In «Up the Anthropologist – Perspectives Gained from Studying up» plädierte die U.S.-amerikanische Anthropologin Laura Nader (1972) dafür, Forschungsschwerpunkte auf Bereiche zu legen, in denen formell Entscheidungsmacht, Verantwortung und Einfluss sichtbar werden. Sie argumentierte, diese Perspektive erlaube eine kritische Untersuchung der Aushandlung und Erhaltung von Machtverhältnissen und (vermeintlichen) gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten. Der vorliegende Beitrag schlägt vor, dieses Forschungsparadigma auf die Schweizer Justizvollzugslandschaft zu übertragen und einen Blick «nach oben» in jenen Institutionen zu werfen, die sich in der Schweiz dem Strafvollzug als gesetzlichem Auftrag widmen. Zu diesem Zweck werden theoretische und empirische Perspektiven erarbeitet und sodann ergänzt mit der Reflexion von Erfahrungen aus zwei anthropologischen Forschungsprojekten, die im Zusammenhang mit der von Ueli Hostettler geleiteten Prison Research Group durchgeführt wurden. Exemplarisch wird hierfür ein explorativer Blick auf die Position von JVA-Direktor:innen geworfen: Das ethnographische Material macht sichtbar, wie Direktor:innen zwischen vielzähligen und teilweise widersprüchlichen Logiken navigieren, die im Schweizer Justizvollzug Anwendung finden. Diese widersprüchlichen Logiken stellen eine Herausforderung dar, wie sie gleichsam zur Ressource werden, da Ermessensspielraum für die Akteur:innen entsteht. Besagten Handlungs- und Ermessensspielraum beleuchtend, plädieren die Autor:innen so für ein wacheres Forschungs- aber auch Öffentlichkeitsinteresse an Führungspositionen und Entscheidungsmacht im Bereich des Justizvollzugsalltags.1
Zurzeit verbringen in der Schweiz rund zwölftausend Personen ihren Alltag im stationären strafrechtlichen Freiheitsentzug: Ungefähr siebentausend als Inhaftierte, die restlichen in der Rolle des Personals.2 Sie tun dies in den rund neunzig Institutionen, die bis heute in der Schweiz den Freiheitsentzug als eine sogenannt hoheitliche, staatliche Tätigkeit verrichten. Neunzig Institutionen, denen eine relevante Rolle für den Staat und die Gesellschaft zukommt und deren Mauern, Zäune und Zellen über die Schweizer Landkarte verteilt jene Idee verkörpern, mit der viele von uns seit Kindheitsjahren vertraut sind: Wer sich nicht an die Gesetze hält, dem droht, einen Teil der eigenen Freiheit abtreten zu müssen.
Aus staatlicher Perspektive erledigen in der Schweiz Justizvollzugsinstitutionen3 alle denselben sogenannten «Kernauftrag», der sich direkt aus dem Strafgesetzbuch4 ergibt und Justizvollzugseinrichtungen die Aufgabe zuschreibt,
das soziale Verhalten des Gefangenen5 zu fördern, insbesondere die Fähigkeit, straffrei zu leben. Der Strafvollzug hat den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich zu entsprechen, die Betreuung des Gefangenen zu gewährleisten, schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und dem Schutz der Allgemeinheit, des Vollzugspersonals und der Mitgefangenen angemessen Rechnung zu tragen (Art. 75 Abs. 1 StGB).
Wenngleich gesetzlich vorgeschrieben ist, dass in diesem Zuge die Rechte von Gefangenen «nur so weit beschränkt werden [dürfen], als der Freiheitsentzug und das Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung es erfordern» (Art. 74 StGB), können besagte Justizvollzugseinrichtungen als Orte und Ausgestaltungen von institutioneller Macht und staatlicher Autorität verstanden werden: In ihnen sind, basierend auf gesetzlichen Grundlagen, die Tagesabläufe stark reguliert sowie von Zwängen und Pflichten geprägt, die Hierarchien sind beträchtlich, die Sanktionsformen und Disziplinierungspraktiken rigide (Mühlemann, 2020, S. 15 ff.).
Während der oben eingeführte gesetzliche Auftrag als Rechtsquelle der breiten Öffentlichkeit theoretisch zugänglich ist, erleben jedoch – abgesehen von den eingangs erwähnten zwölftausend Personen – nur wenige Personen, wie besagter «Kernauftrag» im Alltag der Justizvollzugsanstalten ausgelegt wird. Schliesslich gestaltet sich der Zugang zum Innenleben von Freiheitsentzugseinrichtungen hürdenreich, die Besuchsmöglichkeiten sind nicht nur für Angehörige, sondern auch für Forschende und andere Vertreter:innen eines öffentlichen Interesses stark kontrolliert und reguliert (Hostettler, 2012, S. 158; Jewkes, 2015, S. ix).
Dabei wäre ein Einblick in die anstaltsspezifische und tatsächliche Umsetzung des «Kernauftrags» relevant, wirft doch die vertiefte Betrachtung des besagten gesetzlichen Auftrags Fragen hinsichtlich Auslegung und Interpretation auf: Was sind etwa «allgemeine Lebensverhältnisse»? Was bedeutet es, Letzteren «so weit als möglich» zu entsprechen? Welchen «schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs» gilt es entgegenzuwirken und auf welche Weise? Wie wird die Allgemeinheit «geschützt» und wovor überhaupt? Oder auch: Wie sehr sollen (welche) Rechte eingeschränkt werden, wenn sie laut Gesetz «nur so weit beschränkt werden dürfen, als der Freiheitsentzug und das Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung es erfordern»? Auf solche Fragen bieten Gesetzesartikel weder eindeutige noch einfache Antworten und umso mehr bietet sich hier eine anthropologische Herangehensweise an: Auf welche Art(en) und Weise(n) wird der gesetzliche Vollzugsauftrag in der alltäglichen Praxis der einzelnen Justizvollzugseinrichtungen interpretiert? Und wer entscheidet über die Auslegung?
In den 1970er-Jahren schrieb die U.S.-amerikanische Anthropologin Laura Nader (1972, S. 284, 293), die Erforschung wichtiger Institutionen und Organisationen, die das tägliche gesellschaftliche Leben beeinflussten, böte einen Blick auf breitere gesellschaftliche Strukturen und darauf, wie Ideen und Machtverhältnisse im gesellschaftlichen Kontext erhalten und verhandelt würden. In «Up the Anthropologist – Perspectives Gained from Studying up» plädierte sie dafür, Forschungsschwerpunkte auf Menschen und Organisationen zu legen, welchen formell Entscheidungsmacht, Verantwortung und Einfluss zugeschrieben werde. Sie argumentierte, dass Anthropolog:innen ihren Fokus auf Orte der institutionellen Machtausübung richten sollten und nicht ausschliesslich – wie es in der Anthropologie zu jener Zeit üblich war – bei Gemeinschaften oder Personen, die primär unter den Machtverhältnissen litten (Nader, 1972, S. 293, 306 f.).
Naders Idee scheint auch übertragen auf den Gefängniskomplex zu überzeugen: Daraus ergibt sich, mit Nader argumentiert, nicht nur eine gesamtgesellschaftliche, sondern auch eine sozialanthropologische Verantwortung, sich mit den Institutionen des Freiheitsentzugs und ihrer Führung zu befassen: Wie und wo lassen wir als Gesellschaft Delinquenz behandeln? Wie und wen strafen wir? Welche Ziele, Zwecke, Ideen und Werte werden daran geknüpft? Aber eben auch: Wer übernimmt, leitet und steuert diese Aufgabe?
Wenn wir, inspiriert von Naders heute über fünfzigjährigem Plädoyer, in jenen Institutionen einen Blick «nach oben» werfen, die sich in der Schweiz dem Strafvollzug als gesetzlichem Auftrag widmen, wird eine Forschungslücke sichtbar: Entscheidungsträger:innen und Führungspositionen wird in der aktuellen Schweizer Gefängnisforschung kaum Beachtung geschenkt.
Der vorliegende Artikel plädiert dafür, diesem Umstand entgegenzuwirken; er sei verstanden als Plädoyer für ein wacheres Forschungs- aber auch Öffentlichkeitsinteresse an Führungspositionen und Entscheidungsmacht im Bereich des Justizvollzugs. Dies soll anhand eines exemplarischen Blicks auf die Position von Direktor:innen von Justizvollzugsanstalten veranschaulicht werden. Damit wird keinesfalls behauptet, dass Anstaltsleitende als einzige Entscheidungstragende im Justizvollzug agieren (im Gegenteil: unsere Ausführungen werden zeigen, dass das Handeln von Direktor:innen in viele übergeordnete Regeln und Entscheidungsprozesse eingebettet ist). Vielmehr argumentieren wir, dass ihre Funktion eine geeignete Ausgangslage bietet, um die Komplexität von Entscheidungsmacht und Verantwortung im Justizvollzugssetting zu beleuchten und zu diskutieren.
Zu diesem Zweck beleuchten wir zunächst kurz den Forschungsstand sowie die sich daraus ergebende Forschungsrelevanz. Ergänzend dazu werden Erfahrungen reflektiert, die im Rahmen zweier anthropologischer Forschungsprojekte gewonnen wurden. Im Anschluss an das zweigliedrige Argument sollen Diskussionspunkte aufgegriffen werden, die sich aus diesem Forschungsansatz ergeben und von Interesse für Personen sein könnten, welche sich praktisch und/oder theoretisch mit dem Justizvollzug in der Schweiz auseinandersetzen.
Wie eingangs formuliert, gibt es in der Schweiz bisher wenig Forschung zu höherem Kader im Justizvollzug. Häufig wird ein Blick «nach oben» auf die Führungsebene im Kontext von Business oder Public Administration und Management Studies geworfen, allerdings selten explizit im Justizvollzugskontext und in der Regel normativ ausgerichtet («Was ist gutes Führen?» oder «Wie sollte eine Institution geführt werden, damit sie gut funktioniert?»6).
Ein international und interdisziplinär ausgerichteter Blick auf die Literatur zu Leitungsfunktionen in Institutionen des Freiheitsentzugs führt derweil primär zu Forschungen aus dem englischsprachigen Raum, welche sich hauptsächlich in der Kriminologie, der Soziologie und den Management Studies verorten lassen (für eine Übersicht s. Bennett, 2016; Choudhary, 2020; Isenhardt, Frey, et al., 2022). Dass sich Schweizer Gefängnisforscher:innen nicht stärker für dieses Thema interessieren, erscheint doppelt erstaunlich: Erstens, weil die existierende sozialwissenschaftliche Literatur Leitenden im Kontext des Freiheitsentzugs eine für das Anstaltsleben und für das Justizsystem einflussreiche Rolle beimisst (s. z.B. Liebling & Crewe, 2013). Zweitens, weil ein Teil der bisherigen Forschung die These aufstellt, dass das Führen einer Anstalt als sui generis verstanden werden müsse, mit anderen Worten: Die Funktion der Anstaltsleitung unterscheide sich aufgrund ihrer Vielseitigkeit und Einbettung im Strafkontext von anderen Führungs- oder Managementstellen (Bryans, 2013; Wilson, 2000).
Insbesondere britische soziologische, kriminologische und managementzentrierte Literatur weist darauf hin, dass Direktor:innen staatlicher Vollzugseinrichtungen eine relevante Funktion bei der Prägung des Anstaltsalltags und letztlich des sozialen Klimas in der Institution zukommt (Liebling & Crewe, 2016, S. 420). Dieser Einfluss, so argumentiert beispielsweise Bryans (2013, S. 213), umfasst unter anderem das kombinierte Führen von Mitarbeitenden mit unterschiedlichen Professionslogiken, wie auch von Gefangenen mit individuellen Strafen und Vollzugszielen in ausserordentlichen Machtverhältnissen – eine vielschichtige und sozial geprägte Aufgabe inmitten diverser Akteur:innen, Strukturen, Zwängen und Ideale.
Während in der Schweizer Gefängnisforschung das Personal (etwa Sicherheitspersonal oder Sozialarbeitende) im letzten Jahrzehnt zunehmend an Beachtung gewann (s. z.B. Isenhardt et al., 2015; Richter & Emprechtinger, 2024; Young, 2018), erhielten Mitarbeitende höherer Hierarchiestufen im Justizvollzugskontext kaum Aufmerksamkeit. Eine Ausnahme bildet die quantitative Erhebung der Prison Research Group, ebenfalls ein von Ueli Hostettler geleitetes Projekt, die u.a. einen Blick auf den Tätigkeitsbereich von Anstaltsleitenden im Schweizer Freiheitsentzug wirft: Im Rahmen einer 2017, 2021 und 2023 durchgeführten Onlinebefragung wurde die Zufriedenheit von Anstaltsleitenden mit dem eigenen Handlungsspielraum untersucht (Isenhardt, Hostettler et al., 2022). Dabei konstatierten die Autor:innen der Studie nicht nur, dass Anstaltsleitungen in der Schweiz über verhältnismässig grosse Autonomie und viele Gestaltungsmöglichkeiten in ihrem Arbeitsalltag verfügen (Isenhardt, Frey et al., 2022, S. 6; Isenhardt, Hostettler et al., 2022, S. 11), sondern auch, dass die Befragungsteilnehmenden sich grundsätzlich zufrieden mit diesem Umstand zeigten: So etwa hinsichtlich der Gestaltung des Anstaltsalltags, bei Personal-, Disziplinar- oder internen Budgetentscheidungen sowie bei der nach aussen gerichteten Kommunikation (Isenhardt, Frey et al., 2022, S. 8). Bei ihrer Analyse hinsichtlich der Möglichkeiten von Anstaltsleitenden, in der eigenen Institution Entscheidungen ohne weitere Rücksprachen mit übergeordneten Stellen treffen zu können, verwiesen die Autor:innen auf eine Arbeit von Andrea Baechtold (2001) zum föderal organisierten Schweizer Justizvollzug: Diese zeigte ebenfalls, dass Justizvollzugsanstaltsleitenden ein hohes Mass an Autonomie und Ermessen zukommt. Baechtold begründete diesen Umstand nicht zuletzt mit der heterogenen, föderal organisierten Schweizer Vollzugslandschaft: Weil in der Schweiz der Betrieb und die Aufsicht der Einrichtungen in die Kompetenz der einzelnen Kantone fallen, würden viele Kantone neben Untersuchungsgefängnissen oft nur eine grössere Vollzugsanstalt betreiben (S. 352). Isenhardt et al. übernahmen Baechtolds These: Dadurch kommt den Direktor:innen auf der Ebene der kantonalen Verwaltung öfters eine einflussreiche Rolle der Vollzugsspezialist:innen zu, was ihnen die Möglichkeit gibt, nicht nur die eigene Institution, sondern auch die Justizvollzugspolitik und Diskurse dazu auf kantonaler Ebene zu prägen (ebd., Isenhardt, Frey et al., 2022, S. 6).
Gleichzeitig dokumentierten Isenhardt et al. jedoch auch ein Abhängigkeitsgefühl der befragten Anstaltsleitenden gegenüber anderen Stellen und Instanzen des Justizvollzugs. Die Autor:innen hielten fest, einige Anstaltsleitende hätten Unzufriedenheit geäussert, etwa bezüglich der Verlegung von Gefangenen in andere Institutionen oder betreffend grösseren, kantonal bewilligungspflichtigen Budgetentscheiden (Isenhardt, Frey et al., 2022, S. 16 f.). Die Studienautor:innen leiteten her, dass kantonspolitisch bedingte Spartendenzen und eingeschränkte Ressourcen ein Gefühl der verstärkten Abhängigkeit und teilweisen Unzufriedenheit herbeiführen können (ebd.). Weiter interpretierten sie, «New Public Management»-Tendenzen – etwa marktwirtschaftliche Einflüsse oder die kontrollierte Dezentralisierung der öffentlichen Verwaltung – könnten das Gefühl eines eingeschränkten Handlungsspielraums für Direktor:innen herbeiführen (ebd.). Diese Interpretation deckt sich mit Baechtolds (2001) Beobachtung einer seit den neunziger Jahren zunehmenden Einführung von Strukturen und Praktiken des «New Public Management» im Justizvollzug, einer verstärkten Marktorientierung der Anstaltsbetriebe sowie einer zunehmenden Privatisierung von einzelnen Leistungsbereichen der Einrichtungen (S. 356).
Aber: Wie spiegeln sich besagte gesellschaftliche Veränderungen qualitativ in den Justizvollzugsanstalten und ihrer Führung wider? Wie beeinflussen sie die Handlungen, Haltungen, Überzeugungen und Überlegungen der Akteur:innen? Und welchen Einfluss haben die Akteur:innen wiederum auf das Gefängnissystem und sein (grundlegendes) Veränderungspotenzial? Für die Diskussion solcher Fragen bietet die sozialwissenschaftliche Forschung in der Schweiz (noch) wenig Empirie. Man wage aber erneut einen Blick über die Landesgrenzen hinaus: Einen hierfür relevanten Beitrag leistet der britische Kriminologe Jamie Bennett mit dem Titel «The Working Lives of Prison Managers – Global Change, Local Culture and Individual Agency in the Late Modern Prison». In seiner Studie zu britischen Gefängnismanager:innen untersuchte Bennett (2016), inwiefern diese gleichzeitig von diversen Herausforderungen und Zwängen eingeschränkt und strukturiert werden, und ihre Berufsidentität kreativ aushandeln. Bennett folgerte daraus, dass eine Untersuchung der Position von Anstaltsleitenden nicht ausschliesslich darauf abzielen dürfe, verwaltungsbedingte und gesellschaftliche Entwicklungen unilateral als Einschränkung bzw. Entmächtigung zu begreifen. Vielmehr, so argumentierte Bennett, sei davon auszugehen, dass ebensolche verwaltungsbedingte und gesellschaftliche Strukturen den Anstaltsleitenden Handlungsspielraum geben und in unterschiedlicher Weise nutzbar gemacht werden können, um im Rahmen der bestehenden Strukturen den Berufsalltag divers und entlang eigener Interessen und Vorstellungen zu gestalten.
Mehrere zeitgenössische Perspektiven auf Anstaltsleitende weisen demnach darauf hin, dass auch im Schweizer Kontext die Berufspraxis von Anstaltsleitenden von sozialwissenschaftlichem Interesse sein dürfte und ein «Studying up Approach» im Sinne von Laura Nader durchaus von Bedeutung wäre: Wie wird in dieser komplexen Landschaft geführt und entschieden? Welche Aushandlungen, Spannungsfelder und Machtasymmetrien bringt dies mit sich? Insofern wir uns als Wissenschaftler:innen mit der gesellschaftlichen Rolle von Bestrafung und Freiheitsentzug sowie mit deren physischen und zwischenmenschlichen Implementierungsformen beschäftigen wollen (Cunha, 2014; Rhodes, 2001), bietet ein Fokus auf jene Personen, die Institutionen leiten und deren Bestehen und Wandel steuern, eine wertvolle Perspektive. So zeigen sich etwa Fragen zu Eigenverantwortung, Machtlosigkeit und Gehorsam erst durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem individuellen Umgang dieser formell entscheidungsmächtigsten Personen innerhalb einer Institution in ihrer vollen Komplexität. Solche Untersuchungen bieten weit über die Gefängnisanthropologie hinaus – wie die obenstehenden Forschungen vermuten lassen – wertvolle Einblicke für wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Staat, Staatlichkeit, (moderner) Verwaltungsführung, Bürokratie, Politik und Wirtschaft.
Was oben mit Blick auf den Forschungsstand diskutiert wurde, lässt sich, beginnend mit den Worten des französischen Anthropologen Didier Fassin, theoretisch einbetten: «The state […] is what its agents do under the multiple influences of the policies they implement, the habits they develop, the initiatives they take, and the responses they get from their publics.» (Fassin, 2015, S. ix) Damit deutet Fassin auf eine entscheidende Grundlage hin, mit der staatliche Institutionen in einem breiteren Sinne theoretisiert werden können, welche uns von der Makroperspektive direkt auf die Mikroebene führt: Staatliche Institutionen sind keine starren Strukturen, sondern soziale Gebilde, die durch das alltägliche Handeln ihrer Akteur:innen kontinuierlich reproduziert und geformt werden. Dabei sind diese zwar von Gesetzen, Infrastrukturen und Normen geprägt, doch entscheidend ist die Rolle konstanter, individueller und kollektiver Handlungen für ihre Reproduktion (Fassin, 2015, S. ix f.). Der Staat ist weder allumfassend noch unsozial, sondern ein dynamisches, verhandelbares Gefüge – trotz seiner bemerkenswerten Kontinuität (vgl. Fassin, 2015; Graeber, 2015; Lipsky, 1980). Die Erforschung staatlicher Institutionen erfordert demnach, wie Didier Fassin weiterschreibt:
[A method that] is inductive, micro political, and from below. It is based on the participant observation of various institutions through the routine work of their agents and the everyday interactions with their publics. We do not determine in advance what the police, the justice system, the prison apparatus […] are, but we examine the situations and problems which the people who belong to these institutions are confronted with, and analyze how they manage them: Our theory of the state is therefore constructed empirically. We do not presume that it is a unified entity, but explore the diversity of its rationalities: We analyze, for instance, the tensions and contradictions existing between the logics of security and rights, the principles of coercion and responsibility. (Fassin, 2015, S. ix)
Inspiriert von Didier Fassin liesse sich der Schweizer Justizvollzug weniger als ein den Rechtsquellen entspringendes, institutionalisiertes Ideal, sondern vielmehr als heterogenes Praxisfeld fassen, bestehend aus einer Reihe historisch gewachsener Praktiken und Ideen, die sich in formellen, infrastrukturellen und sozialen Rahmen entwickelt und verfestigt haben. Das verdeutlicht nicht nur die Notwendigkeit, dem Justizvollzugskontext allgemein empirische Beachtung zu schenken. Es unterstreicht auch unser «Studying up» Argument: Wir schlagen vor, Anstaltsleitende als mit beachtlichen Kompetenzen ausgestattete Mikroakteur:innen in der alltäglichen Organisation des Justizvollzugs zu verstehen, deren Handlungen und Spielräume in einem Wechselverhältnis mit den Strukturen und Entwicklungen des Justizvollzugs stehen. Anstaltsleitende – ihr persönliches Engagement sowie ihre individuellen Einstellungen – können daher eine massgebende Bedeutung für Justizvollzugsstrukturen (innerhalb und ausserhalb bestehender Einrichtungen) haben. Vor diesem Hintergrund scheint es umso bemerkenswerter, dass in der Schweiz mehrfach bewusst gegen die Einführung einer einheitlichen Ausbildung für Gefängnisdirektor:innen entschieden und auch darauf verzichtet wurde, einheitliche Vorbildungen in bestimmten Disziplinen vorauszusetzen (im Gegensatz zu anderen Ländern, vgl. Coyle, 2013, S. 232).
Während das Plädoyer für «Studying up» im Justizvollzug im vorherigen Kapitel mit Blick auf Theorie und Forschungsstand hergeleitet wurde, verdeutlichen wir es in einem nächsten Schritt anhand von Ergebnissen und Reflexionen aus zwei Forschungsprojekten, in welchen wir – die Autor:innen des vorliegenden Artikels – in den vergangenen Jahren mitgewirkt haben. Beide Projekte konnten im Zusammenhang mit der von Ueli Hostettler geleiteten Prison Research Group durchgeführt werden. Beim einen Projekt handelt es sich um eine explorative Masterforschung zum Arbeitsbereich von Schweizer Justizvollzugsanstaltsleitenden, beim anderen um das SNF-Forschungsprojekt mit dem Titel «Coercive Space-Time-Regimes: Comparing Configurations of Care and Constraint in Different Institutions» in welchem unter der Leitung von Ueli Hostettler das Verhältnis von Fürsorge und Zwang in verschiedenen staatlichen Institutionen untersucht wurde. Für beide Projekte wurde zwischen 2022 und 2023 ethnografische Feldforschung in Deutschschweizer Justizvollzugsanstalten durchgeführt (insges. elf grössere Vollzugsinstitutionen für Männer und/oder Frauen in geschlossenen bis offenen Straf- und Massnahmenvollzugsettings [ab neunzig Eingewiesene, i.d.R. mit Verurteilung oder im vorzeitigen Vollzug, keine spezifischen Einrichtungen für junge Erwachsene]). In beiden Forschungsprojekten kamen wir – mehr oder weniger direkt – mit den Arbeitsweisen von Direktor:innen in Berührung.
Zunächst einige Worte zum Kontext unserer Forschungen: Der Betrieb und die Aufsicht von Vollzugseinrichtungen ist im föderalen System der Schweiz nicht einer zentralen staatlichen Vollzugsbehörde unterstellt, sondern liegt in der Kompetenz der Kantone mit kantonalen Politiken und Rechtsgrundlagen (vgl. Art. 123 Abs. 2 und 3 BV7). Rechtlich gesehen bestehen jedoch übergeordnet auch bundesrechtliche und völkerrechtliche Grundlagen, sodass alle Schweizer Vollzugseinrichtungen die gleichen Grundsätze und Vollzugsziele anzustreben (vgl. Art. 74 sowie Art. 75 StGB) sowie (im Falle von Konkordatsanstalten) die konkordatlichen Qualitätsstandards einzuhalten haben. In dieser komplexen Landschaft verfügen die Justizvollzugsanstalten aber über eigene Hausordnungen, anstaltsspezifische Regelwerke und Prozesse. An der Spitze der sich daraus ergebenden anstaltsinternen Hierarchie steht in den allermeisten Fällen eine einzelne Führungsperson, die laut Stellenbeschrieb die Verantwortung für die institutionelle Umsetzung des gesetzlichen «Kernauftrags» trägt. Besagte Personen tragen den Titel der Anstaltsleitenden und Direktor:innen, sie führen und steuern ein hierarchisch organisiertes Arbeitsfeld und managen in ihrer alltäglichen Berufspraxis die institutionellen Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer staatlichen Aufgabe. Oder aber anders formuliert – wie es ein kantonaler Amtsvertreter im Rahmen der Feldforschung erklärte: Es sind Führungspersonen, die «einfach dafür sorgen [müssen], dass ihr Laden läuft». Aber was bedeutet es, dafür zu sorgen, dass ein so komplexer «Laden», wie eine Justizvollzugseinrichtung, «läuft»? Im Folgenden zeigen wir anhand empirischer Einblicke, dass darunter sehr viel Verschiedenes verstanden werden kann.
Trotz stark unterschiedlicher Ausbildungen, Berufsbiografien und Interessensgebieten zeigte das ethnografische Material beider Projekte ähnliche Selbstverständnisse von JVA-Direktor:innen: Alle berichteten davon, in ihrer institutionellen Funktion als Steuernde eines hochgradig diversifizierten Betriebs zwischen verschiedenen Aufgabenbereichen pendeln und vermitteln zu müssen, in denen unterschiedliche – gleichzeitig existierende – institutionelle Logiken und Ideale des Justizvollzugs sichtbar werden. Implizite (und teilweise konfligierende und konkurrierende) Justizvollzugsnarrative prägen demnach den subjektiv wahrgenommenen Alltag der Leitungspersonen: Etwa Narrative der Resozialisierung, der Fürsorge, der Risikoorientierung und Sicherheit, (kapitalistische) Wirtschaftslogiken, (bürokratische) Verwaltungslogiken oder auch verschiedene Strafzwecke und Zwangslogiken (s. vertiefend Frey, 2023). Die Direktor:innen befinden sich in einem Feld, das von unterschiedlichsten Erwartungen geprägt ist, die an den Strafvollzug gestellt werden. Immer wieder begegneten wir während der Feldforschung deshalb einem Selbstverständnis und Verantwortungsgefühl von JVA-Direktor:innen, angesichts der unterschiedlichen Ansprüche in den konfligierenden Logiken des Justizvollzugs «verantwortungsvoll und urteilsfähig die Balance zu wahren».
Die Komplexität des Strafvollzugs mit seinen verschiedenen Zwecken und Aufgaben ist ein allgemein anerkanntes Spannungsfeld. Bezüglich Anstaltsleitungen wird deshalb auch schon länger argumentiert, dass die verschiedenen Ansprüche zu kaum auflösbaren Widersprüchen führen: So machte etwa Robinson im U.S.-Kontext bereits 1947 deutlich, dass Gefängnisse «zu viele Zwecke gleichzeitig» erfüllen müssen – ein Umstand, der, laut Autor, Fortschritt und Reform im Wege stünde (zur Vielfalt der Begründungen für die Strafe im Allgemeinen vgl. auch Fassin, 2018, S. 98). Übertragen auf den europäischen Kontext, kann zwar argumentiert werden, dass sich die Priorisierung der verschiedenen Ansprüche über die Zeit immer wieder geändert hat (Spiess, 2004), die Widersprüche bestehen jedoch bis heute (Koch et al., 2017). Direktor:innen haben, wie die meisten Akteur:innen innerhalb des Strafvollzugs, diese Widersprüche auszuhalten.
Der Umstand, dass Führungspersonen von grossen Institutionen davon berichten, eine «Balance» zwischen verschiedenen Ansprüchen herzustellen, ist weder eine überraschende noch eine gefängnisspezifische Beobachtung (Lounsbury et al., 2021). Interessant ist hingegen, dass die Ausgestaltung einer solchen als «balanciert» verstandenen Entscheidung im Strafvollzugskontext beachtlich unterschiedlich ausfallen konnte, wie wir in unseren qualitativen Forschungen immer wieder beobachten konnten. Während beispielsweise eine Direktorin in einem Interview kostenorientierte «Effizienz» als prioritär beschrieb, um «den Sinn» des Justizvollzugs zu erfüllen, legte ein anderer Direktor Wert auf «Kreativität und Zeit bei Freizeitbeschäftigungen» um ebendiesem Sinn gerecht zu werden. Weitere, sich aus dem Forschungsmaterial herauskristallisierenden Werte reichten von Ideen der Gleichbehandlung (bspw. im Namen der «Fairness») hin zur Wichtigkeit der möglichst individuellen Behandlung (bspw. im Namen der «Menschlichkeit»), von der «Routine» und «Beständigkeit» hin zur «Innovativität»; von «Ergebnisoffenheit» hin zu umfassender «Berechenbarkeit»; sie thematisierten Respekt und Privatsphäre; sie nahmen Bezug auf Zuwendung, Mitgefühl und Vertrauen ebenso wie auf Bestrafung, Strenge, Konsequenz oder auch auf Transparenz und Professionalität. Diese unterschiedlichen Werte verdeutlichen die widersprüchliche und komplexe Aufgabenstellung.
Und sie machen auch eine vielfach diskutierte Beobachtung deutlich: In unserer Forschung schien es verschiedene für den Justizvollzug sinnvolle Logiken, Werte und Parameter zu geben, die von Direktor:innen im Berufssetting unterschiedlich stark gewichtet werden konnten. Damit wollen wir nicht behaupten, dass gewisse Handlungen und Entscheidungen unserer Gesprächspartner:innen «moralisch mehr oder weniger korrekt» waren. Vielmehr wurde durch diese Beobachtungen deutlich, dass (1) verschiedene Rationalitäten unterschiedlich dominant wahrgenommen und angewandt werden konnten und (2), dass der persönliche Standpunkt und moralische Ausrichtungen der jeweiligen Person dabei eine grosse Rolle spielten – sowohl dafür, mit welchen Aspekten des Vollzugsauftrags sich befasst wurde, als auch dafür, wie in Bezug auf gewisse Aspekte entschieden und gehandelt wurde.
Erinnern wir uns also an den eingangs zitierten «einheitlichen Kernauftrag» des Justizvollzugs, kristallisierte sich aus unserem Forschungsmaterial heraus, welchen Interpretations- und Verhandlungsspielraum diese Worte bieten: Die uns begegneten Direktor:innen kombinierten und priorisierten in ihrem Berufsalltag die – oftmals als konfligierend beschriebenen – Logiken des Justizvollzugs individuell, aus ihrer Abwägung heraus und füllten sie mit eigenen Inhalten, Philosophien, Sinnvorstellungen und Bewertungen darüber, was eine Vollzugsanstalt bieten und leisten sollte. Sie nahmen so in kleinen und alltäglichen Situationen mit persönlichen Einstellungen Einfluss darauf, welche Entscheidungen wie (vor allem wie begründet) getroffen wurden: So liessen sich beispielsweise beachtliche Verfahrens- und Auslegungskontraste bei Disziplinarentscheiden von Direktor:innen beobachten. Auch Einstellungen hinsichtlich Unternehmensführung und Arbeitsklima schienen unterschiedlich auszufallen. Die Nutzung verschiedener Gestaltungsspielräume spiegelte sich weiter etwa hinsichtlich Umgangs mit (Über-) Belegung, Zellenöffnungsregeln, Besuchszeiten und Raumgestaltung und ebenso in einer beachtlichen Diversität hinsichtlich kleinerer Aspekte des Lebensalltags von Gefangenen wider: So sprachen manche etwa davon, aus Gründen der Nachhaltigkeit regelmässig vegetarische Tage einzuführen, im Sinne der kritischen Bildung ihre Bibliothek zu vergrössern und gefängniskritische Literatur anzubieten, aus einem ästhetischen Empfinden gegenüber «aufgepumpten Körpern» Proteinpulver zu verbieten, im Sinne der Religionsvielfalt einen muslimischen Gottesdienst einzuführen, «weil dies zum Kernauftrag gehört», Haustiere zu erlauben, verschiedene Initiativen für die Beziehungspflege einzuleiten, oder Nutzgegenstände wie Wattestäbchen oder Kompostkübel in den Zellen zu verbieten – um nur ein paar Beispiele aufzuführen, die die Vollzugsgesetze in dieser Form nicht vorbestimmen, aber den Alltag von Gefangenen prägen (weiterführend Frey, 2023).
Trotz der öffentlichen Erwartung, der Bereich des Freiheitsentzugs sei schweizweit (oder zumindest kantonal) stark normiert und reguliert, lässt sich daher annehmen, dass es eine Rolle spielt, wie ein:e Direktor:in die Bedeutung des «Kernauftrags» (oder das, was von ihm:ihr als zentrale Aufgabe der Einrichtung verstanden wird) von formalen Vorgaben in den Institutionsalltag übersetzt und an welchen Logiken er:sie sich dabei orientiert.
Erinnern wir uns an Jamie Bennett und seine Forschung zu Direktor:innen in Grossbritannien (Kap. 1): Bennett argumentiert, dass das Verhältnis zwischen Direktor:innen und den sie umgebenden Strukturen, Anforderungen und Zwängen in einer dialektischen Weise zu verstehen sei, und folgert daraus, dass dies eine entsprechende – qualitative – Untersuchungsmethode benötigt:
A new approach to understanding prison managers [should] explore [the] dynamic inter-relationships as dualities; […] globalism and localism, agency and structure. In common with Giddens' theory of structuration (1984), such an approach would be interested in how structures were both constraining and empowering; how individuals are not only subject to rules and structures but are also participants in their creation, maintenance and adaptation; the dialectics between the holders of power and the subjects of it […] (Bennett, 2016, S. 30).
Übertragen wir Bennetts Perspektive auf unseren Forschungskontext, so bedeutet dies: Die Direktor:innen, die uns in der Forschung begegnet sind, waren in ihrer Berufspraxis nicht nur trotz aller Zwänge, mehrdeutiger oder widersprüchlich erscheinender Logiken produktiv; vielmehr schienen dieselben Aspekte in den untersuchten Situationen konstitutiv für ihren Handlungsspielraum und gewissermassen reproduktiv für die Legitimierung und Autorität, wie auch als Schutz vor Verantwortung zu fungieren.
Die vielseitigen Spannungsfelder, quantitative und qualitative Anforderungen und justizvollzugssystemimmanente Widersprüche (die die Direktor:innen in unseren Gesprächen nicht selten als hinderlich, paralysierend oder herausfordernd beschrieben) schienen gleichzeitig für ihren Berufsalltag essenziell und nutzbringend zu sein. Sie waren gleichsam Hindernisse und Werkzeuge. Sie dienten als Argumentationsrepertoire, um das persönliche Verständnis vom Sinn gewisser Handhabungen, für oder gegen die sich entschieden wurde, zu begründen und erklären zu können. Doch genauso konnten sie auch als Erklärung dafür dienen, nicht allen Qualitäts- und Quantitätsanforderungen gerecht werden zu können und erlaubten, Verantwortung selektiv anzunehmen bzw. von sich zu weisen.
Die folgende ethnografische Vignette zeigt einen Moment, in dem diese Akzentuierung besonders deutlich wurde: Bei einer Führung von Studierenden durch ihre Justizvollzugsanstalt erläuterte eine Direktorin, inwiefern Prinzipien der Gleichheit und Fürsorge im Alltag der Institution umgesetzt werden. Am Ende der Führung kam trotz aller humanistischen Beteuerungen die Frage eines Studenten auf, wo denn in dieser Strafvollzugsanstalt eigentlich bestraft werde. Die Direktorin wies – sichtlich empört – diese Verantwortung von sich: «Wir bestrafen nicht!» und mit Nachdruck: «Wir bestrafen hier nicht! Die Tatsache, dass sie hier sind, ist die Strafe. Sobald sie hier sind, bestrafen wir nicht mehr». Im Kontext der vielschichtigen und widersprüchlichen Logiken, mit denen eine Justizvollzugsanstalt gefüllt werden kann, entschied diese Direktorin, ihre Idee von Resozialisierung (und in diesem Sinne die Fürsorge) nicht mehr als Strafe zu verstehen, sondern entkoppelte ihre Vorstellung des Strafens gänzlich vom eigenen Verantwortungsbereich. Obwohl die Diskussion damit beendet war, blieben Fragen offen: Wer bestraft denn wo (wenn nicht hier) und wer übernimmt die Verantwortung für den Vollzug der Strafe? Wie prägt die Direktion die Narrative davon, was eine Strafvollzugsanstalt (nicht) tut und welche Logiken in den Institutionen dominieren?
Damit unterstreichen wir erneut unser Argument für mehr «Studying up» im Justizvollzug: Handlungsspielräume von JVA-Direktor:innen (und deren Grenzen) erwiesen sich in unseren Forschungsprojekten nicht als fixes oder objektives Mass, sondern zeigten dehnbare Grenzen mit Raum für persönliche Werte, Erfahrungen und Motivationen. An ihren Grenzen verhandelten unsere Forschungsteilnehmenden Ideen und Ideale des Justizvollzugs entsprechend ihrer (subjektiv wahrgenommenen) Möglichkeiten in der beachtlich kontinuierlichen Justizvollzugslandschaft. Wann und in welchen Fällen einer Anstaltsleitung «die Hände gebunden» waren, unterschied sich dabei stark – und dies schien zur Folge zu haben, dass Gefangene und Personal in den jeweiligen Vollzugsanstalten bedeutend unterschiedliche Alltage erlebten und Vollzugserfahrungen machten. Immer wieder erwiesen sich die Handlungsspielräume von Direktor:innen als Veräusserlichung sowohl von Macht als auch von Gehorsam. Sie verkörperten Möglichkeiten ebenso wie Grenzen; sie ermächtigten ebenso wie sie einschränkten; sie diversifizierten ebenso wie sie normierten (s. Bennett, 2016). Dies macht sie nicht nur empirisch und theoretisch, sondern auch praktisch gesehen zu einem interessanten Forschungsthema.
Als Repräsentationen staatlicher Autorität obliegen Institutionen des Freiheitsentzugs strengen gesetzlichen Rahmenbedingungen. Die in der Schweiz gemäss dem föderalen Staatsaufbau kantonal verwalteten Einrichtungen des Freiheitsentzugs erinnern deshalb auch oft an starre Ausprägungen von (staatlicher) institutioneller Macht und Autorität, Kontrolle, Überwachung und Hierarchie und nicht zuletzt an scheinbar unbewegliche Verwaltungsformen und starre Staatsstrukturen. Mit einem Blick auf die Leitenden von Justizvollzugsanstalten oder auf die aktuelle Heterogenität der Einrichtungen drängt es sich auf, die vermeintliche Unbeweglichkeit solcher Institutionen in Frage zu stellen. Orte des Freiheitsentzugs unterscheiden sich in ihrem Alltag stark und alltägliche Praktiken und Vorstellungen des Freiheitsentzugs können sich deutlich kontrastieren und wandeln.
Der im vorliegenden Artikel thematisierte Umstand, dass rund neunzig unterschiedlich ausgebildete und divers ausgerichtete Direktor:innen in ihrer individuellen und persönlichen Praxis die institutionellen Rahmenbedingungen für die Umsetzung des gesetzlichen Justizvollzugsauftrags individuell formen, steht im Kontrast zu der in der Öffentlichkeit herrschenden Annahme, der Bereich des Justizvollzugs sei auf der Basis gesetzlicher Grundlagen schweizweit (oder zumindest kantonal) einheitlich reguliert sowie für alle Inhaftierten in ähnlicher Weise und mit ähnlichen Regeln, Ressourcen, Möglichkeiten und Chancen zu durchleben.
Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass es nicht unser Anspruch ist, zu sagen, dass Direktor:innen willkürlich handeln. Ebenso wenig wollen wir für eine Vereinheitlichung oder Normierung der Leitungsfunktionen in Justizvollzugsanstalten plädieren (ein Plädoyer für mehr Handlungsspielräume findet sich etwa bei Koch et al., 2017). Vielmehr wollen wir dazu beitragen, die Komplexität dieser Aufgabe sichtbar zu machen. Das Spannungsfeld innerhalb der unzähligen und teilweise widersprüchlichen Ansprüche, die an Justizvollzugsanstalten gestellt werden, spiegelt sich in der Arbeit von Direktor:innen wider: Gleichbehandlung und individualisierter Vollzug, Sicherheit und Resozialisierung, Strafe und Fürsorge – die vielfältigen Aufgaben lassen sich weder einfach trennen noch hierarchisieren und doch kaum vereinen. Und so zeigt ein Blick auf den Alltag von Direktor:innen, wie diese mit unterschiedlichen Perspektiven jonglieren und je nach Kontext mal den Akzent auf die eine, mal auf die andere Perspektive legen.
Auf diese Weise einen Blick auf Management- und Führungspraktiken zu werfen, bedeutet für uns daher nicht, bewerten oder verändern zu wollen, was «gutes Management», «good governance», «funktionierende Führungsstrategien» oder «ethisch korrektes Leiten» ist. Vielmehr fehlt es an systematischer Dokumentation, Verständnis und Analyse hinsichtlich ihrer Einbettung im Justizvollzugskontext: Wo und wie nehmen Direktor:innen Handlungsmöglichkeiten wahr, wie werden diese genutzt und ausgehandelt inmitten komplexer Organisationen und mit anderen Akteur:innen des Justizvollzugs? Wem oder was gegenüber fühlen sich die Direktor:innen in ihrer Funktion als bedeutende Entscheidungsträger:innen in der Justizvollzugsinstitution verpflichtet? Wofür sehen sie sich als rechenschaftspflichtig? Welche institutionellen Logiken werden hierbei deutlich? Welche Kontraste werden sichtbar? Wie verändern sich diese über Zeit und Raum? Schliesslich eröffnen sich damit vielerlei weiterführende Diskussionen über Entscheidungsmacht und Verantwortung: Wie gross und vielschichtig sollte die Verantwortung sein, die bei einer individuellen Person angesiedelt ist? Welche Rechenschaftspflicht ergibt sich dadurch (wem gegenüber)? Wie sehr (und wie grundlegend) können sie den Status quo im Gefängnissystem verändern? Welche Macht, aber auch Verantwortung für die Gesellschaft kommt damit den Anstaltsdirektor:innen zu? Wenngleich wir darauf keine abschliessenden Antworten liefern können oder wollen, halten wir es für relevant, die weitere Erforschung, Dokumentation und Diskussion anzuregen.
Wir verstehen Gefängnisse als gesellschaftlichen Ort, an dem Fragen von Gewalt, Schuld und Verantwortung permanent verhandelt werden – eine Verhandlung, die der Öffentlichkeit aber weitgehend verborgen bleibt. Im Kontext dieser Aushandlung sind Direktor:innen ebenso wenig einfache «Ausführer:innen» der Gesetze und Normen, die für den Strafvollzug gelten, wie sie alleinstehende «König:innen» ihrer Anstalten sind (um einen Behördenvertreter zu zitieren). Den hier beschriebenen Direktor:innen ähnlich, gilt es auch für uns Forschende, die Gleichzeitigkeit von Widersprüchen auszuhalten und nicht der Versuchung zu erliegen, diese auflösen zu wollen: Wir sehen die Verantwortung der Forschung just darin, diese Aushandlungsprozesse sichtbar zu machen. Die Verantwortung der staatlichen «Entscheidungsträger:innen» läge demgegenüber darin, diese Aushandlungen transparent zu machen und sich gegenüber Forschung und Zivilgesellschaft zu öffnen.
Anstaltsleitende sind nicht die einzigen im Justizvollzug, die über einen «Studying up»-Zugang erforscht werden könnten; So könnte ein vertieftes «Studying up» nicht nur viele weitere Hierarchieebenen einbeziehen (auch Direktor:innen haben Vorgesetzte – und diese wiederum Vorgesetzte), es müsste ebenso kritisch diskutieren, inwiefern es in einem fragmentierten und föderalistischen Justizvollzug und einem Feld voller Interdependenzen überhaupt ein «Oben» gibt (oder ob die beteiligten Akteur:innen nicht vielmehr Rädchen in einem grossen Getriebe sind, in dem Verantwortung beständig hin und her geschoben wird). Die Frage, wo die Analyse «nach oben» beginnen oder enden sollte, bleibt daher vorerst offen. Wir sind aber überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit formeller Entscheidungsmacht im Justizvollzug vielfältige Perspektiven auf die Komplexität dieser Institutionen ermöglicht. So leistet der «Studying up» Approach in der Justizvollzugsforschung einen Beitrag für wissenschaftliche und praxisnahe Debatten, um Fragen nach individueller Verantwortung in staatlichen Institutionen anzustossen, um Kontinuität sowie Heterogenität in staatlichen Institutionen nachzuvollziehen und um die vermeintliche Normalität und Selbstverständlichkeit des strafenden Freiheitsentzugs kritisch zu reflektieren.
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