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doi.org/10.36950/edv-umb-2025.08
Annette Keller

Qualität im Fokus – Measuring the Quality of Prison Life

Impressionen aus der Zusammenarbeit im Modellversuch «Soziales Klima im Justizvollzug»

Abstract

Mit dem Projekt «Soziales Klima im Justizvollzug – Measuring the Quality of Prison Life» wurde in der Schweiz erstmals die Methode MQPL+ angewendet, um die Qualität in Justizvollzugsanstalten systematisch zu erfassen und weiterzuentwickeln. Der Beitrag zeichnet den Projektverlauf nach – von der Konzeption bis zur Umsetzung – und diskutiert zentrale Erkenntnisse aus Sicht der Projektpraxis, insbesondere am Beispiel der Justizvollzugsanstalt Hindelbank.

Der Beitrag plädiert für eine institutionell verankerte Qualitätsentwicklung im Justizvollzug und unterstreicht die Bedeutung kontinuierlicher Reflexion und Zusammenarbeit zwischen Praxis und Forschung.

Langjährige Zusammenarbeit

Lieber Ueli

Ich erlaube mir, meinen Beitrag für deine Festschrift als Brief zu verfassen. Die Briefform widerspiegelt die Bedeutung der Arbeitsbeziehung in gemeinsamen Projekten. Du hast in deiner täglichen Arbeit, immer Wert auf Kooperation, Kommunikation und gegenseitige Inspiration gelegt. Das habe ich sehr geschätzt.

Nach jahrelangem, ja jahrzehntelangem Einsatz für eine fundierte und wirkungsorientierte Forschung im Justizvollzug wirst du nun (auch) pensioniert.

Solange ich in leitender Funktion im Justizvollzug gearbeitet habe (bis Mai 2024), gab es dich und später die Prison Research Group immer als forschende und begleitende Instanz für den Schweizer Justizvollzug.

Kennengelernt habe ich dich als frischgebackene Vollzugsleiterin in der JVA Hindelbank 2003. Zusammen mit Christin Achermann hattest du damals für das Forschungsprojekt «Ausländerinnen und Ausländer im geschlossenen Strafvollzug» im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes 51 «Integration und Ausschluss» in der JVA Hindelbank tagelang Gespräche geführt und Akten studiert (Achermann & Hostettler, 2004). Dabei hast du selbst erlebt, was Eingeschlossensein bedeutet. Ihr beide wart aus Versehen im Archiv eingeschlossen worden, ohne dass es jemandem aufgefallen war. Irgendwie konntet ihr euch dann doch bemerkbar machen und wurdet am Ende befreit. Diese «Selbsterfahrung» erzählst du heute gerne mit einem Schmunzeln.

Später konnten wir in der JVA Hindelbank von den regelmässigen Personalbefragungen profitieren, die du mit der inzwischen gegründeten Prison Research Group kontinuierlich durchgeführt hast und die immer wieder relevante Aspekte ans Licht brachten – insbesondere seit die Befragungen auch anstaltsspezifisch ausgewertet werden konnten. Aber auch deine begleitenden Studien zur Arbeitsagogik in der JVA Witzwil (z.B. Richter & Hostettler, 2018) haben uns in der JVA Hindelbank wertvolle Anregungen gegeben.

In den letzten vier Jahren wurde unsere Zusammenarbeit dann noch intensiver durch das gemeinsame Projekt und den Modellversuch des Bundesamtes für Justiz «Soziales Klima im Justizvollzug – Measuring the Quality of Prison Life». Im Fokus dieses Projekts standen Anliegen, die dir stets wichtig waren und blieben: ein qualitativ hochstehender, menschenwürdiger und gesetzmässiger Justizvollzug, die Gesundheit der Mitarbeitenden und der inhaftierten Personen, subjektive und objektive Sicherheit im Vollzug und eine wirkungsvolle Vorbereitung auf die Reintegration nach der Entlassung.

Im Folgenden lasse ich für deine Festschrift die Entstehung und den Verlauf des Modellversuchs1 in einem persönlichen Rückblick Revue passieren, so weit ich daran beteiligt war. (Deshalb beschränke ich mich auf die JVA Hindelbank.)

Die Idee

Entstanden war die Idee im November 2019 nach einem Besuch der Professorinnen Alison Liebling (Universität Cambridge), Ineke Pruin (Universität Bern) und Kirstin Drenkhahn (Freie Universität Berlin) in der JVA Hindelbank. Anlässlich dieses inspirierenden Besuchs wuchs der Wunsch, die von Alison Liebling entwickelte Methode zur Qualitätsmessung im Justizvollzug, «Measuring the Quality of Prison Life MQPL+» (Liebling et al., 2011) auch für die JVA Hindelbank anzuwenden. Dabei sollte auch grundsätzlich überprüft werden, inwiefern sich die Methode für die Anwendung in der Schweiz eignete und ob Anpassungen nötig wären.

Prof. Alison Liebling hatte die Methode an der Universität Cambridge in jahrelanger Forschungsarbeit entwickelt und unterdessen in England weitverbreitet eingesetzt. Es hatte sich im Rahmen der Forschungen bestätigt, dass ein förderliches soziales Klima ein entscheidender, oder sogar DER entscheidende Faktor für Qualität im Justizvollzug ist. Nur ein positives soziales Klima erlaubt einer Justizvollzugsinstitution einen menschenwürdigen und sicheren Vollzug, erhält die Gesundheit von Mitarbeitenden und Inhaftierten aufrecht und ermöglicht eingewiesenen Personen eine fundierte Vorbereitung auf die Resozialisierung.

Das soziale Klima entsteht durch ein Zusammenwirken von unzähligen materiellen, sozialen und emotionalen Gegebenheiten einer Vollzugsinstitution. Die Wirkungen all dieser Faktoren beeinflussen im Lauf der Zeit Stimmung, Verhalten und Selbstkonzept der Inhaftierten, aber auch der Mitarbeitenden. Wegen dieser dynamischen Komplexität benötigt die Erfassung des sozialen Klimas eine umfassende Messmethode, wie Alison Liebling sie mit «Measuring the Quality of Prison Life MQPL+» erarbeitet hat. Die Tiefe sowie die ausgewogene Kombination quantitativer und qualitativer Erhebungen in ihrer Methode MQPL+ faszinierten uns. Besonders beeindruckte uns zudem die klare Berücksichtigung ethischer Aspekte wie Gerechtigkeit, Fairness, Respekt, Fürsorge für vulnerable Personen sowie Sinn und Kohärenz.

Vorbereitung als Modellversuch

So wuchs der Wunsch, MQPL+ auch für den Einsatz in der Schweiz fruchtbar zu machen. Der Einsatz in der JVA Hindelbank sollte ein erster Test sein.
Bald war Prof. Ineke Pruin und mir klar, dass wir daraus ein Projekt machen wollten, und dass wir dieses gerne mit dir und der Prison Research Group durchführen würden. Und es freute uns sehr (und überraschte uns nicht), dass du sofort interessiert zusagtest.

Gemeinsam mit dir erarbeiteten wir einen Projektplan und die Eingabe des Projekts als Modellversuch beim Bundesamt für Justiz. Wir waren von der Relevanz, der Innovation und der Übertragbarkeit auch auf andere Vollzugsinstitutionen überzeugt.

Eine erste Eingabe beim Bundesamt für Justiz 2020 wurde mit dem Hinweis zurückgewiesen, das Projekt sollte eine zweite Anstalt mit einbeziehen und den Praxisnutzen für den Justizvollzug noch besser aufzeigen.
Diese Inputs nahmen wir gerne auf. Wir fanden mit dem Massnahmenzentrum (MZ) St. Johannsen sofort eine zweite interessierte Institution und mit Andreas Werren einen im Justizvollzug erfahrenen Organisationsberater. Er würde uns helfen, die Ergebnisse der Qualitätsmessung in den beiden Institutionen in konkrete Massnahmen der Organisationsentwicklung umzusetzen. Eine zweite Messung nach drei Jahren sollte zeigen, ob der Einsatz von MQPL+ sich auch für die Erarbeitung von konkreten Qualitätsentwicklungsmassnahmen und damit für messbare Verbesserungen des sozialen Klimas eignen würde.

Wir diskutierten gemeinsam intensiv ein geeignetes erweitertes Projektdesign, das beiden Ziele des Projekts gerecht werden konnte: Das soziale Klima in den beiden beteiligten Anstalten zu messen und zu verbessern und die Anwendung der in England entwickelten Methode für den Schweizer Kontext zu prüfen und anzupassen.

Du hast immer besonders betont, wie ausserordentlich und spannend du in diesem Projekt die direkte Zusammenarbeit von Forschung, Praxis und Organisationsentwicklung und die interdisziplinäre Methodenverschränkung fandest.

Wir einigten uns auf sechs Projektphasen: (1) die Vorbereitung des Arbeitsinstrumentes MQPL+, (2) die erste «Klimamessung» mittels MQPL+ in beiden Anstalten, (3) der Datentransfer in institutionsspezifisches Qualitätsmanagement, (4) die Umsetzung der Massnahmen zur Verbesserung des sozialen Klimas, (5) die zweite Klimamessung mittels MQPL+ sowie (6) die Versuchsreflexion und die anschliessende Bereitstellung eines Methodenhandbuchs. Die begleitende Evaluation des Projekts wurde verdankenswerterweise von Prof. Marina Richter von der HES-SO Wallis übernommen. Im November 2021 wurde das erweiterte Projekt vom Bundesamt für Justiz als Modellversuch für 2022-2025 angenommen. Wir konnten beginnen.

Erste Messung des sozialen Klimas

Sofort habt ihr euch vom Forschungsteam der Universität Bern daran gemacht, die schon vorliegende deutsche Übersetzung der Fragebögen für den quantitativen Teil von MQPL+ zu überarbeiten und ihn in weiteren Sprachen zur Verfügung zu stellen.

Die ersten «Messungen» der Qualität in den beiden Vollzugsinstitutionen fanden im Oktober 2022 statt. «Messung» bedeutete: Jeweils eine ganze Woche lang war das Forschungsteam in den Institutionen präsent, um die qualitativen und quantitativen Teile der Erhebung durchzuführen. Dazu gehörten standardisierte Fragebögen für die eingewiesenen Personen und die Mitarbeitenden, teilnehmende Beobachtung im Anstaltsalltag wo immer die Forschenden wollten und viele Gespräche und Interviews mit Mitarbeitenden und Eingewiesenen. Neben den Forschenden der Uni Bern unter der Leitung von Prof. Ineke Pruin und Dir gehörten auch Prof. Alison Liebling selbst und zwei Professor:innen von deutschen Universitäten zum Forschungsteam.

Nur einer fehlte: Du, Ueli! Leider hatte dich genau vor der Messwoche in der JVA Hindelbank das Coronavirus gepackt, und du musstest auf diesen Einsatz verzichten. Das war wirklich ungerecht. Gott sei Dank konntest du die Messwoche im MZ St. Johannsen miterleben. Und vielleicht war es ja nicht nur Pech: Das Forschungsteam war nach den beiden Wochen im MZ St. Johannsen und der JVA Hindelbank sichtlich erschöpft.

Aber alle hatten sich bald gut wieder erholt, du von COVID und die anderen von den beiden Messwochen. Und ihr habt euch als Forschungsteam hinter die aufwendige Arbeit der Auswertung der Fragebögen, der eigenen Beobachtungen und der Interviews gemacht.

Beobachtungen

Die ersten Beobachtungen, auf die wir mit grosser Spannung gewartet hatten, beleuchteten zahlreiche Faktoren, die für das Miteinander in einer Justizvollzugsanstalt von Bedeutung sind. Dazu gehörten – basierend auf den Themen des MQPL+ – unter anderem: Räumliche Gegebenheiten und Infrastruktur; Organisationsstrukturen und Management; Engagement, Motivation und Professionalität der Mitarbeitenden; Respekt und Menschlichkeit; Zusammenarbeit und Beziehungen unter den Mitarbeitenden; Beziehung zwischen Personal und Inhaftierten; Arbeitsorganisation und Arbeitsbelastung; Regeln und Strukturen; Zusammenarbeit mit Vollzugsbehörden; Arbeit, medizinische Versorgung, Therapie und Wiedereingliederung; Dokumentationspflichten; Drogen; allgemeines Wohlbefinden und Sicherheitsgefühl.

Die detaillierte Analyse lieferte wertvolle Impulse, um das soziale Klima in verschiedenen Bereichen weiterzuentwickeln. Sie machte deutlich, wie vielschichtig die Einflussfaktoren sind und wie wichtig es ist, sowohl strukturelle als auch zwischenmenschliche Aspekte in den Blick zu nehmen. Besonders hilfreich war, dass die Untersuchung nicht nur Stärken sichtbar machte, sondern auch mögliche Herausforderungen aufzeigte, die es weiter zu reflektieren gilt. Zudem zeigte die Untersuchung einmal mehr eine grosse Dankbarkeit vieler Eingewiesenen, dass sich externe Fachleute für ihr Erleben, ihre Sichtweise und ihr Wohlergehen interessierten.

Die Untersuchung bot somit eine wertvolle Gelegenheit, zentrale Themen in der Organisation zu beleuchten und Ansätze für die Zukunft zu diskutieren.

Kommunikation

Im weiteren Verlauf waren nun wir von den «Praxisteams» der JVA Hindelbank und des MZ St.Johannsen zusammen mit dem Organisationsberater Andreas Werren an der Reihe. Ihr vom Forschungsteam standet uns aber immer als aktive Sparringpartner:innen und Mitdenker:innen zur Seite.

Im Rahmen einer von Andreas Werren moderierten Leitungsretraite der JVA Hindelbank diskutierten wir als erstes eure Hinweise intensiv, auch zusammen mit euch. Die intensive Auseinandersetzung zeigte einmal mehr die enorme Komplexität und Vielfalt der Bereiche einer Justizvollzugsanstalt auf. Diese Fülle hatte fast etwas «Erschlagendes» – wie konnten wir das immer alles im Blick behalten, die Qualität in allen Bereichen aufrechterhalten oder gar noch verbessern? Es gab spannende und auch kontroverse Diskussionen. Erste mögliche Massnahmen der Organisationsentwicklung wurden dabei entworfen. Immer wieder hast du dabei auch hilfreiche Inputs aus dem Quervergleich mit dem Bildungsbereich eingebracht.

Anlässlich einer Personalinformation stellten wir den Bericht den Mitarbeitenden vor. Alle Ergebnisse wurden schriftlich zur Verfügung gestellt. Das Fazit freute alle. Die Präsentation zeigte aber auch einmal mehr die enorme Komplexität und Vielfalt der Bereiche einer Justizvollzugsanstalt auf.

Massnahmen

In zwei weiteren Retraiten von Leitung und Kader der JVA Hindelbank wurden basierend auf dem Bericht konkrete Massnahmen für die Qualitätsentwicklung konkretisiert, bestimmt und in die Jahresplanung 2024-2025 aufgenommen.

Aufgrund meiner Pensionierung Mitte 2024, habe ich nur die erste Hälfte der Massnahmen in ihrer Umsetzung erlebt. Besonders lebendig in Erinnerung bleiben mir die Workshops zur Dokumentation. Sie stehen für mich auch als Beispiel für einen von vielen Bereichen einer Justizvollzugsanstalt, deren Einfluss auf das soziale Klima erst auf einen zweiten Blick sichtbar wird – oder eben mit einer umfassenden und justizvollzugsspezifischen Messmethode wie «MQPL+ - Measuring the Quality of Prison Life».

Ausblick und Dank

Die zweite Klimamessung mittels MQPL+ (Phase 5) und die darauffolgende vertiefte Reflexion des Gesamtversuchs und anschliessende Bereitstellung eines Methodenhandbuchs wird den Modellversuch dann abschliessen. Die Ergebnisse werden anschliessend in einem Schlussbericht zuhanden des Bundesamtes für Justiz veröffentlicht.

Ob Verbesserungen bei der zweiten Messung nachweisbar sind? Oder ob die Komplexität zu hoch und der Einfluss auch äusserer Faktoren zu gross sind? Ich bin auf alle Fälle gespannt. 


Der Abschluss des Modellversuchs fällt für uns beide, in die Zeit nach unserer Pensionierung. Das Projektteam mit Prof. Ineke Pruin, Louise Frey, Renata Sargent, Andreas Werren und unseren Nachfolger:innen Andrea Wechlin und Dr. Irene Marti wird das Projekt gewinnbringend zu Ende führen.

Es war eine tolle, vertrauensvolle und inspirierende Zusammenarbeit mit dir, lieber Ueli, und dem ganzen Projektteam. Ich hoffe, dass wir mit diesem Modellversuch einen Beitrag leisten konnten, dass der Schweizerische Justizvollzug weiterhin professionell, menschenwürdig, gesundheitserhaltend und zukunftsorientiert sein kann – zugunsten der inhaftierten Personen, der so professionellen und engagierten Mitarbeitenden und der öffentlichen Sicherheit.

Literatur

Achermann, C., & Hostettler, U. (2004). AusländerInnen im geschlossenen Strafvollzug: eine ethnologische Gefängnisstudie. Tsantsa, 9, 105-108.

Liebling, A., Hulley, S., & Crewe, B. (2011). Conceptualising and Measuring the Quality of Prison Life. In D. Gadd, S. Karstedt, & S. Messner (Hrsg.), The Sage Handbook of Criminological Research Methods (S. 358-372). Sage.  

Richter, M., & Hostettler, U. (2018). Bericht Evaluation Stand der Arbeitsagogik in der JVA Witzwil zuhanden der JVA Witzwil. Universität Bern, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Prison Research Group.

Anmerkungen

1 Da die Veröffentlichung der Versuchsergebnisse noch aussteht, wird auf diesbezügliche Ausführungen weitgehend verzichtet. ↩︎