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doi.org/10.36950/edv-umb-2025.02
Christin Achermann

Von Yucatán über Hindelbank ins Flughafengefängnis: Gedanken zu akademischen Wegen und wissenschaftlichen Veränderungen

Abstract

Der Beitrag zeichnet einen wissenschaftlichen Werdegang nach, der von frühen ethnologischen Interessen hin zur sozialanthropologischen Gefängnisforschung in der Schweiz führte. Im Zentrum stehen Einblicke in den Alltag in Justizvollzugsanstalten, methodische Herausforderungen beim Zugang zum Feld sowie Überlegungen zur eigenen Forschungsrolle und Positionalität. Zugleich werden institutionelle Veränderungen im Umgang mit Forschungsvorhaben sichtbar, ebenso wie die Bedeutung von Vertrauen und Reflexivität im wissenschaftlichen Prozess. Der Beitrag reflektiert aus einer forschungspraktischen Perspektive, welche Erfahrungen, Dynamiken und Spannungsfelder sich bei der Forschung im Gefängniskontext zeigen.

Ein Seminar zu Yucatán – oder wie alles begann

Es war irgendwann Mitte der 1990er Jahre, als ich während meines Studiums in Ethnologie (wie das heutige Fach Sozialanthropologie damals noch hiess) an der Universität Bern erstmals von Ueli Hostettler hörte. Ein neuer Assistent war er, und er bot eine «Übung» oder ein Seminar zur Ethnologie der Halbinsel Yucatán an – an den exakten Titel und an die Kategorie der Lehrveranstaltung erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich erinnere mich gut, dass mich das Thema ansprach, nicht zuletzt, weil es eine Chance bot, an meine am Gymnasium erworbenen Kenntnisse der spanischen Sprache und des hispanophonen Raums – oder wie wir heute eher sagen würden: des durch das spanische Imperium kolonisierten Gebietes – anzuknüpfen. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich knapp zehn Jahre später mit eben diesem Yucatán-Spezialisten während mehreren Jahren in Schweizer Gefängnissen forschen würde. Bis es soweit war, überlegte ich mir allerdings zuerst, ob ich ein Austauschjahr an der mexikanischen Universität UNAM machen möchte, unter Vermittlung von Ueli Hostettler. Diese Idee setzte ich zwar nicht um, doch hatte die Lehrveranstaltung mein Interesse für Yucatán so sehr geweckt, dass sie mich zu einer dreimonatigen Reise durch Mexiko, Nordguatemala und Belize inspirierte. Während Ueli Hostettler die Universität Bern für eine postdoktorale Forschung wieder verliess und weiter zu Yucatán arbeitete, wandte ich mich immer mehr der Migrations-, Nationalismus- und der rechtsanthropologischen Forschung in der Schweiz und in Europa zu.

Dieser Beitrag für die Festschrift für Ueli Hostettler bietet eine willkommene Gelegenheit zur Reflexivität, um ausserhalb des standardisierten Formats wissenschaftlicher Beiträge über die lange Zeit, während der wir uns kennen und in unterschiedlichen Rollen und verschiedenen Themenbereichen zusammengearbeitet haben, nachzudenken. Dabei werde ich nicht nur unsere vor über zwanzig Jahren begonnene Gefängnisforschung Revue passieren lassen, sondern auch über einige wissenschaftliche Fragen reflektieren, die ich heute anders oder stärker beachten würde.

Gemeinsame Forschung und neue akademische Wege

Die Justizvollzugsanstalten Hindelbank und Thorberg als Tor zur Gefängniswelt

Nach Abschluss meines Studiums deutete wenig darauf hin, dass sich meine und Uelis Wege erneut kreuzen würden. Meine Lizentiatsarbeit, in der ich gemeinsam mit Stefanie Gass die Praxis der Einbürgerung in der Stadt Basel erforschte und analysierte (Achermann & Gass, 2003), hatte meine Forschungsleidenschaft geweckt und ich suchte nach Möglichkeiten, dieser weiter nachgehen zu können. Es war unser beider Doktorvater, Hans-Rudolf Wicker, der Ueli Hostettler und mich dann Anfang der 2000er Jahre wieder zusammenbrachte. Hans-Rudolf Wicker überlegte sich zu jener Zeit, beim Schweizerischen Nationalfonds im Rahmen des NFP 51 «Integration und Ausschluss»1 ein Forschungsprojekt zu ausländischen Strafgefangenen in Schweizer Gefängnissen zu beantragen (s. Wicker, 2012). Ich bekundete mein Interesse, in einem solchen Projekt eine Dissertation zu schreiben und das Projekt2 wurde schliesslich angenommen und finanziert. Neben mir als Doktorandin wurde Ueli als PostDoc angestellt – er war vor kurzem aus Belize und den USA nach Bern zurückgekehrt und hatte eine Teilzeitstelle als Oberassistent inne. Zur Unterstützung für die juristischen Fragen wurde Jonas Weber, damals Assistent am Institut für Strafrecht und Kriminologie, ins Team aufgenommen. Während dieses Forschungsprojekt für mich verschiedene Anknüpfungspunkte an meine bisherige Arbeit zu Migration, Staat und Umsetzung von rechtlichen Vorgaben bot, war für Ueli der Wechsel von Yucatán nach Hindelbank und Thorberg, von Peasant studies und ethnischer Heterogenität zu staatlichen Institutionen und Migrations- und Strafrecht wohl eine wesentlich grössere Veränderung. Gemeinsam war uns, dass wir das Universum «Gefängnis» und «Strafvollzug» zu erkunden und erfassen begannen. Ich erinnere mich gut daran, wie Hans-Ruedi, Ueli und ich zum ersten Mal gemeinsam auf den Thorberg fuhren, um mit dem damaligen Direktor, den Hans-Ruedi durch eine frühere Zusammenarbeit kannte, die Möglichkeit einer sozialwissenschaftlichen Studie zu erörtern. Der Anblick der im engen Krauchthal auf einem Felsen thronenden Strafanstalt, einer ehemaligen Ritterburg mit einem von weitem sichtbaren Berner Wappen an der Fassade, beeindruckte mich damals ebenso wie das mächtige Eingangstor und die Eingangskontrolle. Der Forschungszugang wurde uns glücklicherweise ohne grosse Komplikationen ebenso zur Justizvollzuganstalt Thorberg, in der männliche Verurteilte im geschlossenen Regime inhaftiert sind, gewährt wie zur Justizvollzugsanstalt Hindelbank, der einzigen deutschsprachigen Strafanstalt für weibliche Inhaftierte (s. Achermann, 2008; Fahrer, 2012; Kalir et al., 2019; Reichenau, 2021). So kam es, dass Ueli und ich während gut zwei Jahren zahlreiche Reisen in die beiden Anstalten unternahmen und uns die Institutionen, ihre Mitarbeitenden und die dort inhaftierten Menschen immer vertrauter wurden. Und gleichzeitig entstand zwischen Ueli und mir eine gute, gegenseitig bereichernde und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Auch zwanzig Jahre später sind mir zahlreiche Erlebnisse aus dieser Zeit noch sehr präsent.

Auch wenn wir unsere Feldforschung nicht auf einer weit entfernten Insel oder auf einem anderen Kontinent durchführten, stellte die räumliche Erreichbarkeit der Strafanstalten eine gewisse Herausforderung dar. Sowohl die Anstalt Thorberg als auch jene in Hindelbank befinden sich ausserhalb der Dorfzentren und sind schlecht an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden. Teilweise fuhr uns Ueli mit einem Mietauto zu den Anstalten. Häufiger aber waren wir mit dem Zug und dem Postauto unterwegs und legten den letzten Streckenabschnitt mit dem Velo oder zu Fuss zurück. Das anfängliche Erstaunen des Sicherheitspersonals über unsere Mobilitätsstrategien wich bald der Gewohnheit, dass die Forschenden auch in dieser Hinsicht etwas anders funktionieren als das Anstaltspersonal. Ein für mich angenehmer Nebeneffekt dieser Reisen war, dass ich als Nicht-Bernerin dank Uelis Lokalwissen die nähere ländliche Umgebung der Stadt Bern besser kennenlernte.

Beide Anstalten verfügen über ein altes Gebäude, in dem Direktion, Verwaltung und das Archiv untergebracht sind. In diesen als «Schloss» bezeichneten Anstaltsteilen, zu denen die Inhaftierten nur ausnahmsweise Zutritt haben, verbrachten wir einen beträchtlichen Teil unserer Forschungszeit. Das im Winter sehr kalte Archiv auf dem Dachboden der Anstalt Hindelbank hinterliess bei mir einen bleibenden Eindruck. Da wir oft ganze Tage in den Anstalten verbrachten und aufgrund der abgelegenen Lage eine Verpflegung ausserhalb umständlich gewesen wäre, assen wir jeweils in den Anstalten, in der Regel in der Kantine mit den Mitarbeitenden. Dies war etwa im Thorberg eine Gelegenheit für informelle Beobachtungen der Interaktionen und Dynamiken zwischen den Angestellten. Solche Informationen analysierten wir zwar nicht systematisch, sie trugen jedoch zu einem feineren Verständnis des institutionellen Kontextes bei.

In der Anstalt Hindelbank hatten wir die Möglichkeit, zu Beginn eine einwöchige «Stage» durchzuführen, was die einzige Möglichkeit zu einer eigentlichen teilnehmenden Beobachtung in der ganzen Forschungszeit war. Während der jeweils halbtägigen Aufenthalte auf den Wohngruppen sowie in den verschiedenen Betrieben, in denen die inhaftierten Frauen arbeiteten, erhielten wir einen Einblick in das Alltagsleben in der Justizvollzugsanstalt, konnten informelle Gespräche mit Mitarbeitenden und Eingewiesenen führen und wurden innerhalb der Anstalt bekannt. Während dieser Woche hat mich und Ueli jener Abend besonders beeindruckt, an dem wir auf einer Wohngruppe das Nachtessen einnahmen und schliesslich miterlebten, wie eine Mitarbeiterin beim abendlichen «Einschluss» eine Zellentür nach der anderen mit dem Schlüssel abschloss. Selbst wenn wir auf der anderen Seite der Türen standen und danach die Anstalt wieder verlassen konnten, wurde in diesem Akt und dem dazugehörigen Schliessgeräusch die Tatsache des Freiheitsentzugs besonders deutlich und spürbar. Diese Woche mit den zahlreichen, kurzen und oft beiläufigen Momenten, in denen wir neben den Interviews oder der Archivarbeit einen Einblick in die gelebte Praxis des Strafvollzugs erhielten, war sehr wertvoll, auch wenn wir uns mehr Möglichkeiten zur Beobachtung gewünscht hätten. Zum Zeitpunkt unserer Forschung bedauerten wir insbesondere das Fehlen einer solchen «Stage» auf dem Thorberg. Unser Ansinnen war jedoch mit Verweis auf Sicherheitsbedenken, insbesondere gegenüber mir als junger Frau, klar abgewiesen worden. Rückblickend und nach Jahren weiterer Forschung in staatlichen Organisationen, darunter solchen des Freiheitsentzugs, erscheint mir der komplikationslos gewährte Zugang und das sehr grosse Vertrauen, das wir vonseiten der beiden Justizvollzugsanstalten genossen, als sehr positiv und keineswegs selbstverständlich. Gerade gegenüber Beobachtungen, die aus Sicht der Forschungspartner:innen als wenig bis nicht kontrollierbar sowie als aufwändig erscheinen, habe ich diesbezüglich in jüngerer Zeit immer grössere Vorbehalte oder gar Ablehnung erfahren. Während der verhältnismässig einfache Forschungszugang bestimmt auf die vorherige Zusammenarbeit des Projektverantwortlichen mit den beiden Anstaltsleitungen zurückzuführen ist, beobachte ich in den letzten Jahren ein grösseres Kontrollbedürfnis vonseiten der staatlichen Institutionen (oder auch von Nichtregierungsorganisationen) und deutlich längere Verhandlungsprozesse (s. Achermann, 2009; Rosset & Achermann, 2019).

Schliesslich stellten Ueli und ich über die Forschungszeit hinweg fest, wie sich bei uns langsam ein unter Sozialanthropolog:innen bekanntes Phänomen zeigte: «we started to go native» (Achermann, 2009; Liebling, 1999). Dies zeigte sich etwa daran, dass wir uns an die anfangs irritierenden Sicherheitsmassnahmen gewöhnt hatten: Dass wir uns vor dem Sicherheitstor gegenüber einer Kamera anmelden mussten, dass wir ein Telefon mit Sicherheitsknopf erhielten, dass unsere Interviews per Kamera (aber ohne Mikrofon) überwacht wurden, dass wir unsere Mobiltelefone einschliessen mussten … all dies fiel uns bald kaum mehr auf, sondern gehörte zu unserem Forschungsalltag dazu. Dass wir auf dem Weg waren, Teil unseres Forschungsfeldes zu werden, zeigte sich weiter darin, dass wir nach einer Forschungspause durch das Sicherheitspersonal freudig und mit Namen begrüsst wurden, bevor wir uns selbst anmelden mussten.

Blicke ich heute auf diese Forschung zurück, fällt mir auf, wie wenig wir damals unsere Rolle als Forschende in diesem Umfeld reflektierten. Wie wenig wir uns also explizit und bewusst mit unserer Positionalität (Alcoff, 1988) auseinandersetzten. Selbstverständlich waren einige Themen offensichtlich und präsent – insbesondere unser jeweiliges Geschlecht in einem weitgehend3 geschlechtlich homogenen Kontext. So weckte Ueli bei unserem «Stage» offensichtlich das Interesse einiger inhaftierter Frauen auf der Wohngruppe. Und jedes Mal, wenn ich über den aus den Zellenfenstern sichtbaren Innenhof des Thorbergs ging, schallten mir Pfiffe hinterher. Vonseiten der Leitung und des Personals war, wie oben erwähnt, vor allem mein Geschlecht im Thorberg ein Thema bzw. eine Sicherheitsfrage. Das einzige andere Merkmal, auf das immer wieder reagiert wurde, war unsere Ausbildung und Tätigkeit als Sozialanthropolog:innen. Wiederholt wurden wir von Mitarbeitenden der Anstalten darauf angesprochen, wobei sich zeigte, dass wir vor allem als Spezialist:innen für «das Fremde», «andere Kulturen» und «Multikulti» wahrgenommen wurden. Sie baten uns etwa um Handlungsanweisungen, wie mit Menschen einer bestimmten Nationalität umzugehen sei, ob etwa ein Handschlag durch eine Frau angemessen oder der direkte Blick in die Augen zulässig sei. Darüber ebenso wie über andere Identitätsmerkmale, die unseren Standpunkt als datenerhebende sowie -analysierende Forschende mitbestimmen, haben wir jedoch in unseren Publikationen nie explizit reflektiert. Wie wir als Akademiker:innen, als junge Doktorandin, als männlicher PostDoc mittleren Alters, als Vater einer Tochter, als Schweizer:innen mit eindeutig schweizerisch klingenden Namen, als Menschen weisser Hautfarbe, als mehrere Fremdsprachen Sprechende etc. wahrgenommen wurden, wie dies die Interaktionen zwischen uns und unseren Forschungspartner:innen beeinflusste, was uns deswegen von wem erzählt oder verschwiegen wurde oder wie sich all dies in unserer Wissensproduktion niederschlug, haben wir damals weder thematisiert noch analysiert.

Ein weiteres Thema, das ich anderswo (Achermann, 2009) etwas ausgeführt habe, das aber ebenfalls relativ marginal war in unserer Forschung, betrifft die affektive und emotionale Dimension von (Gefängnis)forschung, wie sie etwa von den Affect Studies (Ahmed, 2004) behandelt wird. Dabei hätten wir einerseits den von unseren Interviewpartner:innen geäusserten Gefühlen wissenschaftlich mehr Beachtung schenken können. Etwa den vielen Tränen, die bei den Inhaftierten flossen, wenn sie von der Trennung von ihren Familienmitgliedern sprachen; oder der Wut und Enttäuschung, wenn sehnlichst erwartete Lebensmittel die Sicherheitskontrolle nicht passierten; oder den Gefühlen der Ungerechtigkeit; oder dem Unverständnis und Ärger aufseiten der Mitarbeitenden über bestimmte Verhaltensweisen von Inhaftierten. Andererseits hätten wir aber auch stärker unsere eigenen Gefühle analysieren und über unsere emotionalen Grenzen nachdenken und damit unsere Emotionen mehr auch als Daten behandeln können (Liebling, 1999). Im Kontext von Forschung mit Menschen, zu denen wir keine grundsätzliche Sympathie empfinden, sei es aufgrund ihrer Straftat(en) oder aufgrund ihrer Tätigkeit in einer repressiven staatlichen Institution, was wiederum das Aufbringen von Empathie erschweren kann, scheint mir eine solche Reflexion heute unabdingbar.4 Dabei kann es nicht um die Frage gehen, dass Forschende emotionslose Automaten sein sollten. Vielmehr steht die Reflexivität im Zentrum, das heisst das Bewusstsein, dass zwischenmenschliche Gefühle eine Rolle im Forschungsprozess und in der Wissensproduktion spielen, und ein Bestreben nach Sichtbarmachung solcher Prozesse. Bezüglich dem Umgang mit unseren Gefühlen gegenüber den zu interviewenden Inhaftierten resp. ihrer Straftaten war uns die Strategie sehr hilfreich, dass wir zum Zeitpunkt der Interviews nicht wussten, warum unser:e Gesprächspartner:in eine Strafe verbüsste. Da die Straftat für unsere Forschungsfrage bedeutungslos war, konnten wir diese Information ignorieren. Einige Personen erwähnten während des Gesprächs den Grund ihrer Verurteilung, andere schwiegen dazu. Nach den Interviews sichteten wir die Akten aller Interviewten sowie vieler anderer früher inhaftierter Menschen, wodurch wir wichtige Informationen erheben konnten. Dabei erfuhren wir zwingend auch die Straftat der jeweiligen Person. In einigen Fällen, insbesondere bei Gewalt- und Sexualdelikten durch Personen, die wir interviewt hatten, weckte dies bei uns starke Emotionen – von Erstaunen über Erschrecken bis zu Zweifeln an der eigenen Fähigkeit, einen Menschen einschätzen zu können (Achermann, 2009).

Nach mehr oder weniger emotionsgeladenen Interviews, nach aufwühlendem Aktenstudium oder auch einfach nur nach Tagen innerhalb der Gefängnisse war ich jeweils besonders froh, diese Forschung in einem Team durchzuführen. Unsere Spaziergänge zurück zur Busstation, die Zug- oder Autofahrten zurück nach Bern boten Ueli und mir jeweils Gelegenheit für ein informelles Debriefing, um uns über die teilweise belastenden Erfahrungen auszutauschen. Wie wertvoll diese Praxis war, wurde mir erst viele Jahre später bewusst, als eine meiner Doktorandinnen alleine in der Ausschaffungshaft forschte und eine:n ebensolche:n Gesprächspartner:in vermisste, mit der sie sich über die geteilten Erlebnisse hätte unterhalten können.

Ein weiteres Thema, dem wir aus theoretischer Sicht kaum Bedeutung schenkten, ist die Rolle und Wahrnehmung von Zeit in Strafanstalten. Während Zeit selbstverständlich ein grosses Thema in vielen Interviews war – etwa die Zeit bis zur Entlassung, das Gefühl Zeit zu verlieren, die Zeit bis zu einer befürchteten Ausschaffung oder bis zu einer ersehnten Rückkehr in das Land der Staatsangehörigkeit – haben wir das Erleben der Zeit und die Bedeutung von Temporalität nicht konzeptuell behandelt (s. Griffiths, 2024). Ueli hat dies in neueren Forschungen mit der Fokussierung auf das Lebensende (Hostettler et al., 2016) oder auf «space-time regimes»5 stärker gemacht. Interessant wäre es in unserem Fall auch gewesen, die besonderen zeitlichen Bedingungen der Interviews zu diskutieren, die sich aus dem Zwangskontext des Strafvollzugs ergaben: Wir konnten fast wie am Fliessband Interviews durchführen, da die zu interviewenden Personen (Inhaftierte wie Angestellte) vor Ort und in der Regel verfügbar waren.

Flughafengefängnis Zürich, Massnahmenzentrum Arxhof, Justizvollzugsanstalt Cazis und viele mehr – die «Gefängniswelt» dehnt sich im Rahmen von Auftragsforschungen aus

Nach der zweijährigen finanzierten Projektzeit im Rahmen des NFP 51 schrieb ich an meiner Dissertation und war als Forscherin am Schweizerischen Forum für Migrationsstudien SFM angestellt. Ueli war in der Zwischenzeit Oberassistent am Departement für Sozialarbeit und Sozialpolitik der Universität Fribourg geworden. Die Expertise im Bereich der Gefängnisforschung ermöglichte es Ueli, ab Mitte der 2000er Jahre externe Forschungsaufträge anzuwerben, in deren Rahmen wir unsere Zusammenarbeit fortsetzten. Einerseits erforschten wir, gemeinsam mit weiteren Kolleginnen von der Universität Fribourg, im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit BAG die Frage der Bekämpfung von Infektionskrankheiten in Strafanstalten (Achermann & Hostettler, 2007a). Diese Studie brachte uns mit weiteren Anstalten des Freiheitsentzugs in Kontakt und erlaubte uns, den Blick auf die Gefängniswelt nicht nur geografisch, sondern auch thematisch auszuweiten. Andererseits erhielt Ueli vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk SAH den Auftrag, das Pilotprojekt Bildung im Strafvollzug zu evaluieren. Wiederum gemeinsam mit Kolleginnen reisten wir dabei jährlich in die am Projekt beteiligten Anstalten und befragten die involvierten Personen (Hostettler et al., 2010). Neben dem Ausbau unserer gemeinsam erworbenen Expertise zum Strafvollzug und unseres Netzwerkes in diesem Feld war für mich auch diese Zusammenarbeit wiederum von gegenseitiger Bereicherung geprägt. Ich konnte meine Erfahrung in der Auftragsforschung einbringen, Ueli baute auf seiner langjährigen Forschungserfahrung und seinen Kenntnissen von Bildungsfragen auf.

Weggabelungen …

Noch während der Laufzeit des Evaluationsprojektes Bildung im Strafvollzug erfolgten in meinem Leben zwei grosse biografische Weichenstellungen: Ich wurde zur Assistenzprofessorin an der Universität Neuenburg berufen und wurde Mutter. Angesichts dieser neuen bevorstehenden Aufgaben beendete ich die direkte Zusammenarbeit mit Ueli und mit dem Forschungsteam der Universität Fribourg. Dass ich schliesslich den akademischen Weg ging, obwohl ich meinen Platz ursprünglich in der Welt der Auftragsforschung gesehen hatte, kam wohl nicht nur für mich überraschend. Dass ich einen grossen Respekt gegenüber dem Abenteuer «akademische Karriere» hatte, hing nicht zuletzt damit zusammen, dass ich während meines Doktorats nahe miterlebt hatte, wie prekär und oftmals schwer beeinfluss- oder vorhersehbar die beruflichen Wege von Akademiker:innen verlaufen. Und dass ein exzellenter Forschungs-, Lehr- und Publikationsausweis noch längst keine Garantie dafür ist, einmal eine Professur zu erhalten. In dieses Haifischbecken wollte ich mich eigentlich nicht stürzen. Dass ich dennoch Professorin geworden bin, hat mit Fügung, Zufall und wohl auch Glück6 zu tun. Hätte ich meine Dissertation später abgeschlossen, wäre ich nicht bereits in Neuenburg tätig gewesen, hätte ich mich weniger für die rechtlichen und mehr ausschliesslich für die sozialanthropologischen Dimensionen von Strafvollzug und Migration interessiert etc., dann wäre mein Weg anders verlaufen und dann hätte die Zusammenarbeit mit Ueli bestimmt noch lange angehalten.

… und was bestehen bleibt

Blicke ich auf die Jahre der Zusammenarbeit mit Ueli zurück, wird mir neben den konkreten Erinnerungen an unsere Forschungen bewusst, was ich von Ueli gelernt habe und was wir gemeinsam (und oft noch mit anderen Personen zusammen) angestossen haben. Inhaltlich hat das NFP-Projekt zu den ausländischen Strafgefangenen meines Erachtens den ersten Schritt hin zu einer Etablierung der sozialwissenschaftlichen Gefängnisforschung gelegt. Diese hat schliesslich in der Institutionalisierung der Prison Research Group7 an der Juristischen Fakultät der Universität Bern gemündet, einer interdisziplinären Forschungsgruppe, die Ueli leitet. Mit unseren jeweiligen Lehr-, Forschungs- und Betreuungstätigkeiten haben wir in den vergangenen Jahren zahlreiche Studien, seien es Grundlagen- oder Auftragsforschungen, angestossen, die sich in der Schweiz dem Thema Haft und Freiheitsentzug im weiteren Sinne annehmen – etwa zu älteren Personen in Haft, zur Ausschaffungshaft, zum Justizvollzugspersonal, zu Asylzentren usw.

Aus meiner persönlichen Sicht ist Ueli einerseits ein Mensch, mit dem ich sehr gerne, gut und ergänzend zusammengearbeitet habe. Andererseits war Ueli für mich vor allem in den ersten Jahren meines Doktorats ein wichtiger Mentor, der mich etwa in wichtige akademische Praktiken einführte. So nahm ich 2004 mit ihm und Hans-Rudolf Wicker erstmals an einer Konferenz der European Association for Social Anthropology teil. Oder wir veröffentlichten gemeinsam den für mich ersten Artikel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift (Achermann & Hostettler, 2007b). Schliesslich war Ueli eine jener Personen, die eine erste Fassung meiner Dissertation kritisch gelesen hat, mir wichtige Inputs, aber auch die Bestätigung gegeben hat, dass meine Analyse gültig und nachvollziehbar war. Nicht zuletzt verdanke ich es bestimmt Ueli, dass die sozialanthropologische Perspektive und die ethnographische Methodik in meiner Dissertation ebenso wie in meinen weiteren Arbeiten präsent und einflussreich blieben, trotz der immer stärker interdisziplinären Ausrichtung meiner Tätigkeiten.

Zum Schluss

In den vergangenen Jahren beschränkte sich der Kontakt zwischen Ueli und mir leider auf Textnachrichten zum Geburtstag oder eine seltene E-Mail. Die unterschiedlichen Arbeitsorte, die verschiedenen Lebens- und Familienabschnitte, die stets vollen Agenden standen einem häufigeren Kontakt im Wege. Mit Interesse verfolge ich jedoch die Tätigkeiten der Prison Research Group. Dass mir Uelis Eintritt in die nächste biografische Phase die Gelegenheit zu diesem reflektierenden Rückblick auf die Gefängnisforschung und unsere Werdegänge geboten hat, schätze ich. Ich freue mich darauf zu erfahren, wohin Uelis Wege nun führen – auf eine Velotour durchs Lindental zum Thorberg oder gar zurück nach Yucatán?

Literatur

Achermann, C., & Gass, S. (2003). Staatsbürgerschaft und soziale Schliessung: Eine rechtsethnologische Sicht auf den Einbürgerungsprozess in der Stadt Basel. Seismo.

Achermann, C., & Hostettler, U. (2007a). Infektionskrankheiten und Drogenfragen im Freiheitsentzug: Rapid Assessment der Gesundheitsversorgung. SFM/Universität Fribourg.

Achermann, C., & Hostettler, U. (2007b). Femmes et hommes en milieu pénitentiaire fermé en Suisse: réflexions sur les questions de genre et de migrations. Nouvelles Questions Féministes: Revue internationale francophone, 26(1), 70-88.

Achermann, C. (2008). Straffällig, unerwünscht, ausgeschlossen: Ausländische Strafgefangene in der Schweiz. [Dissertation, Universität Bern].

Achermann, C. (2009). Multiperspective research on foreigners in prisons in Switzerland. In V. Bilger & I. van Liempt (Hrsg.), The Ethics of Migration Research Methodology: Processes, Policy and Legislation in Dealing with Vulnerable Immigrants (S. 49-80). Sussex Academic Press.

Ahmed, S. (2004). The cultural politics of emotion. Routledge.

Alcoff, L. (1988). Cultural Feminism Versus Post-Structuralism: The Identity Crisis in Feminist Theory. Signs: Journal of Women in Culture and Society, 13(3), 405-436.

Fahrer, D. (2012). Thorberg (Dokumentarfilm). Balzli & Fahrer GmbH.

Griffiths, M. (2024). Epilogue: ‘Claiming Time’ Special Issue. Journal of International Migration and Integration, 25(3), 1231-1247.

Hostettler, U., Kirchhofer, R., Richter, M., & Young, C. (2010). Bildung im Strafvollzug BiSt. Pilotprojekt, 1.Mai 2007 – 30. Juni 2010. Drosos-Stiftung/SAH Zentralschweiz. Externe Evaluation. Schlussbericht. Universität Freiburg.

Hostettler, U., Marti, I., & Richter, M. (2016). Lebensende im Justizvollzug: Gefangene, Anstalten, Behörden. Stämpfli.

Kalir, B. (2019), The uncomfortable truth about luck: reflections on getting access to the Spanish state deportation field. Social Anthropology, 27, 84-99.

Kalir, B., Achermann, C., & Rosset, D. (2019). Re‐searching access: what do attempts at studying migration control tell us about the state? Social Anthropology, 27, 5-16.

Lavanchy, A. (2013). Dissonant alignments: The ethics and politics of researching state institutions. Current Sociology, 61(5–6), 677-692.

Liebling, A. (1999). Doing Research in Prison: Breaking the Silence? Theoretical Criminology, 3(2), 147-173.

Reichenau, C., (2021). Hindelbank: das Schloss, die Anstalt, das Dorf – 1721 bis heute. Sinwel.

Rosset, D., & Achermann, C. (2019). Negotiating research in the shadow of migration control: access, knowledge and cognitive authority. Social Anthropology, 27, 49-67.

Wicker, H.-R. (2012). Migration, Differenz, Recht und Schmerz: sozialanthropologische Essays zu einer sich verflüchtigenden Moderne, 1990-2010. Seismo.

Anmerkungen

2 Unter der Leitung von Hans-Rudolf Wicker, Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern und Karl-Ludwig Kunz, Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern. ↩︎
3 In beiden Institutionen arbeiteten zu jenem Zeitpunkt auch Personen des jeweils «anderen» Geschlechts. Sie waren jedoch in klarer Minderheit und oft auf spezifische Berufsgruppen beschränkt. So war etwa der Sicherheitsdienst auch in Hindelbank überwiegend mit Männern besetzt, während im Gesundheitsdienst auch in Thorberg Frauen tätig waren (Achermann, 2008). ↩︎
4 Siehe dazu auch Lavanchy (2018). ↩︎
5 Siehe dazu https://data.snf.ch/grants/grant/192697 (zuletzt abgerufen am 28.3.2025). ↩︎
6 Siehe zum Thema Glück in der Forschung Kalir (2019). ↩︎
7 Siehe dazu https://prisonresearch.ch/ (zuletzt abgerufen am 28.3.2025). ↩︎