Über Mauern blicken
doi.org/10.36950/edv-umb-2025.14
Hans-Rudolf Schwarz

Evaluation Einführung Arbeitsagogik in den Anstalten Witzwil

Abstract

Wie kann pädagogisches Arbeiten im Justizvollzug gestärkt werden, ohne dabei bestehende Vollzugskulturen zu überfordern? Dieser Beitrag zieht Bilanz zur Einführung arbeitsagogischer Konzepte in den Anstalten Witzwil und zeigt, wie es gelang, durch praxisnahe Forschung, gezielte Kommunikation und Fingerspitzengefühl auch skeptische Mitarbeitende zu überzeugen.

Eine Mauer provoziert

Man muss schon ziemlich dreist sein, wenn man seine Justizvollzugsanstalt als «Schweizerisches Zentrum für Arbeitsagogik im Justizvollzug» bezeichnet und dies auch noch in fetten Buchstaben an die Anstaltsmauer malt. Dass das die Forschung geradezu provozieren würde, war ja wohl klar!

Am 22. Dezember 2006 erteilte Martin Kraemer, Vorsteher des Amtes für Freiheitsentzug und Betreuung des Kantons Bern, Dr. Ueli Hostettler formell den Auftrag, zu prüfen, ob die Mittel für die Einführung der Arbeitsagogik im Rahmen des Reorganisationsprojektes «Vision120» entsprechend der Planung eingesetzt wurden. Bei der zweiten übergeordneten Frage ging es um die Dokumentation und Auswertung der Wirkung. Der Auftrag entsprach ganz dem Kernanliegen von Dr. Ueli Hostettler, theoretisches Wissen in der Praxis zu erproben und erfolgreich anzuwenden. Seine Untersuchungen orientierten sich am CIPP-Modell (Context-Input-Process-Product) (Stufflebeam et al., 1971). Konkret fanden zwischen 2007 und 2010 standardisierte Befragungen von Mitarbeitenden und Gefangenen, Fokusgespräche und Interviews statt. Daraus resultierten zwei Zwischenberichte und ein Schlussbericht.

Eine riesige Baustelle

Als im Herbst 2007 Dr. Ueli Hostettler und seine Doktorassistentin, Dr. Marina Richter, erstmals die Anstalten Witzwil besuchten, war die Stimmung unter den Arbeitsmeisterinnen und Arbeitsmeistern angespannt. Ihre Werte und ihr Stolz schienen mit arbeitsagogischem Denken und Handeln in Frage gestellt. Seit Jahrzehnten identifizierte sich eine Vielzahl von Mitarbeitenden mit der Grösse der Domäne, den hohen Erträgen auf 600 ha Land «unter dem Pflug» und den Leistungen von über 2’000 Tieren. Sollte der Produktionsauftrag nichts mehr gelten? Erschwerend kam hinzu, dass die Einführung der Arbeitsagogik in ein tiefgreifendes Reorganisationsprojekt der gesamten Anstalt eingebettet war. Zudem wurden die Mitarbeitenden durch Medienberichte verunsichert. Eine Grossrätin wollte wissen, ob in den Anstalten Witzwil nun nur noch therapiert werde. Dr. Ueli Hostettler fasste die Situation der Mitarbeitenden in den Anstalten Witzwil mit einem Zitat aus Gruppendiskussionen zusammen: «Wir sind auf einer riesigen Baustelle. Die Kräfte werden darauf verwendet. Wir versuchen das Beste daraus zu machen. Wir hören von Instrumenten, aber wir haben sie noch nicht.» (Richter & Hostettler, 2010, S. 8). Von nun an war klar, Dr. Ueli Hostettler kann man nichts vormachen.

Vom Umgang mit Widerstand

Eine Schlüsselperson für die Akzeptanz der Einführung von Arbeitsagogik in den Anstalten Witzwil war der in Fachkreisen und bei den Mitarbeitenden äusserst anerkannte Pferdefachmann S. Der Arbeitsmeister war seit über dreissig Jahren in den Anstalten Witzwil tätig und hatte bereits so manche Reorganisation miterlebt. In Gesprächen mit den Forschenden bekundete er insbesondere Mühe mit dem Begriff «Arbeitsagogik». Er konnte nicht nachvollziehen, dass die Art Gefangene anzuleiten, von nun an «Arbeitsagogik» heissen soll. Natürlich blieb die Skepsis von S und weiteren Mitarbeitenden im Arbeitsbereich auch Dr. Ueli Hostettler nicht verborgen. Der Widerstand der Mitarbeitenden wurde zu einem zentralen Kritikpunkt im zweiten Zwischenbericht.1 Vor der Berichterstattung war es Dr. Ueli Hostettler immer auch ein Anliegen, die Meinung des Direktors einzuholen. Dabei konnte ich dem Auditor erklären, dass ich S für einen der besten Arbeitsagogen seit Jahren hielt. Bei Führungen zeigte ich nämlich öfters ein Foto von S. Auf dem Bild war S beim Pflügen mit einem «Zweispänner» zu sehen.2 Dabei wurden die Pferde von einem Gefangenen geführt und der Pferdefachmann hielt den Pflug auf Kurs. Wie lange muss es wohl gedauert haben, bis der Arbeitsmeister und der Gefangene die Rollen beim Pflügen getauscht haben? Ein wunderbares Beispiel, wie Fachkompetenz und Selbstwertgefühl gefördert und Verantwortung übergeben werden können! Als Lehre zum zweiten Bericht beschlossen wir in der Projektleitung, den Begriff «Arbeitsagogik» zurückhaltend zu gebrauchen und uns stattdessen auf die Methodik und Didaktik im Umgang mit Gefangenen zu konzentrieren. In der Projektleitung waren wir hoch erfreut, wie Dr. Ueli Hostettler die Inputs der leitenden Mitarbeitenden im Bericht verarbeitete. Sein Gefühl für das in der Praxis Machbare, seine Fähigkeit, Fortschritte zu würdigen und Lücken aufzuzeigen, überzeugte die Projektleitung und sorgte dafür, dass der Zugang zu den Mitarbeitenden und den Gefangenen über die ganze Evaluationsphase nie abriss.

Eine Innovation im schweizerischen Justizvollzug

Nun stand die dritte Evaluationsrunde bevor. Der Bericht würde darüber entscheiden, ob die Einführung der Arbeitsagogik und damit auch die Finanzierung über einen Kostgeldzuschlag als Erfolg bezeichnet werden konnten. Im dritten Bericht zeigte Dr. Ueli Hostettler auf, dass die Arbeitsagogik in den Anstalten Witzwil bei allen Mitarbeitenden und den Gefangenen angekommen war – oder dass sie sich ihr nicht mehr entziehen konnten (Richter & Hostettler, 2010). Die Eintrittsabteilung bezeichnete er im Bericht als «in dieser umfassenden Art visionär für die Schweiz» und stellte fest, dass sie das Prinzip der Individualisierung im Strafvollzug (individualisierte Vollzugsplanung) konsequent umsetzt (Richter & Hostettler, 2010, S. 3). Entwicklungspotential wurde immer noch im Verständnis des Dualauftrages (Produktion und Sozialauftrag) bei den Mitarbeitenden und bei der Austrittsbefragung der Gefangenen geortet. In der Frühjahrskonferenz im Jahr 2011 des Nordwest- und Innerschweizer Strafvollzugskonkordates vertrat Dr. Ueli Hostettler den Schlussbericht vor den Regierungspersonen. Er zeigte den Weg von der Planung bis zur Einführung des Projektes auf und liess nicht unerwähnt, dass das Projekt aus Sicht der Mitarbeitenden von oben geplant war, dass sich aber zwischenzeitlich aus der Basis eine Gruppe von Mitarbeitenden gebildet hatte, die sich der Sensibilisierung der Mitarbeitenden und Qualitätssicherung angenommen hatte.

Aufgrund der Darlegungen von Dr. Ueli Hostettler würdigten die Konferenzteilnehmenden die Umsetzung der Arbeitsagogik in den Anstalten Witzwil und genehmigten für diese Mehrleistung einen Kostgeldzuschlag von CHF 28.- pro Vollzugstag.

Mit der Begleitung des Projektes haben Dr. Ueli Hostettler und Dr. Marina Richter wesentlich zur Akzeptanz und zur Qualität der Arbeitsagogik im Justizvollzug beigetragen. Ihre wissenschaftliche Perspektive und ihr Verständnis für die praktische Umsetzung der Arbeitsagogik im Arbeitsalltag haben das Projekt zum Erfolg geführt. In den Anstalten Witzwil, die auch der grösste Bauernhof der Schweiz sind, würde man nach den drei Jahren Begleitung sagen:

«Dr. Ueli Hostettler ist ein Gelehrter von der Universität Freiburg, aber er ist auch ein Mann der Scholle.»

Literatur

Richter, M., & Hostettler, U. (2009). Einführung von Arbeitsagogik. Anstalten Witzwil. Externe Evalaution. Zweiter Zwischenbericht. Universität Freiburg.

Richter, M., & Hostettler, U. (2010). Einführung von Arbeitsagogik. Anstalten Witzwil. Externe Evaluation 1.9.2007-30.9.2010. Schlussbericht. Universität Freiburg.

Stufflebeam, D. L., PDK National Study Committee on Evaluation. (1971). Educational Evaluation, and Decision Making. F.E. Peacock.

Anmerkungen

1 58,8% der Mitarbeitenden schätzen die Projektkommunikation, Richter & Hostettler, 2009, S. 10. ↩︎
2 Der Pflug wird von zwei Pferden gezogen. ↩︎