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doi.org/10.36950/edv-umb-2025.15
Christoph Urwyler u. a.

Forschen für den Justizvollzug: Am Anfang steht ein visionäres Engagement für den Theorie-Praxis-Transfer

Abstract

Der Beitrag beleuchtet die Rolle der Prison Research Group unter der Leitung von Ueli Hostettler, die sich über viele Jahre hinweg als treibende Kraft für eine nachhaltige Weiterentwicklung des Straf- und Massnahmenvollzugs etabliert hat. Anhand zentraler Forschungsprojekte – etwa zur Bildung im Strafvollzug, zur Arbeitssituation des Vollzugspersonals oder zur Entwicklung des «Barometer Vollzugseinrichtungen» – wird gezeigt, wie praxisnahe Forschung zur Qualitätsentwicklung beiträgt.

Einleitung

Veränderungen im Justizvollzug sind aufgrund des föderalen Systems sehr anspruchsvoll und zeitintensiv. In der Schweizer Politik, so hat es der Germanist Peter von Matt einmal treffend formuliert, «geht alles immer lang und um allerlei Ecken herum und muss am Ende noch einmal bedacht werden» (Bucheli & Neff, 2022). Dafür – das zeigt sich in der Praxis immer wieder – sind die angestossenen Lernprozesse im Ergebnis durchdacht, nachhaltig und häufig auch innovativ. Umso wichtiger ist es in Anbetracht dieser Tendenz einer langsamen, aber stetigen Weiterentwicklung, dass die Verantwortlichen fundierte, der Zukunft zugewandte Entscheidungen treffen und diese «behäbigen» Prozesse in eine fruchtbare Richtung lenken.

Wissenschaftliche Forschung spielt deshalb eine zentrale Rolle für den Justizvollzug. Sie bietet objektivierte Einsichten in Trends, Problembereiche und Lösungen, die ohne systematische Untersuchung möglicherweise unbemerkt bleiben würden. Auf diese Weise erleichtert sie eine vorausschauende und effiziente Planung, identifiziert Bereiche, in denen Investitionen besonders wirksam sind, und hilft, kostspielige Fehlplanungen zu vermeiden bzw. die begrenzten Ressourcen im Justizvollzug effizienter zu nutzen.

Angesichts ihrer eminenten Bedeutung für die Qualität des Justizvollzugs, ist indes die scientific community, welche sich dieser Forschung verschrieben hat, in der Schweiz erstaunlich klein und überschaubar. Einer der herausragenden Akteure, der theoretisch reflektiert, praxisnah und schweizweit umfassende Forschung betreibt, ist die Prison Research Group (PRG), welche von Ueli Hostettler als interdisziplinäre Forschungsgruppe ab 2006 an der Universität Fribourg aufgebaut worden und seit 2015 der Universität Bern angegliedert ist.

Prison Research Group — Praxisrelevante Forschungen im Justizvollzug

Seit ihrem fast zwanzigjährigen Bestehen ist es Ueli Hostettlers Prison Research Group immer wieder gelungen, im Justizvollzug Entwicklungen anzustossen und innovative Ideen zu verbreiten. Mit ihrer vielfältigen Arbeit hat sie dazu beigetragen, neue Themen und Ansätze in der Vollzugsforschung zu etablieren und dabei die Zusammenarbeit zwischen Vollzugs- und Wissenschaftssystem zu stärken. Ueli Hostettler war in vielerlei Hinsicht ein Pionier, der es verstand, neue Perspektiven einzubringen und Facetten des Systems zu beleuchten, die bisher unerforscht waren: So gehörte er im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 51 «Integration und Ausschluss» mit dem Projekt «Social Integration and Social Exclusion. Ausländer:innen im geschlossenen Strafvollzug» mit Christin Achermann, Hans-Rudolf Wicker, Karl-Ludwig Kunz und Jonas Weber zu den ersten, die sich mit der Situation von Ausländer:innen im Freiheitsentzug beschäftigten – ein Thema, das auch zwanzig Jahre später immer noch intensiv beschäftigt, wie es z.B. das vom Schweizerischen Kompetenzzentrum für den Justizvollzug SKJV im Jahr 2024 organisierte Forum «Ausländische Personen im Justizvollzug – Lost in Translation» verdeutlicht. Mit einer ihm eigenen sensiblen Wahrnehmung für sozial weniger privilegierte Minderheiten, interessierte Ueli Hostettler sich auch für die spezifischen Herausforderungen, die mit der Inhaftierung von älteren Menschen einhergehen sowie der Notwendigkeit einer altersgerechten Ausgestaltung des Freiheitsentzugs. Ebenso stellte er mit seiner Forschung auch neue ethische Fragen rund um das Sterben in Haft. Mit vielfältigen Ideen und akademischen Interessen trug er durch seine interdisziplinäre Evaluationsforschung auch massgeblich dazu bei, dass die Landschaft des Justizvollzugs sich weiterentwickelte.

«Bildung im Strafvollzug» — Wissenschaftliche Evaluation öffnet Neuem die Tür

Mit der Revision des StGB im Jahr 2007 wurde der Wiedereingliederungsauftrag dahingehend erweitert, den gefangenen Personen nicht bloss eine Arbeit zuzuweisen, sondern ihnen ebenso «Gelegenheit zu einer [ihren] Fähigkeiten entsprechenden Aus- und Weiterbildung zu geben».1 Auf dieser Ausgangslage wurde das Pilotprojekt «Bildung im Strafvollzug» (BiSt) 2007 und dessen Erweiterung für die frankophone Schweiz 2009 lanciert, welches Ueli Hostettler im Auftrag der Drosos Stiftung und des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks SAH begleitete: Die für den BiSt-Unterricht neu entwickelten Lehrpläne, die kantonsübergreifend in allen Anstalten gelten sollten, stellten «den gesetzlichen Auftrag in ein Gesamtkonzept» (Schüepp, 2023, S. 4), dessen Eignung und Wirkungen Ueli Hostettler und sein Team mit einer mehrjährigen wissenschaftlichen Evaluation überprüfte. Ab August 2007 begleitete die PRG die praktische Umsetzung des Unterrichts in sechs Anstalten der Deutschschweiz; zwei Jahre später, ab August 2009, nahm sie zwei Einrichtungen der Westschweiz unter die Lupe. Zum Schluss erteilte sie dem ambitionierten Projekt insgesamt «gute Noten» (Schüepp, 2023, S. 5). Dieser Moment markierte den Beginn einer veritablen Erfolgsgeschichte. Die Zahl von damals 24 deutschsprachigen und acht französischsprachigen Lerngruppen wuchs an auf Ende 2024 mit insgesamt 176 Lernangeboten. In insgesamt vierzig Einrichtungen des Freiheitsentzugs werden knapp tausend inhaftierte Personen pro Monat unterrichtet. Dabei sind Nutzen und Notwendigkeit von Bildung für inhaftierte Personen heute praktisch unbestritten und erscheinen sogar selbstverständlich. Eine Errungenschaft für den Justizvollzug, zu welcher die PRG beigetragen hat.

Gesamtschweizerische Perspektive auf das «Arbeiten im Schweizer Justizvollzug»

Aus unserer Sicht ebenso wichtig war Ueli Hostettlers Forschung zu den Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden in den Justizvollzugseinrichtungen. Die nationale Gesamterhebung «Arbeiten im Schweizer Justizvollzug»2, die seit ihrer ersten Durchführung im Jahr 2012 bereits zum vierten Mal realisiert werden konnte, ist für das SKJV als gesamtschweizerische Bildungseinrichtung wie auch für die kantonalen und regionalen Entscheidungsträger:innen im Justizvollzug von grossem Wert. Umfassende Informationen über das Befinden der Mitarbeitenden werden in Bezug zur alltäglichen Aufgabenerfüllung der Betreuung und Sicherheit gesetzt und Langzeitentwicklungen sichtbar gemacht. Im Vergleich zu kantonalen Personalbefragungen bietet diese nationale Erhebung weitere Vorteile:

Im Unterschied zu den üblichen «HR-Befragungen» der kantonalen Angestellten fokussiert die Personalbefragung der PRG auf eine Vielzahl von spezifischen Merkmalen, die für die konkrete Arbeitssituation im Justizvollzug relevant sind. Innovativ sind insbesondere mögliche Aussagen zum sozialen Anstaltsklima («Sicherheitserleben», «Zusammenhalt von Gefangenen», «Unterstützung durch Mitarbeitende») sowie zu Merkmalen, welche dem Konzept der «dynamischen Sicherheit» zugeordnet werden können, namentlich die Einstellung und Beziehung zu den inhaftierten Personen, die Flexibilität im Umgang mit Regelverstössen sowie die subjektiv wahrgenommenen Autoritätsquellen der Fachmänner und -frauen Justizvollzug.

Gerade durch diese ausgewählten Aspekte wird der zentralen Rolle des Personals bei dessen Leistung und Erfüllung des gesellschaftlichen Auftrags, einen gesetzeskonformen und zukunftsorientierten Justizvollzug umzusetzen, die nötige Beachtung geschenkt. Dabei werden neben dem Betreuungs- und Sicherheitspersonal auch Mitarbeitende der Bereiche Arbeit, Bildung, Freizeit sowie die Fachpersonen der Sozial- und Gesundheitsdienste, der Seelsorge berücksichtigt und mit deren spezifischen Erfahrungen zu Arbeitserleben und Herausforderungen insgesamt gestärkt und besser sichtbar.

Anlässlich der vorliegenden Festschrift, die die Person und wissenschaftliche Arbeit von Ueli Hostettler würdigt, wollen wir speziell eine Kooperation des SKJV mit der PRG beleuchten, welche durch die Innovationskraft der PRG einen weiteren Modernisierungsschritt des Justizvollzugs ermöglicht. 

«Barometer Vollzugseinrichtungen» — Erfolgreiche Coproduktion mit den Kantonen

Die Forschung der PRG hat nicht nur die Kriminologie und ihre verwandten Bereiche geprägt, sondern auch zu wichtigen neuen Erkenntnissen geführt, die in der Praxis des Justizvollzugs einflussreich waren. Die Gesamterhebung zur Situation des Personals in den Vollzugseinrichtungen ist ein Leuchtturm der PRG. Aufgrund der Initiative von Ueli Hostettler wurde sie im Jahr 2012 als Nationalfondsprojekt das erste Mal realisiert, die jüngste Durchführung Ende 2023/Anfang 2024 konnte in enger Kooperation mit dem SKJV und der Konferenz der kantonalen Leitenden Justizvollzug KKLJV durchgeführt werden.

Die enge Verbindung von Wissenschaft und Praxis mündete in die gemeinsame Ambition, die gewonnenen Erkenntnisse in Form eines interaktiven «Daten-Cockpits» für die kantonal Verantwortlichen des Justizvollzugs aufzubereiten, welches als Tool die spezifischen kantonalen Situationen bis auf einzelne Justizvollzugsanstalten zum Vollzugspersonal sowie zum sozialen Anstaltsklima und zu verschiedenen Aspekten der dynamischen Sicherheit im Freiheitsentzug vermittelt.

Die zu diesem Zweck entwickelte Plattform «Barometer Vollzugseinrichtungen» basiert auf der Microsoft-Applikation «Power BI» und ermöglicht spezifische, auf die individuellen Bedürfnisse der kantonalen Verantwortlichen zugeschnittene Auswertungen und Visualisierungen. Mit Einverständnis der befragten Personen sind die Daten heute auch auf der Ebene der neunzig Vollzugseinrichtungen einsehbar, während frühere Erhebungen nur kantonale oder konkordatliche Auswertungen zuliessen.

Das auf der Personalbefragung der Prison Research Group basierte «Barometer Vollzugseinrichtungen» umfasst folgende Themenfelder:

Im Unterschied zu herkömmlichen Ergebnisberichten, beinhaltet die Plattform individuell konfigurierbare Auswertungen, welche die kantonalen Verantwortlichen im Justizvollzug für ihre Führungs- und Planungsarbeiten einsetzen können. Besonders hervorzuheben sind dabei folgende drei Leistungsmerkmale:

Differenzierte Auswertungskriterien: Die Leitungspersonen können sämtliche Variablen z.B. zu Gesundheit, Zufriedenheit oder den Belastungen des Vollzugspersonals nach Führungsposition, Geschlecht, Berufsgruppen oder Arbeitsbereichen und Haftarten betrachten. Durch diese differenzierte Betrachtung relevanter Faktoren können die Verantwortlichen massgeschneiderte Analysen durchführen und gezielt auf die spezifischen Herausforderungen in den Einrichtungen reagieren.

Trends und Entwicklungen: Auf Anregung der an der Entwicklung beteiligten Amtsleiter:innen wurden die Ergebnisse aus früheren Befragungen in das Daten-Cockpit einbezogen, um etwa die Entwicklung des sozialen Klimas in einem Kanton über die Jahre 2017, 2020 und 2023/24 sichtbar zu machen. Durch die Analyse über den Zeitverlauf können Veränderungen rechtzeitig erkannt und gezielte Gegenmassnahmen (z.B. Reduktion von Belastungsfaktoren) eingeleitet werden.

Vergleiche und Benchmarkings: Ausgewählte Parameter und Kennzahlen einer Einrichtung können mit den Werten auf Ebene Kanton, Konkordat oder schweizweit verglichen werden. Damit kann die Leistung einer Einrichtung objektiv mit anderen Einrichtungen oder mit kantonalen Durchschnittswerten verglichen und Stärken und Schwächen identifiziert werden. Ein solches Benchmarking ermöglicht, erfolgreiche Strategien einzelner Einrichtungen zu übernehmen und gesamthaft und insbesondere gemeinsam (Praxis für die Praxis) eine kontinuierliche Verbesserung anzustreben.

Aus einer gemeinsamen Entwicklung von Wissenschaft (PRG) und Praxis (KKLJV, SKJV) konnte den Kantonen hiermit eine auf wissenschaftlichen Standards basierte Grundlage für die Entwicklung und Planung des Vollzugsystems gegeben werden. Dabei sind gerade im föderalen System bislang Vergleiche eher die Ausnahme als die Regel. Dank einer einheitlichen Methodik sind Kennzahlen zwischen Einrichtungen, Kantonen und Strafvollzugskonkordaten nun miteinander vergleichbar. Damit ist der Weg für einen fachlichen Austausch zur Qualitätsentwicklung des Justizvollzugs auf nationaler Ebene geebnet. Ein bedeutender Fortschritt.

Engagement für einen innovativen und humanen Strafvollzug

Ueli Hostettler hat sich durch sein herausragendes Engagement und seine Leidenschaft unermüdlich für einen humanen Strafvollzug eingesetzt. Mit Bescheidenheit und gleichzeitig Beharrlichkeit hat er eine klare Vision verfolgt: die Weiterentwicklung des Justizvollzugs zu einem Ort, an dem sich Menschen begegnen und verurteilte Personen nicht nur als Träger ihrer Straftat wahrgenommen werden. Ueli Hostettlers Einsatz für eine menschliche, respektvolle und würdevolle Behandlung aller Beteiligten stellt einen für die nachfolgende Forschungsgeneration wegweisenden Beitrag für den Schweizer Justizvollzug dar.

Durch seinen sensiblen, anthropologisch geschulten Blick hat er ein besonderes Verständnis für die Bedürfnisse besonders marginalisierter, vulnerabler Personengruppen entwickelt. So hat er sich immer wieder dafür stark gemacht, dass alte, kranke, verwahrte und ausländische Inhaftierte im Justizvollzug nicht übersehen werden. Seine Forschung hat dazu beigetragen, diesen Menschen eine Stimme zu geben und die besonderen Herausforderungen in der Arbeit mit ihnen sichtbar zu machen. Diese Erkenntnis ermöglichte Schritte hin zu Veränderungen.

Ueli Hostettler zeichnet sich durch eine Offenheit für verschiedenste Forschungsmethoden aus. Insbesondere die ethnografische Forschung ermöglichte ihm Einblicke in die Praxis, die anderen Forschungsmethoden oft verborgen bleiben. Im Dialog mit den Verantwortlichen des Justizvollzugs, den Fachpersonen aber auch mit den inhaftierten Personen hat er eine differenzierte Perspektive auf die Realitäten des Justizvollzugs eröffnet und brachte damit auch wertvolle Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der Praxis hervor. Durch seine Forschung hat er gezeigt, dass eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Wertschätzung des Personals entscheidend für eine professionelle und erfolgreiche Umsetzung des Straf- und Massnahmenvollzugs ist.

Dass Ueli Hostettler uns bei seinen Forschungsvorhaben partnerschaftlich einbezog, ist nicht selbstverständlich. Sein partizipativer, engagierter und visionärer Einsatz für die Justizvollzugsforschung ist für das multiprofessionelle Berufsfeld Justizvollzug wertvoll! Wir sind ihm dafür dankbar. Besonders schätzen wir seine Offenheit gegenüber den Notwendigkeiten und Bedürfnissen der Praxis. Überzeugt davon, dass deren Perspektive wichtig ist und wissenschaftliche Erkenntnisse nur dann volle Wirkung entfalten können, wenn sie auch in der Realität anwendbar und umsetzbar sind, hat Ueli Hostettler beständig darauf geachtet, dass seine Forschung nicht nur von theoretischem Wert ist, sondern auch konkrete Lösungsansätze für die Herausforderungen im Justizvollzug generiert. So hat er in unseren gemeinsamen Projekten wesentlich dazu beigetragen, die Qualität des Justizvollzugs kontinuierlich weiterzuentwickeln. Denn, so Peter von Matt weiter über das ganz zu Beginn unserer Ausführungen erwähnte «Mühsame» der Schweizer Politik: «Irgendwann ist die Kuh dann doch besprungen und das Kalb zuletzt so jung wie das des Nachbarn.» Dieses Urvertrauen prägt auch Ueli Hostettlers Forschungsbeständigkeit.

Literatur

Bucheli, R., & Neff, B. (12. August 2022). Peter von Matt: Die Schweiz ist mühsam und darum so wundersam. Neue Zürcher Zeitung. https://www.nzz.ch/feuilleton/peter-von-matt-die-schweiz-ist-muehsam-und-darum-so-wundersam-ld.1697157

Schüepp, D. (2023). Bildung im Strafvollzug - eine Erfolgsgeschichte, vpod bildungspolitik, 230, 4-5.

Anmerkungen

1 Art. 82 StGB. ↩︎
2 Siehe dazu https://prisonresearch.ch/projects/befragung-im-freiheitsentzug. ↩︎