semlitsch: Ja sicher. Müller mit Boitzy.19

Ochsner: Genau, rechts Boitzy, links Müller. [Semlitsch zeigt ein Fotoalbum.]

Ingold: Was steht da unter dem Bild?

Semlitsch: Manchester 1970. Besuch in England, 19.2.1970, am 20.2.1970 in London, Sulzer-Teilnehmer Straehl, Frau Kostrz, Herr Sutter und Semlitsch.20

Ochsner: Der Boitzy war ja ein wichtiger Partner für Müller. Ist vor Kurzem gestorben.

Semlitsch: Ah, der ist vor Kurzem gestorben?

Ochsner: Anfang Jahr.

Semlitsch: Den habe ich sehr geschätzt.

Ochsner: War ein sehr freundlicher Mensch.

Semlitsch: Und ein ausserordentlich guter Operateur. Der war sozusagen die beruhigende Kraft in Bern.

Ingold: Jetzt müssen wir Herrn Rieker ins Gespräch hineinbringen. Dieser erste Metall-Metall-Höhepunkt Ende 1960er-Jahre, der vergeht dann, aber in den 1990er-Jahren …

Semlitsch: Ich bin noch nicht fertig. Herr Müller war bei Herrn Straehl, hat mit Otto Frey die Skizzen gemacht, hat das Patent, Vorschlag Otto Frey, sofort angemeldet und wollte bei Herrn Straehl umgehend 12 000 Prothesen bestellen, 12 000. Einfach so. Der Herr Straehl sagte: «Das geht nicht, das hat eine Investition für die Präzisionsgiesserei zur Folge, ich kriege das gar nicht bewilligt. Da müssen wir einen Vertrag machen.» Maurice Müller zieht einen Check, stellt eine hohe Summe von ein paar 100 000 Franken darauf aus, sagt Herr Straehl: «Das geht nicht, wir müssen einen Vertrag machen und eine Firma gründen.» Damals hat für die Müller-Prothesen, hergestellt bei Mathys, die Protek-Stiftung den Vertrieb mit seiner Schwester als Leiterin übernommen und der Herr Straehl sagte: «Da müssen wir eine Firma gründen.» Maurice Müller sagte: «Ja, dann gründen Sie die Firma Protek AG.» Der Straehl hat die Statuten geschrieben. Nachdem er die Statuten vorgelegt hatte, hat Maurice Müller gesagt: «Ja, wir nehmen Sie, Herr Straehl, auch als Aktionär auf und Huggler ebenfalls.» Wie es dann so weit war, dass das Ganze unterschriftsbereit war, hat sich Maurice Müller anders entschieden und gesagt: «Nein, Huggler nicht.» Dann hat Herr Straehl gesagt: «Ja, aber, das ist unfair. Jetzt haben Sie Herrn Huggler schon vorgängig gesagt, er kommt dann auch zur Protek als Aktionär mit.» Da soll Maurice Müller gesagt haben: «Dann geben Sie Huggler für jede Prothese, die Sie von Winterthur an Protek liefern, einen Fünflieber.» – Also, ausgebootet.

Abb. 9. Die Delegation von Maurice E. Müller (Dritter von rechts) nach Wrightington zu John Charnley, unter anderem mit Hermann Straehl (Zweiter von links) und Jürg Küffer (vorne). Foto: M. K. Semlitsch

Ochsner: Kleine Klammer: Mitglied der AO Schweiz konnte werden, wer selbstständig war, also auch in einer Klinikstelle, und wer bei der Aufnahmeversammlung keine Gegenstimme hatte. Huggler wurde nie AO-Mitglied.

Semlitsch: Nein. Darauf hat der Herr Straehl dem Herrn Huggler das beibringen müssen. Der Herr Straehl hat sich bei Georg Sulzer bitter beklagt, dass Huggler mit Sulzer die Metall-Metall-Prothese lanciert habe, Müller sie jetzt mit einer eigenen Protek AG übernehme, dabei hätte er Huggler versprochen, dass er dort mitarbeiten könne. Stattdessen ist er ausgebootet worden. Und der Georg Sulzer sagt dem Herrn Straehl: «Ja dann müssen Sie halt für Herrn Huggler eine eigene Firma gründen.» So hat er für die Allo Pro AG die Statuten geschrieben. Bei der Allo Pro waren Aktionäre der Herr Krättli, Direktor Kantonsspital Chur, der Herr Huggler, der Herr Weber, der Herr Straehl und der Otto Frey. Sie sehen daraus nur, dass der Straehl und Otto Frey als Aktionäre von Allo Pro und Straehl als Aktionär von Protek einfach immer wieder bei verschiedenen Dingen befangen waren.

Ingold: Sie meinen, Otto Frey war bei Protek nicht dabei als Aktionär und das hat die Zusammenarbeit zwischen Sulzer und Protek beeinflusst? Da war Otto Frey dann parteiisch, war Partei für Allo Pro?

Semlitsch: Otto Frey hat jeden Orthopäden dazu benutzt, seine Ideen zu übernehmen. Er war daran interessiert, so viele Prothesen wie möglich zu konstruieren und in Produktion zu nehmen. Otto Frey konnte das mit jedem Orthopäden machen, ganz gleich, ob er zu Protek oder Allo Pro gehörte. Otto Frey hat einfach immer wieder versucht, Maurice Müller zu hofieren. Das war sein Bestreben. Am Schluss hat er Erwin Morscher21 so hofiert, dass Erwin Morscher ihm die Doktorwürde verliehen hat, den Doktor h. c., und der Otto Frey hat dann mit dem ausbezahlten Aktionärsgeld, nachdem Sulzer Medica Allo Pro übernommen hatte, dem Erwin Morscher eine Stiftung über zwei Millionen Franken eingerichtet. Aber der Otto Frey …

Ochsner: Das Institut für Biomechanik.

Semlitsch: Otto Frey ist allgemein als der Vater des Sulzer-Gelenks in die Geschichte eingegangen. Aber er war immer mein Hauptkontrahent.

Ochsner: Jedoch durch das Hofieren der Orthopäden hat er natürlich die Kontakte zur Firma konsolidiert.

Semlitsch: Ja.

Ochsner: Das ist auch eine Leistung.

Semlitsch: Auf seine Art.

Ochsner: Er hat sich auf alle Fälle in die Herzen der Orthopäden gesetzt.

Semlitsch: Ja. Er war genauso ein Charmeur wie Maurice Müller.

Ingold: Jetzt müssen wir unbedingt Herrn Rieker hineinholen. Herr Rieker hat sich dann in den 1990er-Jahren auch wieder mit Metall-Metall-Paarungen befasst. Was wollte man da anders machen als in den 1960er-Jahren? Weshalb glaubte man in den 1990er-Jahren, dass es eben doch eine gute Materialkombination ist?

Rieker: Eigentlich bin ich dort zu spät gekommen. Die Metall-Metall-Paarung war schon vor meiner Zeit entwickelt worden, die sogenannte Metasul. Die Erstimplantation war 1986. – Die erste Metasul von Hardy Weber, das war 1986?

Semlitsch: 1988. Ich habe Protasul-21WF für Hardy Weber im Sinn gehabt zu entwickeln. 1977 habe ich die Gusslegierung Kobalt-Chrom-Molybdän-0,25%Kohlenstoff [Co-28Cr-6Mo-0.25C] einige Jahre in Schmiedeversuchen so vergewaltigt, bis es mir gelungen ist, ein ganz enges Fenster zum Schmieden zu finden. In diesem Temperaturfenster war die Legierung schmiedbar. Ich wollte den Schaft, der in einem polierten Zapfen geendet hat, in einem Stück aus einer hochfesten und hoch verschleissfesten Legierung haben, damit die rotierende Metallkugel keinen Verschleiss gibt. Das hat der Otto Frey rundweg abgelehnt. Er wollte weiterhin einen Protasul-10-Schaft wie der Maurice Müller und aufgeschweisst einen Oberteil aus einem gegossenen Protasul-2, das verschleissfest ist. Otto Frey wollte sich den Produktionsablauf nicht erleichtern lassen, indem er das aus Protasul-21WF schmiedet. Bis Hardy Weber Röntgenbilder von Müller-Prothesen, in St. Gallen implantiert, gesehen hat, die gezeigt haben, dass nach zwanzig Jahren alles noch total in Ordnung war. Daraufhin ist Hardy Weber auf die Idee gekommen, Metall-Metall-Paarung als hoch verschleissfest wieder einzuführen. Er hat mir ungefähr acht Fälle, zwei Huggler-Prothesen und sechs Müller-Prothesen …

Ochsner: Mit Polyethylenzäpfchen?

Semlitsch: Mit Polyethylenzäpfchen – hat er mir geschickt, und ich musste den Verschleiss nach zwanzig Jahren feststellen. Dabei haben wir festgestellt, dass pro Jahr nur einige Tausendstelmillimeter fehlen, wo bei Polyethylen Millimeter abreiben.

Ingold: Wie konnten Sie das messen?

Semlitsch: Mit Maschinen konnten wir das messen.

Rieker: Mit Koordinatenmessmaschinen.

Semlitsch: Darauf haben wir eine Publikation gemacht. Weber hat gesagt: «Okay, dann macht mir Metall-Metall-Paarungen.» Da habe ich dann gewusst: «So, jetzt ist die Zeit für meine 1977 entwickelte Legierung gekommen. Die Metall-Metall-Paarung machen wir aus Protasul-21WF.» Danach haben wir für Hardy Weber diese Pfanne gemacht, aussen zum Zementieren, in Polyethylen eingefasst Protasul-21WF. Wir haben uns entschieden für eine 28-Millimeter-Kugel, weil die fast keine Reibung hat. Die ist so leichtgängig wie eine Metall-Polyethylen-Paarung.

Ingold: Herr Semlitsch, eine kurze Nachfrage noch einmal. Was heisst eine Legierung entwickeln? Was sind da Arbeitsschritte? Ist das etwas, das am Schreibtisch oder nur im Labor passiert?

Semlitsch: Nein, nur mit den Arbeitern im Betrieb. Ich kann Ihnen sagen, was uns passiert ist. Wir haben in der Schmiedewerkstatt eine sogenannte Reckwalze. Eine Reckwalze ist eine Walze, wo Sie den Durchmesser verkleinern können auf einen ganz kleinen Durchmesser, indem Sie einen auf 1050 Grad erhitzten Stangenabschnitt von einem zum andern geben. Am Schluss haben Sie dann so eine lange Stange, aber ganz dünn. Wenn Sie im falschen Temperaturfenster sind, kommt Ihnen plötzlich rückwärts nur lauter Metallbrösel heraus. Das ist eine Katastrophe, aber kein Herstellungsprozess. Am Schluss soll eine längere Stange herauskommen. So haben wir das Fenster gefunden.

Ingold: Da versucht man unterschiedliche Metallkombinationen?

Semlitsch: Nein! Nur diese eine Legierungskombination!

Ingold: Aber wie kommt man zunächst auf die Kombination?

Semlitsch: Weil wir wussten, dass diese Legierung, Kobalt-Chrommolybdän-0,2%Kohlenstoff [Co-28Cr-6Mo-0,25C], diesen niedrigen Verschleisswert gibt. Im geschmiedeten Zustand bleibt die Struktur die gleiche, aber nur feinkörniger. Sie verändern dadurch nichts am Verschleisswiderstand.

Ochsner: Es gibt doch noch eine logische Brücke zu schlagen. Man hatte das Metall-Metall, das war da.

Semlitsch: Im Gusszustand.

Ochsner: Man hatte die Huggler-Prothese und man hatte die Müller-Prothesen und die wurden implantiert 1966 und so fort. Und warum kommt man nun zurück auf diese wenigen Zwanzig-Jahre-Resultate, aber vorher hat man das Ganze verlassen?

Semlitsch: Kann ich Ihnen sagen. Weil die Paarung Metall-Polyethylen von Charnley einfach eine Fashion war.

Ingold: Sie halten in der Hand? – Wir haben kein Bild, Sie müssen sagen, was Sie in den Händen halten.

Semlitsch: Polyethylenpfanne von Charnley gegen eine 22-Millimeter-Charnley-Kugel mit Geradschaft.

Ingold: Charnley hatte einen solch guten Namen, dass er das als Mode etablieren konnte. Es gab keine …

Rieker: Wenn man sich die Literatur anschaut, findet man Publikationen aus den 1970er- und 1980er-Jahren, aus denen hervorgeht, dass zu viel Abrieb nicht optimal ist. Die Leute haben immer Angst gehabt vor Krebs, aus verschiedenen Gründen. Die alten Metall-Metall haben immer noch perfekt funktioniert, deshalb konnte Herr Semlitsch diese uralten Metall-Metall-Kombinationen nachuntersuchen in Winterthur. Dabei hat er gemerkt, dass der Verschleiss sehr gering ist. Manchmal aber war das Spiel zu gross oder zu klein. Diese alten Metall-Metall-Kombinationen haben immer weder perfekt noch ganz schlecht funktioniert. Mit einer Metall-Poly-Kombination hat praktisch jede Totalprothese gut funktioniert. Deshalb wurde die Anzahl Metall-Metall-Kombinationen Mitte der 1970er-Jahre immer kleiner. Für die Firmen hat sich die Herstellung nicht mehr gelohnt. Deshalb waren Ende der 1970er-Jahre, Anfang der 1980er-Jahre keine Metall-Metall-Kombinationen mehr auf dem Markt.

Ochsner: Das würde ja eigentlich heissen, dass man bei der Wiedereinführung eine Annahme getroffen hat. Die Annahme heisst: Bei Mismatch geht es mit Metall-Metall schlecht, wenn kein Mismatch da ist, ist es das Beste.

Rieker: Ganz genau.

Ochsner: Das war ja auch der Publikumsschlager, der von Protek und Allo Pro ausgestrahlt wurde: Wenn es genau stimmt, ist es das Beste.

Semlitsch: Wir haben bei der 28er-Kugel das ursprüngliche von Otto Frey dann festgelegte 0,2-Millimeter-Spiel durch genaue Versuche optimiert auf 0,15 Millimeter plus/minus eine Spatzung. Das wurde ganz genau eingehalten, wobei ich noch folgende Idee hatte. Ich wollte die Oberflächen, die hochglanzpolierten Metasul-Oberflächen, noch mit Hartstoffschichten, fünf Mikrometer dünn, beschichten – nach einer Entwicklung von Doktor Hintermann von Neuchâtel, CSEM-Institut.22 Der hat das für die Raumfahrt entwickelt, für Kugellager. Titannitrid und Titankarbonitrid. Also die Kugel wäre gelb gewesen und die Pfanneninnenseite violett. Titankarbonitrid. Daran habe ich ungefähr vier Jahre gearbeitet an der Beschichtung, bis ich bei Balzers mit physikalischer Beschichtung gelandet bin, die haben wir dann gemacht. Otto Frey hat voreilig Maurice Müller darüber informiert. Otto Frey hat Maurice Müller so imponiert mit dieser TiC-TiN-Beschichtung, dass Maurice Müller mit einem Vortrag über TiC-TiN zusammen mit mir zu einem Orthopädenkongress nach Athen gefahren ist und einen Vortrag über TiC-TiN gehalten hat.

Ochsner: Ohne etwas davon zu wissen.

Semlitsch: In der Zwischenzeit waren meine Langzeitversuche in der Verschleissapparatur zu dem Ergebnis gekommen, dass diese TiC-TiN-Schichten durchreiben. Aber Otto Frey, nicht faul, hat Maurice Müller Komponenten geliefert, Maurice Müller hat sie implantiert, hat sie bei einem Hüftkurs vorgetragen, hat Doktor Bröckel vorher noch kurz gefragt, wie dick die Schichten sind. Ich bin paff dagesessen: Maurice Müller, TiC-TiN beim Hüftkurs. Ich habe das nicht freigegeben, nachdem die Schichten durchgerieben waren und ich dem Herrn Bröckel schon gesagt hatte: «Vergessen Sie Titannitrid-Titankarbonitrid, es macht einen schlechten Eindruck, wenn wir so viel Mühe auf uns nehmen, die Schichten aufzubringen, und der Orthopäde findet dann: Es ist durchgerieben. Wir bieten Metasul ohne Beschichtung an.» Maurice Müller musste dann klammheimlich diese Pfannen und die Kugeln wieder ausbauen und hat sich bitterböse bei Herrn Bröckel und Otto Frey beschwert, dass die Schichten durchreiben.

Ochsner: Geblieben ist es ja dann bei der CDH-Hüfte, bei den 22-Millimetern in der Paarung mit Polyethylen.23

Semlitsch: Jawohl.

Rieker: Ich komme zurück auf Ihre Frage. Metasul wurde vor meiner Zeit entwickelt, 1988, ich kam 1990 zu Protek. Damals habe ich mit Willi Frick Richtung Hüftentwicklung gearbeitet. Das habe ich zwei Jahre gemacht. Die einzige Stabilität, die ich kenne in der Orthopädie, ist die Instabilität. Nach zwei Jahren wurde ich zum Leiter Marketing befördert, obwohl ich keine Ahnung hatte, was Marketing ist. Meine erste Aufgabe war dann, Metall-Metall-Prothesen auf den Markt zu bringen.

Ochsner: Mit dem Herrn Liniger.24

Rieker: Mit Herrn Liniger. Ich kann mich noch sehr gut erinnern. Allo Pro brachte die Metasul zum Beispiel in Europa früher als wir auf den Markt. Damals war gerade die Zeit, als Professor Zweymüller zur Firma Endoplus gewechselt hat. Professor Zweymüller war wirklich der Hauptautor von Allo Pro gewesen. Nach seinem Wechsel haben sie nur die Weber-Prothesen im Portfolio gehabt und die Stühmer, aber die Stühmer waren nie ein Renner.

Ochsner: Hatten sie noch die Willert-Prothese?

Rieker: Die CS30, aber das war wirklich ein Randprodukt. Allo Pro hat praktisch nichts mehr gehabt im Hüftbereich. Deshalb haben sie alles auf die Metasul gesetzt und diese Prothese in Europa forciert. Die Rettung von Allo Pro war Natural Knee, aber das ist eine andere Geschichte. Als ich Marketingleiter von Protek war, war die SICOT auch wichtig. Die Markteinführung von Metasul für Protek war am SICOT-Kongress in Seoul 1993. Ich habe Robert Streicher25 eingeladen, um über die Metasul zu sprechen. Robert hat so gute Vorträge gemacht, er war das beste Marketing-Tool, das wir hatten. 1995 wurde er fristlos weggeschmissen – es tut mir leid für meine Wortwahl. Dann war die Fusion von Protek, Allo Pro und Sulzer. Ich habe die Stelle von Robert Streicher in der Forschung übernommen. Wir [Semlitsch und Rieker] haben ein bisschen zusammengearbeitet. Ich habe auch mit Rolf Schön26 – er war wirklich der Tribologe im Labor – sehr viel gearbeitet und ich habe die Rohdaten gesucht, um zu sehen, was gemacht worden war. Das war auch eine Frage der Kapazität, weil Sulzer Medizinaltechnik damals nur zwei Hüftsimulatoren besass. Mit diesen Geräten liessen sich Prothesen der richtigen Bewegung und auch der richtigen Belastung aussetzen. Man simuliert Laufen und sieht nach einer Million Zyklen, nach zwei Millionen, wie viel Abrieb es gibt. Ich habe alle Rohdaten gesucht und war erstaunt: Zum Beispiel war für die Freigabe von Metasul die Anzahl von Tests sehr gering. Das waren ungefähr zwei oder drei. Ich habe diese Tests wiederholt, um ein besseres Gefühl zu haben. Spiel hast du [Semlitsch] gewählt damals – das war richtig.27 Diese Paarung hat gut funktioniert, funktioniert noch heute gut. Ich habe gerade diese Woche eine Publikation von einem Spital in Montreal gefunden. Die Autoren sagen, die Paarung sei nach zwanzig Jahren unproblematisch. Aber mein Job war am Anfang, das zu verkaufen. Dann war ich aktiv in der Forschung. Ich habe diese Produkte betreut – ich würde nicht sagen weiterentwickelt. Wie viel Abrieb entsteht, kann man messen in Millimetern. Mit einer guten Metall-Metall-Paarung ist das ein Faktor tausend oder mindestens hundertmal kleiner als zwischen Metall und Polyethylen. Man weiss: umso weniger Abrieb, umso besser. Es gibt weniger Körperreaktion gegen die Abriebpartikel.

Ingold: Sie haben einen Hüftsimulator erwähnt. Können Sie noch andere Apparaturen oder Tests beschreiben? Bei Herrn Semlitsch haben wir ja vorher immer wieder gehört, dass Otto Frey ein bestimmtes Produkt sehr schnell zum Einbauen brachte. Wie entwickelt sich das dann in der Zeit? Wie wird heute oder wie wurde in den 1990er-Jahren eine künstliche Hüfte vor ihrer klinischen Verwendung getestet?

Rieker: Tribologie ist sehr wichtig.

Ingold: Die Reibung.

Rieker: Aber Tribologie ist auch sehr schwierig. Wenn ich ein solches Stück Metall nehme und diese Prothese fünf Labors gebe und sage: «Kannst du bitte die Härte messen?», so habe ich vielleicht die Härte 400 Vickers, das ist die Einheit, dann sagen alle Labors: «Ja, die Härte ist 405 oder 395 Vickers», und so weiter. Wenn ich verschiedenen Labors sage: «Nimm ein Stück Polyethylen und gib mir den Reibungskoeffizienten zwischen Polyethylen und zum Beispiel Glas», dann gehen die Ergebnisse in alle Richtungen. Denn Parameter wie Feuchtigkeit, Temperatur oder Geschwindigkeit haben leider einen Einfluss auf den Reibungskoeffizienten. Deshalb ist die Tribologie manchmal eher eine Kunst als etwas sehr Wissenschaftliches. Ich wurde Leiter Tribologie mit einer guten Grundausbildung als Werkstoffingenieur, ich hatte eine Vorstellung von Metallurgie und so weiter, aber über Tribologie selbst wusste ich sehr wenig. Ich habe einmal probiert, herauszufinden, wie viele Stunden ich während meines Studiums an der ETH Lausanne in Richtung Tribologie gehabt hatte. Das waren weniger als zwanzig. Bei der Sulzer Medizinaltechnik hatte ich einen Mitarbeiter, Rolf Schön, und der hatte zwanzig Jahre Erfahrung. Für mich war sehr wichtig, mit Rolf sprechen zu können. Denn die Anzahl der Werkstoffe, die wir in der Orthopädie haben – hier haben Sie eine schöne Liste28 und sehr viel wurde von Herrn Semlitsch entwickelt –, ist beschränkt. Wir müssen in dieser Palette bleiben. Man kann nicht einfach einen super Stahl oder eine super Legierung von der Autoindustrie nehmen, weil alle unsere Werkstoffe eine ISO-Norm haben, die bestätigt, dass man dieses Metall in den Körper implantieren kann. Einen Stahl aus der Autoindustrie ohne diese ISO-Norm, die eine gewisse Biokompatibilität bestätigt, zu implantieren, wäre heute kriminell. Die Anzahl Werkstoffe ist also sehr begrenzt. Als ich Leiter Tribologie wurde, hatte ich mit Rolf Schön einen Mitarbeiter mit zwanzig Jahren Erfahrung. Wenn ich vorschlug, vielleicht wäre dieses Material einen Versuch wert, hat er sicher vor zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren schon einen Versuch in diese Richtung gemacht. Der grosse Vorteil war also, dass ich einen Mitarbeiter mit riesiger Erfahrung hatte.

Jetzt komme ich auf die Frage nach den Methoden: Zuerst ist einfach die Erfahrung. Wenn man probiert, etwas Neues zu machen, zum Beispiel einen Pin on Disk, nimmt man ein kleines Stück Polyethylen, einen kleinen Zylinder und eine Scheibe Metall und probiert, gewisse Bewegungen zwischen Pin und Scheibe zu machen. Man probiert, dass die Bewegungen ähnlich sind wie die Bewegungen zwischen Kugeln und Pfannen. Man probiert, die gleiche Temperatur zu haben, man probiert, eine ähnliche Flüssigkeit wie die Synovia zu haben. Man macht diesen Versuch typischerweise während einer Million Zyklen, das heisst ungefähr zwei Wochen lang. Grosser Vorteil: Es gibt Maschinen, wo man hundert Pins gleichzeitig testen kann. Man kann mit verschiedenen Parametern spielen. Dann sagt man: «Okay, das ist besser oder schlechter.» Man weiss zum Beispiel, dass eine Paarung sehr gut funktioniert. Wenn ich mit dieser Paarung einen Abriebwert von hundert habe und mit einer neuen Idee komme, dort aber statt hundert zweihundert habe, sagt man: «Okay, das geht in die falsche Richtung.» Wenn der Abriebwert aber hundert oder kleiner ist, sagt man: «Okay, vielleicht gibt es Möglichkeiten, um das weiterzuentwickeln.» Das ist ein sogenannter Screening-Test. Man probiert, die schlechte Lösung zu eliminieren. Mit einer neuen Paarung geht man nachher auf den Hüftsimulator. Man probiert die Bewegung, die richtige Bewegung. Man hat die richtige Geometrie, man hat die richtigen Implantate. Man probiert, das auf einer solchen Maschine zu prüfen. Die Tribologie gibt aber keine richtigen Kriterien vor, um damit festzustellen, ob eine Paarung gut oder schlecht ist. Der einzige Weg, den es gibt, ist zu sagen: «Okay, meine neue Lösung schneidet in den Tests besser ab als eine erprobte Lösung, das heisst, dass eine kleine klinische Studie lohnenswert sein könnte.» Aber diese Entwicklungen brauchen sehr viel Zeit. Bei Pin on Disk kann man vielleicht in drei Monaten eine Grobidee haben. Ein Versuch auf einem Hüftsimulator dauert mindestens sechs Monate. Jetzt gibt es Maschinen mit zwölf Stationen. Deshalb kann man mehrere Prothesen gleichzeitig testen. In der Tribologie haben die Ergebnisse immer eine relativ grosse Variabilität. Weil die Parameter nicht immer gleich sind. Wenn es einen kleinen Fehler gibt, kann das Ergebnis wirklich in jede Richtung gehen. Deshalb sagt man heute, dass mindestens sechs Stück getestet werden müssen. Daraus macht man eine Statistik. Aber der Zeitaufwand ist relativ gross. Nach den ersten Tests im Hüftsimulator gehen wir ein bisschen weiter. Man probiert, was passiert, wenn man die Treppe hoch- oder runtersteigt. Man probiert auch zum Beispiel, einen Dreikörperverschleiss29 zu machen. Eine neue Paarung für die Tribologie in der Orthopädie zu entwickeln, das dauert schätzungsweise jetzt mindestens fünf Jahre.

Abb. 10. Claude B. Rieker im Jahr 1998 als Mitarbeiter von Sulzer Medica. Er begann seine Karriere in der Medizintechnikindustrie im Jahr 1990 als Entwicklungsingenieur bei der Protek AG. Quelle: C. B. Rieker

Ingold: Bis sie überhaupt bei einer grösseren Zahl Patientinnen und Patienten verwendet wird?

Rieker: Man muss wirklich aufpassen. Zum Beispiel hat man viel über Metall-Metall gesprochen. Dann, Ende 1990er-, Anfang 2000er-Jahre war ein Renouveau von Resurfacing. Resurfacing heisst, dass man, statt einen Schaft in den Femur zu implantieren, etwas wie im Kniebereich macht. Man probiert, eine Schale um den Femurkopf zu haben. Grosser Vorteil: Die Prothese geht nicht in den Femur, und wir erreichen einen grossen Durchmesser und damit eine grössere Stabilität. Das war Ende 1990er-, Anfang 2000er-Jahre. Die gesamte Industrie hat gesagt: «Wir setzen auf grosse Metall-Metall-Prothesen, das gibt eine grössere Stabilität.» Auch von der Tribologie her war das sinnvoll, denn wenn das Spiel im Griff ist, ist die Dicke des Schmierfilms immer grösser, wenn der Kugeldurchmesser grösser ist. Wir haben damals gesagt: «Das ist genial, wir haben nur Vorteile.» Eine gute Stabilität, es gibt nichts im Femur, eine bessere Schmierung, mit einer besseren Schmierung haben wir weniger Abrieb und weniger Reibung und die gesamte Industrie hat gesagt: «Das ist die Lösung.» Dann haben wir gemerkt, dass Resurfacing zwar tribologisch funktioniert hat, aber die Operation für sehr viele Orthopäden schwieriger war. Der Orthopäde muss wirklich sehr genau arbeiten. Die Kappe auf den Femurkopf richtig zu implantieren, kann aber sehr schwierig sein, weil der Femurkopf deformiert ist und und und. Dann haben wir gesagt: «Ja, wir sind blöd, die Lösung ist gerade hier.» Man kann das weiterentwickeln und sagen, man bleibt bei einer grossen Metall-Metall-Paarung, aber statt einer Femurkappe auf den Femur aufzusetzen, nehmen wir auf eine ganz normale Prothese einen grossen Metallkopf. Grosser Vorteil für den Operateur: Die Operation ändert sich nicht. Haben wir am Ende eine grosse Kugel, haben wir auch eine sehr gute Stabilität. Mit einer sehr grossen Kugel kann der Patient auch sehr viele Bewegungen machen, ohne dass der Prothesenstiel an der Pfanne anschlägt.

Ingold: Dann hängt sie aus, die Hüfte.

Rieker: Wenn die Kugel grösser ist, ist der Winkel auch grösser, den ich hier machen kann. Wir haben gesagt: «Das ist genial, die Stabilität ist besser und die Operation bleibt die gleiche für den Orthopäden. Das Problem ist gelöst.» Das war der grosse Hit in Europa und auch in den USA, diese grosse Metall-Metall-Kugel. Leider haben wir, ohne es zu wissen – wir sind immer im Nachhinein klüger –, etwas suboptimal entwickelt. Eine Metall-Metall-Paarung funktioniert gut mit grossem Durchmesser, solange es einen guten Schmierfilm gibt. Wenn aus irgendeinem Grund dieser Schmierfilm sich nicht entwickeln kann, heisst das, dass Reibung und Abrieb hochgehen. Daneben gibt es ein zweites Problem. Bei viel Reibung in der Artikulation entstehen mehr Kräfte im System, mehr Kräfte wirken auf das Interface zwischen Kugel und Schaft, es wird mehr belastet. Dadurch können Mikrobewegungen entstehen. Mikrobewegungen wiederum sind eine zusätzliche Abriebquelle. Wenn es mit dem Implantat beginnt schiefzugehen, gibt es mehr Abrieb in der Artikulation und mehr Abrieb in der konischen Verbindung. Bei gewissen Patienten ist dann einfach zu viel Abrieb da und eine starke biologische Reaktion gegen die Abriebpartikel stellt sich ein. Das hat zu vielen Misserfolgen geführt. Diese Entwicklung ist für mich ein Paradebeispiel dafür, dass wir eine super Lösung gemacht haben, solange die Schmierung gut ist. Niemand hat aber gedacht – nicht nur Claude Rieker oder die Forschungsleute von Winterthur nicht, sondern die gesamte Industrie nicht, inklusive der besten Labors auf diesem Gebiet der Biotribologie –, niemand hat gedacht, was passiert, wenn die Schmierung fehlt. Stattdessen haben wir damals angenommen, dass wir mit grossen Metall-Metall-Paarungen wirklich die beste Lösung für die jungen aktiven Patienten haben. Heute gibt es keine Metall-Metall-Paarungen mehr auf dem Markt. Sie haben einen schlechten Ruf erhalten. Wir haben sogar vor fünf Jahren aufgehört, die kleinen Metall-Metall-Paarungen zu verkaufen. Professor Ochsner, Sie wissen, wenn Sie hundert Patienten mit einer Hüftprothese operieren, sind 95 sehr zufrieden, vielleicht ein Patient oder zwei Patienten kommen immer zu Ihnen und sagen: «Herr Professor, es geht mir schlecht.» Es gibt immer dieses ein, diese zwei Prozent von Patienten, die nie zufrieden sind. Die Orthopäden haben Angst gehabt: «Wenn ich einen solchen Patienten mit einer Metall-Metall-Paarung habe, habe ich schnell Anwälte am Hals.» Deshalb sind sogar die kleinen Durchmesser vom Markt verschwunden, obwohl genügend Literatur aus Wien, Lille, Montreal bestätigt, dass deine [Semlitsch] alten Metall-Metall-Paarungen, Metasul, sehr gut funktionieren.

Abb. 11. Schalenprothese nach Maurice E. Müller, circa 1965, als knochensparender Oberflächenersatz (Resurfacing). Dieser Prothesentyp war nie ein kommerzieller Erfolg. Foto: R. Zimmermann, Medizinsammlung Inselspital Bern, Inventar-Nr. 15022

Semlitsch: 28 Millimeter Kugeldurchmesser.

Rieker: Ja.

Ochsner: Aber wir haben ja eigentlich noch eine interessante Situation, dass bei diesen grossen Schalenprothesen, da haben wir im Wesentlichen drei Produzenten gehabt: die Birmingham Hip, die …

Rieker: DePuy

Ochsner: Die DePuy ASR Schalenprothese und die Durom Schalenprothese von Zimmer – das ist eigentlich die Reihenfolge, die erstentwickelte ist am spätesten verschwunden.

Rieker: Die Birmingham ist immer noch auf dem Markt.

Ochsner: Ist immer noch auf dem Markt?

Rieker: Ja. Ich gebe ein sehr gutes Beispiel. Das war im Januar vor zwei Jahren. Andy Murray, der Tennisspieler, hat eine McMinn aus Resurfacing erhalten. Er spielt jetzt unregelmässig, er hat am Anfang nur Doppel gemacht, dann auch gewisse Turniere wieder einzeln gespielt.

Semlitsch: Das Problem ist die Verankerung bei diesen Schalenprothesen.

Ochsner: Die wird natürlich angegriffen, wenn die Reibung grösser ist.

Rieker: Diese Schalenprothesen sind immer noch auf dem Markt. Vermutlich aber nur Smith & Nephew mit der Birmingham Hip. Ich weiss, dass es in Frankreich zehn Orthopäden gibt, die vom Staat die Erlaubnis haben, solche Prothesen einzusetzen. Denn das ist wirklich eine andere Operation. Wenn ein Orthopäde weniger als zwanzig pro Jahr macht, bleibt er in dieser sogenannten Learning Curve – ich hasse diese. Aber es gibt Orthopäden, die machen 500 pro Jahr. Sie haben meistens sehr gute Ergebnisse. Man weiss, eine Resurfacing ist nicht gerade die beste Prothese für Frauen, und man weiss, der minimale Durchmesser muss im Bereich von 50 Millimetern sein. Aber wenn ein Patient männlich ist, sportlich, zwischen 50 und 60, dann ist die beste Lösung heute immer eine Resurfacing oder eine Schalenprothese. Wenn man für einen solchen Patienten eine normale Prothese nehmen würde, würden die klinischen Ergebnisse schlechter ausfallen. Es gibt deshalb heute eine sehr kleine Nische für Metall-Metall-Paarungen, aber nur als Resurfacing.

Ingold: Das heisst aber auch, dass bei all diesen Überlegungen zu Materialkombinationen die Operationstechnik oder die Übung des Operateurs extrem wichtig für das Langzeitergebnis einer Prothese ist.

Rieker: Ja.

Ochsner: Wir dürfen auch etwas nicht vergessen in dem Zusammenhang. Der Tod von Metall-Metall war auch das hoch vernetzte Polyethylen. Das ist eine einfache Paarung von weich-hart. Weich-hart ist eine ideale Geschichte und hat das Metall-Metall vertrieben.

Rieker: Das ist richtig, was Sie sagen. Zum Beispiel war in den 1980er-Jahren die beste Paarung Polyethylen-Keramik. Dann kommt Metall-Metall 1988, etwa diese Paarung hier.

Semlitsch: Das war Polyethylen-Keramik [zeigt Unterlagen].30

Rieker: Und dann kommt dieses hoch vernetzte Polyethylen. Chemisch gleich, aber die Struktur ist anders.

Semlitsch: Das ist hoch vernetztes Polyethylen.

Rieker: Es gibt mehr Verbindungen zwischen den Ketten. In Winterthur heisst das hoch vernetzte Polyethylen Durasul. Die erste Durasul wurde zehn Jahre nach der ersten Metasul implantiert. Heute haben wir zwanzig Jahre plus Erfahrung mit Durasul und wir haben dreissig Jahre Erfahrung mit Metasul. Man kann zum Beispiel das Register von Australien nehmen. Jede Prothese in Australien ist registriert. Wenn der Operateur eine Revision machen muss, dann kommt das ins Register. Deshalb kann man ihm entnehmen, welche Paarung besser, welche schlechter abschneidet [lauter Knall, als Semlitsch eine Prothesenkugel auf dem Glastisch in eine Pfanne schlägt] – ein richtiger Orthopäde.

Semlitsch: Ich hätte da draufschlagen sollen, weil es Holz ist.

Rieker: Nichts passiert. – Man sieht heute, wie viele Revisionen es nach zwanzig Jahren gibt. Wenn ich hundert Prozent für die alte Keramik-Polyethylen annehme, habe ich mit Metasul vielleicht nur sechzig Prozent. Man kann also sagen, wir sind besser. Oder man vergleicht die alte Paarung mit dieser Cross-Linked-Poly, dann bin ich vielleicht nur bei dreissig Prozent. Es ist klar, Cross-Linked-Poly, hoch vernetztes Polyethylen, ist heute besser als Metall-Metall. Der grosse Vorteil: Die Positionierung ist immer wichtig, das ist klar. Aber es gibt ein Wort auf Englisch, forgivingness

Ochsner: Forgiving, more forgiving.

Rieker: More forgiving. Eine kleine Ungenauigkeit des Orthopäden führt in den meisten Fällen zu keiner Katastrophe. Ich sage immer: «Es gibt gute Operateure, es gibt leider auch weniger gute Operateure. Manchmal haben wir einen super Tag, manchmal haben wir einen schlechten Tag. Für mich macht heute eine gute Prothese aus, wenn ein weniger guter Operateur mit einem schlechten Tag trotzdem gute Ergebnisse hat.» Die Problematik dieser grossen Metall-Metall-Paarungen: Der Orthopäde muss sehr genau sein, er muss auch sehr sorgfältig arbeiten. Das kommt auch von Manfred Semlitsch. Er hat immer gesagt, dass etwas sehr wichtig sei – Professor Ochsner kann das nur bestätigen: Eine Konus-Steckverbindung muss trocken und sauber sein. Der Orthopäde muss das reinigen, trocken. Wenn ein gutes Interface vorhanden ist, kann er die Kugel implantieren. Man weiss, dass zum Beispiel Flüssigkeit den Reibungskoeffizienten verschlechtert. Wenn der Reibungskoeffizient tiefer ist, werden Mikrobewegungen wahrscheinlicher. Diese grossen Metall-Metall-Kugeln waren schwierig, weil die Positionierung extrem wichtig war. Das war für uns unbekannt am Anfang. Der Operateur muss sehr sauber arbeiten, um dieses Interface sauber zu haben. Dazu kam in den Jahren 2000, 2005 diese Mini-Invasive Surgery. Jeder Orthopäde hat gesagt: «Mein Schnitt ist immer kleiner und kleiner und kleiner.» Ich habe immer gesagt: «Das ist ein Blödsinn, weil der Schnitt am Ende so klein ist, dass der Operateur praktisch nicht mehr sieht, was er macht.» Wenn der Operateur blind ist, wird es für ihn schwierig, einen guten Job zu machen. Sogar das Reinigen wird schwieriger. Alle diese Faktoren haben dazu geführt, dass es heute keine Metall-Metall-Paarungen mehr auf dem Markt gibt.

Ochsner: Noch ein kleines Positivum: Hoch vernetztes Polyethylen ist verhältnismässig billig.

Rieker: Ja. Ich spreche nicht über Preise, weil ich zu weit weg vom Markt bin, um den Preis von Produkt A, B oder C zu kennen.

Ingold: Der Moment, als Allo Pro und Protek von Sulzer übernommen wurden, war das auch der Moment, wo Figuren wie Huggler, Weber und Müller weniger wichtig wurden für die Weiterentwicklung von Prothesen? Der Moment, ab dem die Autoren nicht mehr die Motoren hinter der Entwicklung sind, sondern die Industrie ihre eigenen Wege geht. Oder gibt es da keine Veränderung?

Rieker: Doch. Am Anfang war die Prothese wirklich die Idee von Herrn Professor A, B oder C. Es hat jeder seine Aura gehabt. Ich erinnere mich noch gut an die ersten Hüftkurse in Bern. Sie haben meine kleine Geschichte mit Maurice Müller gelesen.31 Ich war sehr erstaunt, als ich nachher sah, dass jeder Orthopäde – das waren Weill, Schuster, Morscher zum Beispiel oder Spotorno – mit uns eine Pfanne entwickelt hat.32 Einmal sollte man die Pfanne schrauben, einmal war sie etwas elastisch – jede Prothese war anders. Jeder hat gesagt: «Meine Prothese ist besser als alle anderen.» Das war ein Kampf unter Alphatieren. Die Leute haben gesagt: «Ich vertraue Herrn Professor sowieso, deshalb würde ich auch seine Prothese entwickeln.» Ein Paradebeispiel ist Frankreich: Man hat probiert, eine sogenannte Autorengruppe mit bis zu zehn Orthopäden zu haben. Bei zehn Leuten ist klar, es sind zwei oder drei, die wirklich arbeiten, fünf, die das mitverfolgen, und zwei, die nicht mitmachen. Die Absicht hinter dieser Gruppe war nicht, noch mehr Ideen zu haben oder etwas Besonderes zu entwickeln. Die Absicht war vielmehr, dass bei einer Autorengruppe von zehn Orthopäden sichergestellt ist, dass die Herstellerfirma zehn Kunden hat. Das war eine kommerzielle Denkweise, um sich die Loyalität der Orthopäden zu sichern, um sie mit der Firma besser zu verbinden. Heute gleichen sich die Portfolios von Zimmer Biomet, DePuy oder Smith & Nephew. Ein Paradebeispiel ist diese Prothese hier: Diese Prothese ist eine Nachentwicklung des Geradschafts von Müller. Sie ist gut vergleichbar. Aber diese weisse Prothese, die ist hier ein bisschen breiter, sie besitzt eine Stufe, das ist weiss. Diese Prothese wurde entwickelt von einer Gruppe von Franzosen rund um Lyon. Sie heisst Corail. Sie hatte eine kleine Ausstrahlung gehabt lokal. Dann wurde die Herstellerfirma an DePuy verkauft. DePuy konnte die Prothese dann weltweit verkaufen. Heute ist die Prothese Corail der Erfolgsträger für DePuy. Aber jede Firma hat jetzt eine solche Prothese im Portfolio.

Semlitsch: Beschichtet mit Hydroxylapatit/Titan.

Rieker: Beschichtet. Aber ist das eine Kopie? Eine Verbesserung? Bei uns heisst das Modell Avenir, bei Smith & Nephew heisst es Polar und so weiter.

Ochsner: TwinSys.

Rieker: TwinSys bei Mathys. Das ist wie in der Autoindustrie. Es gibt die Autoklasse A, kleines Auto, es gibt B, es gibt C und so weiter. In der Autoindustrie wäre das eine Klasse C, das ist ein Golf oder ein Peugeot 308 oder irgendetwas. Aber diese Prothesen sind so ähnlich, dass es für den Operateur keinen grossen Unterschied macht, ob er mit der Firma A, B oder C arbeitet, weil die Portfolios so vergleichbar sind. Jede Firma probiert, irgendwo eine Spezialität zu haben. Bei uns ist das diese Trabecular Metal, diese poröse Oberfläche. Bei Smith & Nephew ist das zum Beispiel Oxinium und so weiter. Jede Firma versucht, etwas Besonderes zu haben, um anders zu sein. Manchmal ist das aber auch gefährlich. Ich habe oft gesehen, dass eine kleine Firma ohne Erfahrung eine Kopie einer bekannten Prothese macht mit einer Differenzierung. Das kann extrem gefährlich sein. Wie kann man eine Prothese mit einer Revisionsrate von zwei oder fünf Prozent nach zwanzig Jahren verbessern? Die Leute wollen etwas leicht anders machen. Am Ende kann die Veränderung eine Verschlechterung sein, nur weil man anders sein will, um etwas anderes im Portfolio zu haben. Es gibt keine Garantie dafür, dass die neue Prothese besser ist. Heute haben wir ein derart hohes Niveau erreicht, dass es sehr schwierig ist, überhaupt etwas besser zu machen und das dann auch noch zu beweisen. Wenn man die Prothese A mit einer Zwei-Prozent-Revisionsrate nach zehn Jahren und die Prothese B mit einer Drei-Prozent-Revisionsrate nach zehn Jahren vergleichen möchte, muss man zuerst zehn Jahre warten, und wenn Sie sagen möchten, dass die Zwei-Prozent-Rate statistisch besser ist als die Drei-Prozent-Rate, sollten Sie mehr als zehntausend Prothesen pro Gruppe haben. Sie sollten also etwa zwanzigtausend Prothesen haben und diese während zehn Jahren verfolgen. Das ist nicht machbar.

Semlitsch: Die Unterschiede kommen erst nach fünfzehn Jahren, oder vor zehn Jahren.

Rieker: Ja. Herr Semlitsch hat sich seine Meinung über die Manager gemacht. Aber heute ist die Situation, sagen wir, anders, um höflich zu bleiben. Die Manager, die zu uns kommen, haben keine Ahnung von Orthopädie. Sie denken nur an Technologie: Das iPhone10 war besser als das achte, und das iPhone12 wird vielleicht besser als das zehnte. Newer is better. Unser CEO sagt, er möchte, dass ein Drittel von unserem Umsatz mit Produkten gemacht wird, die weniger als X Jahre auf dem Markt sind. Ich muss sagen, er hat nicht verstanden, worum es geht. Dieses Produkt hier – vielleicht mit einer besseren Politur hier ...

Semlitsch: Das ist ein Rohling!

Rieker: Ich weiss, aber ich nehme das als Produkt. Die Prothese wurde 1977 auf den Markt gebracht. Sie [Peter E. Ochsner] waren dabei, du [Manfred Semlitsch] warst dabei, ich war fünfzehn Jahre alt …

Ingold: Ich war nicht dabei, noch nicht auf der Welt.

Rieker: Die Leute verstehen nicht, dass ein solches Produkt erprobt ist. Man kennt die klinischen Ergebnisse, diese Prothese ist genial. Jeder Orthopäde ist fähig, eine richtige Positionierung zu finden. Ob er gut oder weniger gut ist, ob er fit oder besoffen ist – es tut mir leid, dies zu sagen. Es ist nicht möglich, diese Prothese umgekehrt zu montieren. Vielleicht war das möglich mit einer solchen Geometrie [Rieker zeigt eine Bogenschaftprothese], weil sich hier die Frage stellt, wo die Achse der Prothese ist.

Semlitsch: Die Idee von Maurice Müller war ja, Trochanterosteotomie zu vermeiden und einen möglichst kurzen Hautschnitt zu machen. Sein Motto war: vier Finger breit. Die Prothese hineinschmuggeln entlang einer Kurve.

Ochsner: Die Bogenschaftprothese war meine erste, die ich implantiert habe.

Semlitsch: War Ihre erste.

Rieker: Man sieht, es ist heute sehr schwierig auf diesem Gebiet, etwas besser zu machen. Deshalb kommt man jetzt zum Beispiel mit anderer Technologie. Sehr modisch ist gerade diese Robotergeschichte, dass ein Roboter dem Orthopäden hilft, eine richtige Positionierung der Implantate zu erreichen.

Semlitsch: Glaubst du daran?

[Rieker schweigt.]

Ingold: Wir machen einen Sprung. Sie waren nach der Jahrtausendwende Director of External Research bei der Zimmer GmbH. Da stelle ich mir vor, dass Sie unter anderem auch Aufträge an Universitäten zu vergeben hatten. Es gibt diesen Begriff der Translationalen Medizin, der gerade zu diesem Zeitpunkt an Fahrt gewinnt, der für Programme steht, die versuchen, Grundlagenforschung schneller in Anwendungen zu überführen. Ist das ein Thema in der Hüftgelenkprothetik oder war das damals ein Thema in der Hüftgelenkprothetik? Welches Wissen haben Sie von Universitäten als Firma …

Rieker: Die Antwort ist jein. Ich finde das Wort jein, das es auf Französisch oder Englisch nicht gibt, genial. Ich muss sagen, der Titel war angenehm, die Arbeit war beschissen. Wieso? Wir haben immer eine gewisse Zusammenarbeit mit Universitäten oder mit Orthopäden gefördert. Wir haben ihnen sicher in der Histologie geholfen oder beim Register. Das Register der Uni Genf wurde von der Industrie finanziert. Wir haben oft mit gewissen Unilabors oder Forschungslabors Grundlagenforschung gemacht Richtung Tribologie, Richtung Biomechanik. Die Idee war, eine andere Sicht unserer Produkte zu erlangen oder, manchmal, eine andere Technologie zu gewinnen. Ich war nach der Fusion zwischen Centerpulse – das war die alte Sulzer – und Zimmer Director of External Research. Zimmer USA war immer sehr schwach in Europa, wir waren schwach in den USA. Wir waren gut in der Hüfte, sie waren gut im Kniebereich. Damals hat Zimmer diese externe Forschung finanziert, manchmal grosszügig, ohne wirklich in die Details zu gehen, ohne zu fragen, ob diese Forschung wirklich interessant ist. Aber das war ein sehr guter Weg, um die Verbindung zwischen Zimmer und einem Unispital zu pflegen. Zimmer hat immer gehofft, mit dieser Unterstützung würde das Unispital zufällig auch bestimmte Produkte bestellen. Das Ziel der Finanzierung externer Forschung ging manchmal eher in diese Richtung. Mit dieser externen Forschung haben sie also manchmal Marktanteile eingekauft. Aber das war eine schwierige Zeit, weil damals das US Department of Justice gemerkt hat: Es gibt gewisse Transfers von Geld, die nicht wirklich gerechtfertigt waren. Deshalb kam das Wort Compliance. Früher gab es auf einer Ausstellung immer Kaffee, Gipfeli und Tee. Das war nun nicht mehr möglich. Man konnte nur noch Wasser anbieten – schon einen Bleistift abzugeben, galt als eine Bestechung. Ich habe diese Position gerade zu diesem Zeitpunkt übernommen. Das war interessant, weil ich sehr viel unterwegs war, ich habe sehr viele Projekte gesehen. Ein Teil dieser Projekte ergab keinen Sinn. Dann sagte ich: «Tut mir leid, das machen wir nicht, hier ist eine Publikation von Herrn Semlitsch oder von jemand anderem, das wurde schon untersucht vor fünfzehn Jahren.» Einige Projekte waren auch wirklich interessant. Allerdings muss ich sagen, dass meine Erfolgsquote, interessante Forschung zu finanzieren, praktisch gleich null war. Als wir noch eine Schweizer Firma waren, entschied Monsieur Fritschi33 über die Finanzierung externer Projekte. Er sagte jeweils «go» oder «no go». Später, als wir kein Schweizer Unternehmen mehr waren, sollte man ganz viele Papiere ausfüllen, die dann bei jemandem am Hauptsitz in Warsaw, Indiana, landeten. Weil per Definition die Bedürfnisse in den USA und in Europa wie Tag und Nacht sind, bekam ich praktisch nie ein Projekt freigegeben. Nach 18 Monaten sagte ich: «Es tut mir leid, aber das ist sehr, sehr frustrierend.» Deshalb gab ich diese Stelle auf. Heute sind wir wahrscheinlich zu gross, um wirklich richtige Innovation intern zu entwickeln. Wenn ich diese Liste von Werkstoffen sehe, die Manfred Semlitsch bis Mitte der 1990er-Jahre entwickelt hat – das ist ein Traum!34 Unsere Forschungsabteilung, die macht heute keine Forschung mehr. Die Forschung – das ist nun sehr stark schwarz-weiss, aber: 80 Prozent der Forscher arbeiten, um Berichte zu schreiben, um die Anforderung für die CE-Markierung zu erfüllen. Das ist rein administrative Arbeit, die Forschungsaktivität ist sehr gering. Das ist heute so, weil die Anforderungen, die von der EU oder von der FDA verlangt werden, um eine neue Prothese auf den Markt bringen zu dürfen, nicht mehr vergleichbar sind mit jenen vor zehn oder dreissig Jahren. Ich gebe ein Beispiel. Zimmer war immer sehr gut im Kniebereich. Man sieht das an den Generationen künstlicher Kniegelenke von Zimmer. Zuerst war Miller/Galante, dann kam NexGen und jetzt kommt Persona. Mein Beispiel ist vielleicht fünf Jahre alt. Die FDA kam nach Warsaw, Indiana. Sie nahm ein Produkt und hat gesagt: «Bitte gib mir für dieses Produkt die gesamte Dokumentation.» Wir hatten damals immer noch die uralte Miller/Galante im Portfolio gehabt. Wieso? Es gab für dieses Produkt eine kleine Kundschaft. Diese Orthopäden waren sehr vertraut mit diesem Produkt, sie haben diese Prothese dreissig Jahre lang implantiert. Sie haben deshalb gesagt: «Ich möchte nicht wechseln, ich habe gute Ergebnisse, ich gehe so weiter.» Die FDA nahm das technische Dossier über die uralte Miller/Galante und fing an zu lachen. Denn: Was war damals getestet worden? Die Tests entsprachen den Anforderungen von vor dreissig Jahren. Wenn man dieses Produkt jedoch auf dem Markt behalten möchte, muss man die heutigen Anforderungen erfüllen. Das würde wahrscheinlich um die fünf Jahre Arbeit im Labor bedeuten. Man müsste alle diese Tests wiederholen, neu machen, obwohl das Produkt erprobt ist seit dreissig Jahren. Wie hat Zimmer reagiert? Ab sofort stand das Produkt nicht mehr zur Verfügung. Man sieht, die Pionierzeiten sind wirklich vorbei.

Ingold: Sie begannen bei der Protek AG zu arbeiten, blieben eigentlich immer in der gleichen Firma, mittlerweile sind Sie aber bei Zimmer Biomet, weil fusioniert wurde. Zimmer ist ein amerikanisches Unternehmen. Die Märkte in den USA und in Europa waren sehr verschieden. Wie ist das heute bei Zimmer? Geht mit dem Zusammenführen der Firmen auch eine Angleichung der Märkte einher? Verkauft Zimmer heute in den USA und in Europa die gleichen Prothesen oder sind die Märkte immer noch sehr verschieden?

Rieker: Gleiche Antwort wie vorher: jein. Eine grosse Uniformität gibt es im Kniebereich. Das war immer so. Bei Protek haben wir probiert, mit Freeman35 etwas zu machen, mit der SAL, mit den Kanadiern – wir haben alles probiert. Es war nie möglich, einen richtigen Marktanteil zu erreichen. In Europa sind die meisten Knieprothesen amerikanisch. Wenn Sie mir noch zwei Stunden geben, kann ich Ihnen das erklären. Bei der Hüfte sind die Märkte in den USA und in Europa wie Tag und Nacht. Ich vergleiche das immer mit dem Strassenverkehr: In den USA sehen Sie auf den Strassen ganz andere Autos fahren als zum Beispiel in Bern. Im Hüftbereich verhält es sich genauso. Zwar wird teilweise die gleiche Terminologie verwendet, aber mit einer ganz anderen Bedeutung. Das typische Beispiel ist eine Pressfit-Pfanne. Was ist eine Pressfit-Pfanne in Europa? Das heisst: Der Pol ist abgeflacht, und der Äquator der Pfanne breiter. Es gibt mehr Kräfte am Rand, weil dort die Pfanne grösser ist, und es gibt weniger Kontakte am Pol. Eine Pressfit-Pfanne in Europa ist meistens elliptisch. In den USA ist eine Pressfit-Pfanne völlig rund, aber wenn der Orthopäde eine 50-Millimeter-Pfanne hat, fräst er vielleicht 48 oder 49 Millimeter völlig hemisphärisch. Sie nennen das auch Pressfit, obwohl die Philosophie ganz anders ist, gar die Grundgeometrie nicht vergleichbar ist. Wenn die Amerikaner trotzdem probieren, eine Pressfit wie bei uns zu machen, nehmen sie statt einer Fräse, die einfach rund ist, eine Fräse, die parabolisch ist. Sie versuchen, ein Loch zu machen, das tiefer im Pol und weniger breit am Äquator ist. Aber das ist eine ganz andere Philosophie. Ein gutes Produkt in Europa ist praktisch unverkäuflich in den USA, weil die Instrumente anders sind und die Denkweise verschieden ist. Die Prothetik des Hüftbereichs ist in Europa und in den USA wie Tag und Nacht. Man verkauft sehr wenig Produkte aus den USA in Europa und praktisch keine Produkte zum Beispiel aus Winterthur in den USA. Der Marktanteil ist sozusagen gleich null.

Ingold: Ist das darauf zurückzuführen, dass die Entwicklung der Hüftgelenke nicht von den gleichen Akteuren vorangetrieben wurde?

Rieker: In Europa war Charnley der Gründer der Orthopädie für Hüftgelenke. Für die USA habe ich zwei, drei Namen im Kopf, William Harris, Amstutz und vielleicht Rothman36 in Philadelphia. Ich habe vorher von Alphatieren gesprochen. Wie wir gesehen haben, hat in der Schweiz Maurice Müller die Müller-Prothese geändert, auch Professor Huggler hat eine leicht andere Geometrie gemacht. Die Amerikaner haben auch schnell eine andere Geometrie gemacht, so Harris und Amstutz. Damals gab es nur zementierte Pfannen. In Europa ist Erwin Morscher für mich der Vater der zementlosen Pressfit-Pfanne. Er hat das in Europa eingeführt. Die Amerikaner haben diesen Schritt nie gemacht. Sie sind bei etwas hemisphärischen und etwas zementierten Pfannen geblieben. Später etwas zu ändern, ist relativ schwierig, weil die Wahrscheinlichkeit gross ist, dass ein junger Operateur, der mit Professor Ochsner arbeitet, auch die gleiche Idee und die gleiche Philosophie wie sein Professor entwickelt. Es gibt ein paar andere, die machen, wenn der Professor A sagt, B. Aber die meisten Leute bleiben in derselben Philosophie. Deshalb entstanden zwischen Europa und den USA mit der Zeit grosse Unterschiede im Hüftbereich.

Ochsner: Es war ja auch so, dass wir damals als junge Orthopäden Stipendien ausnutzten, um nach Amerika zu gehen, und da besonders auch die Kniechirurgie anschauten, zum Beispiel bei Insall37 im Hospital for Special Surgery. Dann brachte man diese Philosophie mit, weil wir weniger Erfahrungen hatten.

Ingold: Zurück zu Herrn Semlitsch. Wir haben Schweden ganz am Anfang erwähnt, dass Sie sich da eigentlich die Qualifikationen erworben hatten, um sich bei Sulzer dann mit diesen Untersuchungen mit der Elektronenstrahlmikrosonde und so weiter den Hüftgelenkprothesen und dem Gewebe zu nähern. Schweden war ganz wichtig für Ihre Laufbahn, kann man im Nachhinein sagen. Wie kam es überhaupt, dass Sie diesen Schritt aus Österreich nach Schweden gemacht haben?

Semlitsch: Ich habe eine sehr einfache Erklärung. Österreich hat eine beschissene Politik, schwarz-rot. Zum damaligen Zeitpunkt, 1960, als ich mit meiner Doktorarbeit fertig war, hat man mir empfohlen, entweder der schwarzen Partei oder der roten Partei beizutreten. Weil die Direktion zum damaligen Zeitpunkt in der verstaatlichten Industrie in Österreich immer rot war, wäre es günstiger gewesen, der schwarzen Partei beizutreten, weil die Kette der wartenden Leute, die in die Industrie wollen, kürzer ist. Da habe ich gesagt: «Ich einer Partei beitreten? Kommt nicht infrage. Ich wandere aus.» Da habe ich durch Zufall das schwedische Angebot in dem Forschungsinstitut in Västerås bei Svenska Metallwerken bekommen. – Das ist der Grund, warum ich nach Schweden ausgewandert bin ...

Ingold: Was Sie dann qualifiziert hat, um bei Sulzer in der Schweiz 1966 einzusteigen.

Semlitsch: Und warum ich in die Schweiz gegangen bin: Schweden ist in Europa das erste Land, das alles von Amerika übernimmt, inklusive der Drogen für die Jugend in den 1960er-Jahren. Da wollte ich meine beiden Söhne nicht aufwachsen lassen. Deshalb habe ich nach fünf Jahren versucht, doch wieder nach Österreich zurückzugehen. Aber die haben mir so miese Angebote gemacht, dass jeder Forschungsdirektor, der mich engagieren wollte, beim Mittagessen gesagt hat: «Vergessen Sie Österreich.» Der zweite Forschungsdirektor bei Böhler in Kapfenberg sagte: «Weiter im Westen hat es auch noch schöne Berge.» Darauf habe ich beim Literaturstudium auf meinem Schreibtisch zufällig ein Angebot von Sulzer Winterthur gesehen, in einer Kupferzeitschrift, dass sie einen Kristallografen suchen. Das war genau die praktische Ausbildung, die ich in Schweden gemacht hatte, mich als Chemiker Metallstrukturen im Atombereich mittels Röntgenstrahlen und Elektronenstrahlen zu widmen. Das habe ich fünf Jahre aus dem Effeff gelernt, und zwar an den Apparaturen selbst. Mein Schreibtisch war praktisch nur der Auswertungsort der Untersuchungsresultate, die ich selbst an den Instrumenten erarbeitet hatte. Ich war gewissermassen Laborant, Auswerter und der, der es publiziert hat. So bin ich zu Sulzer gekommen.

Ingold: Danke!

Notes

1Die ersten acht Minuten der Tonbandaufnahme spricht Semlitsch über die Interviews von Jürgen Kuttruff. Das Transkript setzt mit Fragen zu Unklarheiten aus dem telefonischen Vorgespräch mit Semlitsch ein. ↩︎
2Zu Willert siehe Kapitel «Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz», Anmerkung 28. ↩︎
3 Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt. ↩︎
5Die Bogenschaftprothese setzte Müller ab 1966 ein. Vgl. Müller: Total hip prostheses, 1970. Zu den Problemen dieses Modells vgl. Knöbel: Entwicklung, 2018, S. 81. ↩︎
6Semlitsch schrieb: «Die Anfang der 1960er-Jahre für Huggler-Hüftschäfte, -Kugeln und -Pfannen von Herrn Otto Frey hergestellten Gusskomponenten hatten alle die gleiche Komposition, Co-28Cr-6Mo-0,25C, und diese Komposition war ohne Entspannungsglühung (Markennamen: WF101, Vitasul, Protasul-1). Nach den allerersten Schaftbrüchen entwickelte ich zum Abbau von inneren Spannungen im Gussgefüge eine optimale Glühung, um die Ermüdungsfestigkeit zu erhöhen (Markenname: Protasul-2). Zum Ausschluss von Schaftbrüchen war es jedoch notwendig, die warm geschmiedete Co-35Ni-20Cr-10Mo-Legierung (Markenname: Protasul-10) zu entwickeln. Mein Endziel erreichte ich mit der warm geschmiedeten Co-28Cr-6Mo-0,25C-Legierung mit extrem hoher Ermüdungs- und Verschleissfestigkeit (Markennamen: Protasul-21WF und Metasul, 28-Millimeter-Pfannen-Kugel-Paarung).» E-Mail an Peter E. Ochsner, 21.11.2021. ↩︎
10Heinrich Scheier (1926–2021) war von 1969 bis 1999 Co-Chefarzt der Schulthess Klinik. ↩︎
12Peter G. Niederer leitete vor seinem Wechsel zur Protek AG das Labor für Biomechanik der Fondation Maurice E. Müller. Vgl. M. E. Müller-Institut für Biomechanik der Universität Bern: Jahresbericht, 1982, S. 3. ↩︎
13 Semlitsch schrieb: «Müller-Bogenschaftprothese». Anmerkung zum Transkriptentwurf vom 28.01.2022. ↩︎
15Jakob Krättli war ab 1951 Verwalter des Kantonsspitals Chur. 1968 amtete er als einziger Verwaltungsrat der Allo Pro AG. Vgl. Allo Pro AG: Allo Pro AG, 1968, S. 1373. Rudolf Lötscher war der erste Geschäftsführer der Allo Pro AG. ↩︎
17Harold Vasey (1930–2002), orthopädischer Chirurg, ab 1961 Assistent bei Maurice E. Müller in St. Gallen, Oberarzt und später Ordinarius für orthopädische Chirurgie in Genf. ↩︎
18Vgl. Müller; Boitzy: Totalprothesen, 1968, S. 3. Laut dieser Quelle stellte Müller die Gleitlager bereits am SICOT-Kongress vor. ↩︎
19Zu Boitzy siehe Kapitel «Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz», Anmerkung 7. ↩︎
20Frau Kostrz und Herr Sutter arbeiteten gemäss Semlitsch bei Sulzer in der Abteilung Reinraumtechnik. E-Mail an Ingold, 16.07.2022. ↩︎
21Zu Morscher siehe Kapitel «Maurice E. Müller und die Entwicklung künstlicher Hüftgelenke in der Schweiz», Anmerkung 31. ↩︎
22Centre Suisse d’Électronique et de Microtechnique (CSEM). Die ausseruniversitäre Forschungseinrichtung entstand im Jahr 1984, als die Schweizerische Stiftung für feintechnische Forschung (FSRM), das Centre électronique horloger S. A. (CEH) und das Laboratoire suisse de recherche horlogère (LSRH) ihre Labors zusammengelegt haben. Vgl. U. M.: Bundesengagement, 1984. ↩︎
23Semlitsch schrieb: «22-Millimeter, TiN-beschichtete Metallkugeln.» Anmerkung zum Transkriptentwurf vom 28.01.2022. ↩︎
24Peter Liniger war Verkaufsleiter bei der Protek AG und bei Zimmer Schweiz bis 2008. Ergänzung Rieker zum Transkriptentwurf vom 08.10.2021. ↩︎
25Robert Streicher war Leiter der Tribologie/Kunststoffgruppe bei Sulzer Medizinaltechnik von 1981 bis 1995. Ergänzung Rieker zum Transkriptentwurf vom 08.10.2021. ↩︎
26Rolf Schön war Projektleiter der Tribologie. Rolf Schön starb im November 2006 in seinem 55. Altersjahr an seinem Arbeitsplatz. Ergänzung Rieker zum Transkriptentwurf vom 08.10.2021. ↩︎
27Das optimale Spiel betrug 0,15 Millimeter. Gemäss Ergänzung Semlitsch zum Transkriptentwurf vom 08.10.2021. ↩︎
29Rieker schrieb: «Abrasiver Verschleisstest mit zugesetzten Partikeln zwischen den zwei beweglichen Gelenkteilen.» Ergänzung zum Transkriptentwurf vom 08.10.2021. ↩︎
31Rieker besuchte vor seinem Eintritt in die Protek AG einen Hüftkurs in Bern. Es ergab sich, dass Maurice Müller sich neben ihn setzte und mitbekam, dass er keine Ahnung von der Operationsplanung hatte. Müller soll darauf gesagt haben: «Mais quel est le fou qui vous a engagé, vous ne savez même pas faire une planification?» Riekers zukünftiger Chef eilte ihm zu Hilfe und beruhigte Müller. Vgl. Entretien: Claude Rieker, 2019. ↩︎
32Dan Weill war Orthopäde am Hôpital Belle Isle in Metz, Frankreich. Ab 1984 verkaufte die Protek AG einen mit ihm entwickelten Hüftpfannenring. Pierre Schuster arbeitete an der Clinique Saint-Nabor in Saint-Avold, Frankreich. Lorenzo Spotorno (1936–2009) war am Santa Corona Hospital in Pietra Ligure, Italien, tätig. Vgl. dazu Frick: Technische Abteilung, 2021. ↩︎
33Richard Fritschi kam 1992 als Manager bei der Allo Pro AG zu Sulzer. Er arbeitete dann bis 2005 in verschiedenen Positionen für Sulzer Medica, Centerpulse und Zimmer. 2005 wurde er CEO der Ypsomed AG. Vgl. Fritschi: Fritschi. ↩︎
34Semlitsch schrieb: «Aber wahr und 2030 noch wahr.» Ergänzung zum Transkriptentwurf vom 08.10.2021. ↩︎
35Michael Freeman (1931–2017) hatte 1969 im London Hospital den ersten Kniegelenkersatz aus Metall und Kunststoff implantiert. Vgl. EFORT Head Office: Michael Alexander Reykers Freeman, 2017. ↩︎
36Harlan C. Amstutz (1931–2021), Richard H. Rothman (1936–2018). Ergänzung Rieker zum Transkriptentwurf vom 08.10.2021. Zu Harris und Amstutz vgl. Anderson; Neary; Pickstone: Surgeons, 2007. ↩︎
37John N. Insall (1930–2000). Ergänzung Rieker zum Transkriptentwurf vom 08.10.2021. ↩︎