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doi.org/10.36950/edv-umb-2025.12
Marina Richter

Soziale Arbeit im Schweizer Justizvollzug – Forschung im Kontext einer Fachhochschule

Abstract

Ausgehend von einer langjährigen und erfahrungsbasierten Auseinandersetzung mit dem Schweizer Justizvollzug thematisiert der Beitrag die Rolle und Entwicklung der Sozialen Arbeit in diesem Bereich. Im Fokus stehen unterschiedliche institutionelle Modelle, regionale Unterschiede sowie die Frage, wie sich Professionelle der Sozialen Arbeit in einem spannungsvollen Umfeld zwischen Hilfe und Kontrolle positionieren. Die Erfahrungen aus verschiedenen Forschungsprojekten zeigen, dass Soziale Arbeit im Justizvollzug heute nicht nur etabliert ist, sondern eine tragende Rolle in der Gestaltung eines ressourcenorientierten und humanen Vollzugs spielt.

Einleitung

Mit Ueli Hostettler verbindet mich nicht nur eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf das Justizvollzugssystem und eine langjährige gemeinsame Forschungspraxis. Im Eigentlichen bin ich erst durch ihn in die Thematik und auch in die Institutionen des Schweizer Justizvollzugs hineingekommen. Er war es, der mir die Thematik, das Feld sowie eine Fülle an Literatur näherbrachte. Waren es vorerst Mandate und Evaluationen, welche mir erste Einblicke und vorsichtige forschende Schritte in diese besondere Welt am Rande und gleichzeitig zutiefst im Herzen der Gesellschaft erlaubten, so ergaben sich mit der Zeit verschiedene Gelegenheiten für längere Einblicke im Rahmen von Projekten der Grundlagenforschung.

Dieser doppelte Zugang, einerseits über Mandate und andererseits über Grundlagenforschung, hat Ueli Hostettlers und meinen Zugang zum Feld stark geprägt. Dies war nicht immer einfach, da Mandate stark auf die vertraglich definierten Outputs ausgerichtet sind, eine berufliche Perspektive als Wissenschaftler:innen jedoch immer auch akademische Verwertung im Rahmen von entsprechenden Publikationen bedingt. Gleichzeitig erhielten wir durch die mandatierten Forschungsaufträge auch erleichterte Einblicke in das Feld und konnten in der ganzen Schweiz wichtige Kontakte knüpfen und den Austausch pflegen, was für spätere Projekte der Grundlagenforschung wiederum den Ausgangspunkt bildete und den Zugang erleichterte. Wenn ich heute auf die Leistung von Ueli Hostettler als engagierter Forscher zurückblicke, so hat sich dieses Spannungsfeld (Richter & Hostettler, 2015) als enorm produktiv erwiesen – im Hinblick auf wissenschaftliche Produktion wie auch auf die Beteiligung am Dialog mit der Praxis.

Im Rückblick scheint mir ein Punkt besonders bedeutsam, den ich in der gemeinsamen Forschungstätigkeit gelernt habe: die Verantwortung ernst zu nehmen, welche ich als Forschende habe, wenn ich in einem sensiblen Feld forsche (Hostettler, 2012). Dabei geht es nicht nur um den Schutz persönlicher Daten, auch wenn dies von grosser Bedeutung ist. Es geht auch um die verschiedenen, zum Teil diametral entgegengesetzten Interessen, welche es ernst zu nehmen gilt. Es geht weiter auch darum, dass das Feld von Medien und Politik stets mit Argusaugen betrachtet wird, dass es nur zu gerne kritisiert wird und dass dadurch auch Mitarbeitende und Direktionen der Kritik ausgesetzt sind. Gleichzeitig steht für inhaftierte Personen immer sehr viel auf dem Spiel. Eine ethische Forschungsperspektive auszuhandeln und immer wieder die eigene Position zu hinterfragen war und bleibt eine Herausforderung. Gerade als Forschende, welche empirisch im Feld forschen und nicht auf bestehendes Material wie Statistiken oder historische Dokumente zurückgreifen, ist der Zugang zum Feld zentral. Eine kritische Position einzunehmen ist dabei jedoch genauso wichtig, denn auch Akteur:innen im Feld verlangen nach einer kritischen Rückmeldung. Dies bedingt jedoch auch eine Sensibilität für den Kontext in dem die Institutionen und die darin handelnden Personen agieren.

Aufbau einer zweiten Forschungsstelle: Soziale Arbeit und Fachhochschule

Lange blieb ich der Prison Research Group von Ueli Hostettler verbunden. Zuerst war ich am Aufbau an der Universität Fribourg beteiligt, danach beteiligte ich mich auch nach der Etablierung der Forschungsgruppe an der Universität Bern weiter an Mandaten und Forschungsprojekten. Durch meinen Wechsel an die Fachhochschule Wallis ergab sich die Möglichkeit, eine zweite Forschungsstelle mit sozialwissenschaftlichem Blick auf den Justizvollzug in der Schweiz aufzubauen.

Die Hochschule für Soziale Arbeit im Wallis bietet der dortigen Forschungsgruppe CrimSo ein spezifisches Setting für die Forschung im Bereich des Justizvollzugs. Ein entscheidender Vorteil ist die Zweisprachigkeit der Hochschule und damit auch der Forschungsgruppe. Dies ermöglicht einen erleichterten Zugang zu den verschiedenen Landesteilen. Gerade in der Schweiz, wo durch den Föderalismus in jedem Kanton spezifische Bedingungen für den Justizvollzug existieren und dadurch eine Art «Labor idealer Bedingungen» für vergleichende Forschung herrscht, ist dies von nicht zu unterschätzendem Vorteil. Die Projekte sind daher explizit auf die Deutschschweiz (deutschsprachig), die Romandie (französischsprachig) sowie auf das Tessin (italienischsprachig) ausgerichtet. Es sind dabei nicht nur die sprachlichen Kompetenzen der Forschenden in der Gruppe, welche diesen Zugang ermöglichen, sondern auch die Zweisprachigkeit der Hochschule selbst und damit eine Einbindung in die verschiedenen Landesteile, die diesen Zugang erleichtern.

Weiter stellt die fachliche Ausrichtung der Hochschule auf Soziale Arbeit einen direkten Bezug zur Berufspraxis einer zwar zahlenmässig kleinen, aber wichtigen Berufsgruppe im Justizvollzug dar. Als Forschende einer Hochschule für Soziale Arbeit stellt der Professionsbezug nicht nur eine Brücke auf institutioneller Ebene dar. So treffen wir bei unserer Forschungspraxis immer wieder auf ehemalige Studierende der Hochschule. Die Schule verfügt auch über Netzwerke und lebendige Beziehungen ins Praxisfeld. Studierende machen ihre Praktika u.a. in Vollzugsanstalten oder in der Bewährungshilfe und für die Lehre fragen wir immer wieder Vertreter:innen aus der Praxis an. Darüber hinaus bezieht die Forschungsgruppe durch die Arbeit an der Hochschule auch Kenntnisse über theoretische und methodische Referenzen der Profession Soziale Arbeit. Dies erleichtert einen Dialog auf Augenhöhe mit den Professionellen.

Soziale Arbeit im Justizvollzug

Während die Soziale Arbeit in der Bewährungshilfe bereits Anfang des 20. Jahrhunderts einen Platz hatte – damals noch unter dem Titel der Schutzaufsicht – dauerte es deutlich länger, bis auch in den Vollzugsanstalten eine Form von Sozialdienst Einzug erhielt (Emprechtinger & Richter, 2024). Derzeit können wir gerade ein weiteres Kapitel dieser Entwicklung mitverfolgen. Immer mehr wird die Notwendigkeit anerkannt, auch in der Untersuchungshaft eine sozialarbeiterische Unterstützung anzubieten.

In diesem durch den Schweizer Föderalismus hervorgebrachten Labor konnten sich unterschiedliche Modelle von Sozialer Arbeit im Justizvollzug entwickeln. Eine solche modellhafte Unterscheidung betrifft die Organisation als zentralisierter oder als integrierter Sozialdienst. Im Modell des zentralisierten Sozialdienstes befindet sich der Sozialdienst in einem Bürotrakt der Justizvollzugsanstalt (Franz et al., 2024). Die Professionellen der Sozialen Arbeit sind wie in einem Sozialdienst ausserhalb des Vollzugs für Beratungstätigkeiten zuständig und haben u.U. auch eine Fallführungsfunktion. Zumeist kommen die Eingewiesenen für Beratungsgespräche in die Büros der Sozialarbeitenden. Diese sind zuständig für Fragen der Alltagsbewältigung sowie für Fragen im Zusammenhang mit dem Austritt wie etwa die Wohnungssuche, die Suche einer Erwerbstätigkeit und die Pflege sozialer Beziehungen. Damit stellen sie eine wichtige Verbindung zur Welt ausserhalb des Vollzugs dar. In einer Anstalt, welche den Sozialdienst integriert organisiert, sind die Büros der Sozialarbeitenden auf den Wohngruppen zu finden (Kohler, 2024). Dadurch sind die Sozialarbeitenden näher am Alltagsgeschehen der eingewiesenen Personen und können direkter auf Fragen und Probleme eingehen. Gleichzeitig nehmen sie anstelle des Personals für Betreuung und Sicherheit auch Kontrollaufgaben wahr. Sie schliessen morgens und abends die Zellen auf oder zu und üben durch die vermehrte Präsenz auch stärkere Kontrollfunktion aus.

Eine weitere Unterscheidung liegt in den Aufgaben und damit Kompetenzen, welche die Professionellen der Sozialen Arbeit in den Anstalten wahrnehmen. Auf der einen Seite des Spektrums übernehmen Professionelle der Sozialen Arbeit innerhalb der Anstalt die Fallführung für die eingewiesenen Personen. Sie sind damit für die Organisation des Vollzugs verantwortlich und bereiten damit auch die Übergänge vor, wie erste Öffnungen (Ausgänge) oder Progressionsstufen, beispielsweise den Wechsel von einer geschlossenen in eine offene Anstalt oder den Übertritt in ein Wohn- oder Arbeitsexternat. Sie sind oft für das Erstellen der Berichte zuständig, welche als Grundlage für solche Progressionsentscheide dienen. Eine solche Auslegung der Aufgaben der Sozialen Arbeit finden sich vorrangig in der Deutschschweiz. In der Romandie und im Tessin werden Fallführung und Vollzugsorganisation zumeist von Kriminolog:innen innerhalb der Anstalt übernommen. Dadurch konzentrieren sich Professionelle der Sozialen Arbeit auf die Beratungstätigkeit im Sozialdienst, sind weniger in Entscheidungsprozesse eingebunden und können sich dadurch auch stärker von der Kontroll- und Straffunktion des Vollzugs distanzieren.

Eine weitere Unterscheidung betrifft die Frage der Kontinuität der Betreuung, die in den Leitlinien der Bewährungshilfe grundsätzlich als «durchgehende Betreuung» angestrebt wird. Auch hier wiederum ist das Spektrum gross und hängt nicht zuletzt von der Grösse der Kantone und damit den Möglichkeiten der Realisierung einer solchen durchgehenden Betreuung ab, wie auch vom Verlauf des Vollzugs einer eingewiesenen Person. So lässt sich in einem kleinen Kanton das Prinzip der durchgehenden Betreuung leichter aufrechterhalten, als in einem grossen Kanton, in dem längere Reisewege in Kauf genommen werden müssen, wenn dieselbe Person für die Betreuung einer inhaftierten und später unter Umständen sich auf Bewährung befindenden Person zuständig ist. Ebenfalls lässt sich dieses Modell leichter umsetzen, wenn eine eingewiesene Person innerhalb desselben Kantons verbleibt, als wenn sie in unterschiedlichen Anstalten in der Schweiz ihre Strafe verbüsst. Das Tessin stellt ein Beispiel für einen Kanton dar, in dem die durchgehende Betreuung von derselben Person wahrgenommen wird und nicht nur wie in vielen Kantonen, das Dossier in derselben Abteilung oder im selben Team bleibt, aber die Betreuungsperson wechselt. Im Tessin ist dies möglich, da die Anstalten nahe beieinander liegen und die Betreuung durchgehend von der Bewährungshilfe geleistet wird. Auch einzelne Einweisungen in Anstalten ausserhalb des Kantons werden von den Bewährungshelfer:innen des Kantons betreut (Richter & Emprechtinger, 2024).

Ausblick

Ein Blick in die Geschichte der Sozialen Arbeit im Schweizer Justizvollzug zeigt, dass die Bedeutung der Profession im Vollzug zugenommen hat. Sozialarbeitende haben wichtige Aufgaben und Funktionen und sind aus dem System nicht mehr wegzudenken. In diesem Zusammenhang hat sich in den letzten Jahrzehnten auch eine zunehmende Professionalisierung vollzogen. Aktuelle Entwicklungen, wie die zunehmende Anerkennung der Bedeutung sozialer Beziehungen für Menschen im Vollzug oder die Diskussion um die Bedeutung von Ressourcen eingewiesener Personen – zusätzlich oder in Kombination mit einer Risikoorientierung –, verweisen auf Kernbereiche der Sozialen Arbeit. Was das für die Soziale Arbeit in Zukunft konkret bedeutet, wird sich zeigen müssen. Ein sozialwissenschaftlicher Blick auf soziale Aspekte des Vollzugs und auf zentrale Akteure darin, wie beispielsweise Professionelle der Sozialen Arbeit, wird damit sicherlich weiterhin seine Berechtigung behalten.

Literatur

Emprechtinger, J., & Richter, M. (2024). Geschichte der Sozialen Arbeit im Schweizer Justizvollzug. In M. Richter & J. Emprechtinger (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Schweizer Justizvollzugslandschaft/Le travail social dans l’exécution des sanctions pénales en Suisse (S. 21-54). Seismo. https://doi.org/10.33058/seismo.30896

Franz, L., Emprechtinger, J., & Richter, M. (2024). Le travail social en milieu fermé: Exemple des Établissements de la plaine de l’Orbe. In M. Richter & J. Emprechtinger (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Schweizer Justizvollzugslandschaft/Le travail social dans l’exécution des sanctions pénales en Suisse (S. 115-138). Seismo. https://doi.org/10.33058/seismo.30896

Hostettler, U. (2012). Exploring hidden ordinariness: Ethnographic approaches to life behind prison walls. In M. Budowski, M. Nollert, & C. Young (Hrsg.), Delinquenz und Bestrafen (S. 158-166). Seismo.

Kohler, P. P. (2024). Integrierte Soziale Arbeit in einer Justizvollzugsanstalt: Das Beispiel HIndelbank. In M. Richter & J. Emprechtinger (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Schweizer Justizvollzugslandschaft/Le travail social dans l’exécution des sanctions pénales en Suisse (S. 167-186). Seismo. https://doi.org/10.33058/seismo.30896

Richter, M., & Hostettler, U. (2015). Conducting commissioned research in neoliberal academia: The conditions evaluations impose on research practice. Current Sociology, 63(4), 493-510. https://doi.org/10.1177/0011392114562497

Richter, M., & Emprechtinger, J. (2024). Landschaft der Sozialen Arbeit im Schweizer Justizvollzug. In M. Richter & J. Emprechtinger (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Schweizer Justizvollzugslandschaft/Le travail social dans l’exécution des sanctions pénales en Suisse (S. 375-408). Seismo. https://doi.org/10.33058/seismo.30896